Auch in der Martin-Niemöller-Stiftung treffen die unterschiedlichen Einschätzungen aufeinander. Wir dokumentieren Rede und Gegenrede zwischen Gerd Bauz und Claudia Sievers in der Frankfurter Rundschau.
Was hat der Pazifismus noch zu bieten?
von Gerd Bauz, FR vom 19.08.2022
„Verhandeln heißt nicht kapitulieren,
ist kein Zeichen der Schwäche,
sondern der Reife.“
Da hat man schon einen bitteren Rückschlag einzustecken, dann wird man auch noch beschimpft, von „Ponyhof“ bis „Unterwerfung“, von „naiv“ bis „obszön“. So geht’s gerade dem Pazifismus. Mittlerweile dreht sich das Blatt ein wenig, der Krieg kommt nicht voran und der Pazifismus wird gefragt: Wie kommen wir aus dem Krieg zum Frieden?
Militärischer Sieg oder Verhandlungslösung? Nato, Ukraine und Russland sind sich einig, Entscheidung auf dem Schlachtfeld. Das ist furchtbar, grausam und herzlos, aus der Zeit gefallen. Aber viele in ihren Ländern tragen das mit, sind selbst geistig und seelisch ins „System Krieg“ gefallen. Politik ade, der Krieg wird’s richten, wir fechten es aus, der Sieg ist unser, „Panzer, Panzer, Panzer.“
Ein militärischer Sieg ist weder realistisch noch wünschenswert. Unter seinem nuklearen Schirm ist Russland unangreifbar und unbesiegbar. Zudem gibt es für Nato-Europa die abschreckende Zweitschlagskapazität nicht. Sollte ein russischer Atomangriff erfolgen – wird militärisch voraussichtlich nichts geschehen; es wird zu Verhandlungen kommen. Wenig schlüssig ist zu meinen, der Krieg sei der bösen Psyche Putins entsprungen, und zu glauben, er lasse sich einfach besiegen.
Das Sieg-Ziel ist ethisch und politisch abzulehnen, weil es das Töten, Vergewaltigen, Zerstören fortführt auf unbestimmte Zeit. Auf diesem Weg wird die Ukraine „Grenzland“ wie vielleicht nie zuvor in ihrer Geschichte, zerrieben zwischen den Blöcken Russland und Nato. Der ukrainische Präsident Selenskyj setzt nur auf Sieg, wie viel Leid mutet er seinem Volk zu? Ein Viertel von 42 Millionen lebt jetzt im Ausland, was bedeutet das für die zerrissenen Beziehungen und Familien? Ein Mädchen, das hier Zuflucht fand, wird in dieser Zeitung so zitiert: „Egal, wie es mit uns weitergeht, ob wir hierbleiben werden. Wir wünschen uns nur eins, dass es Frieden gibt.“
Der Spurwechsel zu Verhandlungen braucht allerdings das Verlassen der bellizistischen Sichtweisen. Verhandeln heißt nicht kapitulieren, ist kein Zeichen der Schwäche, sondern der Reife. Das Kriegsnarrativ, mit Putin könne man nicht verhandeln, ist doppelt irrig. Niemand kann dies wissen, der’s nicht versucht. Und es ist praktisch widerlegt: Die Getreideexporte sind erfolgreich ausgehandelt und werden umgesetzt.
Verhandeln folgt der Friedenslogik. Es spielt keine Rolle, wer kriegerisch gerade im Vor- oder Nachteil ist, ein Ergebnis wird erzielt und Bestand haben, wenn beide Seiten ihre Interessen gewahrt sehen. Dann aber ist es stabil. Als Menschen handeln wir im positiven Sinne mit dem, was wir als möglich voraussetzen.
Die emotionale Hürde ist: Aus dem Feind, dem Aggressor, wird der Verhandlungspartner, aus dem Schlächter von Butscha wird Herr Wladimir W. Putin, Präsident der Russländischen Föderation, so der offizielle Name. Verhandelnd geht es um Respekt, im Ergebnis um Fairness.
Stammte der russische Angriff aus einer inneren bösartigen Entwicklung, könnte man logischerweise nur kämpfen und vernichten. Es liegt aber ein jahrzehntelanges Konfliktgeschehen vor, die Nachbeben des Zerfalls der Sowjetunion. Russland als Nachfolgestaat hat die Phantomschmerzen des Kleinerwerdens zu bearbeiten, USA und Nato ihre Hybris als Sieger. Die Ukraine braucht eine doppelte Bewegung, sich aus der Abhängigkeit von Russland ihre Souveränität zu erringen beziehungsweise jetzt zu verteidigen (am besten in Verhandlungen als gesicherte Neutralität) und die unverrückbare räumliche Nachbarschaft zum gegenseitigen Nutzen zu gestalten.
Es braucht zwei Verhandlungstische: Ukraine-Russland und Nato-Russland. Der General a.D. und Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat hat früh den „Nato-Russland-Rat“ vorgeschlagen. Das wird nicht aufgegriffen. Das hat einen Grund, das Tabu dieses Krieges. Manchmal muss der Pazifismus das kleine Kind aus Andersens Märchen sein, das ausspricht: Der Kaiser ist nackt. Die Nato führt Krieg, indirekt. Wie lange muss die Ukraine leiden, bis die Nato Verhandlungen anbietet – oder deren Führungsmacht, die USA?
Gerd Bauz, Organisationsentwickler und Mediator, ist Vorstandsmitglied der Martin-Niemöller-Stiftung.
PDF zum Herunterladen
Sind Teile der Friedensbewegung blind für Putins Aggression?
von Claudia Sievers, FR vom 30.08.2022
„Es gibt in diesem Krieg nur einen Akteur,
der nicht am Frieden interessiert ist – der,
der einen Angriffskrieg führt.“
In weiten Teilen der „alten“ Friedensbewegung ist aktuell eine schwer zu greifende, subkutane Russland-Affinität anzutreffen. Der Beitrag von Gerd Bauz in der Serie Friedensfragen der FR (19.8.2022) atmet leider genau diesen Geist.
In dieser eingefahrenen Logik verbleibend ist für den Autor klar: „Die Nato führt Krieg, indirekt.“ Ich frage mich, was noch passieren muss, damit auch Friedensbewegte wie Gerd Bauz verstehen, dass Russland diesen Krieg führt? Wann werden sie damit aufhören, sich aus einer jahrzehntelang gepflegten Gegnerschaft zur Nato reflexhaft auf die Seite einer brutalen Diktatur zu stellen? Denn das tun sie.
Der Beitrag von Gerd Bauz atmet – allen Leid- und Zerstörungsfloskeln zum Trotz – vor allem eine immer wiederkehrende Gleichsetzung von Tätern und Opfern. Wenn der Autor schreibt: „Nato, Ukraine und Russland sind sich einig, Entscheidung auf dem Schlachtfeld“, dann suggeriert er damit eine Auseinandersetzung zwischen drei gleichwertigen Akteuren, die sich nur untereinander einigen müssen; als hätte Russland nicht längst die Entscheidung getroffen, die Ukraine als Staat und als Kultur zu zerstören.
An anderer Stelle vollzieht der Autor sogar eine Täter-Opfer-Umkehr mit der Aussage, ein „Sieg-Ziel“ sei abzulehnen, weil es weitere Opfer verursache – gerade so, als sei nicht der Angriff, sondern eine erfolgreiche Verteidigung die Ursache des massenhaften Sterbens. Besonders der Satz über Wolodymyr Selenskyj „Wieviel Leid mutet er seinem Volk noch zu“? ist eine Täter-Opfer-Umkehr wie aus dem Bilderbuch: WER mutet denn eigentlich dem ukrainischen Volk so viel Leid zu? Es gibt in diesem Krieg nur einen einzigen Akteur, der nicht am Frieden interessiert ist, und das ist der, der einen revisionistischen Angriffskrieg führt.
Für eine fatale Fehleinschätzung halte ich die Aussage, dass der aktuelle Krieg auf ein jahrzehntelanges Konfliktgeschehen ausgelöst durch Nato/USA zurückzuführen sei und eben nicht einer „inneren bösen Entwicklung“ entstamme. Woher kommt diese Blindheit (nicht nur, aber besonders) von Teilen der Friedensbewegung, die die Entwicklung Russlands der letzten Jahrzehnte entweder schlicht verschlafen oder bewusst ignoriert haben? Die Tschetschenien- und Georgien-Kriege, die Zerstörung Grosnys, Giftanschläge, Auftragsmorde, Staatsterror, Wahleinmischungen im Westen, Unterstützung rechtsextremer Parteien, Massaker in Syrien, Destabilisierung durch Trollfabriken und Desinformationskampagnen, Krieg im Donbas, Annexion der Krim, Abschuss von MH17, Zerstörung der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Friedensordnung, Cyber-Attacken auf zahlreiche NATO-Mitglieder, Entwicklung zur repressiven Diktatur, Massenmord in der Ukraine – die Leute vom Fach beobachteten diese Entwicklung schon lange und warnten entsprechend.
Natürlich sind Verhandlungen und Gespräche immer einer gewaltsamen Lösung vorzuziehen. Jede Bemühung, auch in kleinen Schritten Fortschritte zu erreichen, ist zu unterstützen. Leider leidet auch dieser Beitrag – wie all die Offenen Briefe und gutgemeinten Positionspapiere – darunter, dass die Vorschläge über Allgemeinplätze nicht hinausreichen.
Gerd Bauz spricht von „Verhandlungen, bei denen beide Seiten ihre Interessen gewahrt sehen“. Ich möchte ihn als erfahrenen Moderator gerne fragen, wie er sich Verhandlungen vorstellt, wenn die eine Seite das dezidierte Interesse hat, die andere zu zerstören, und diese das Interesse verfolgt, dies nicht zuzulassen.
Eine Friedensbewegung, wie ich sie verstehe, sieht ihre Aufgabe auch darin, die die offene Gesellschaft gegen einen Despoten zu verteidigen, der den westlichen Demokratien ausdrücklich den Kampf angesagt hat. Die „alte“ Friedensbewegung atmet hingegen wie die Partei Die Linke und – man kommt nicht umhin, es in einem Atemzug zu nennen – die AfD eine unterschwellige Russland-Affinität. Was bei den Alt- und Neurechten die generelle Ablehnung der ihnen verhassten liberalen Demokratie als Ausdruck des in ihren Augen „dekadenten“ Westens ist, speist sich bei der Friedensbewegung aus einer jahrzehntelangen Sozialisation, in der neben vielen Erfolgen in Sachen Abrüstung, Rüstungskontrolle und ziviler Konfliktbearbeitung der misstrauische Blick immer gen Westen gerichtet blieb.
Ob der Pazifismus heute noch etwas zu bieten habe? Eine Anerkennung der Realitäten und der Schutz der Angegriffenen scheint mir jedenfalls im Moment vordringlich zu sein.
Claudia Sievers war von 1997 bis 2020 Geschäftsführerin und Vorstandsmitglied der Martin-Niemöller-Stiftung und betreute zehn Jahre lang das deutsch-ukrainische „Projekt Peremoha“ (Thema: „Verbrannte Dörfer“, Zwangsarbeit) der Stiftung.
PDF zum Herunterladen