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15 Jahre „Ruf aus Potsdam“ –
15 verlorene Jahre

 

 

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Mit einem „Ruf aus Potsdam“ startete am 15. Januar 2004 eine Spendensammlung für den Wiederaufbau der ehemaligen Garnisonkirche Potsdam. Ziel war es, das Gebäude ausschließlich mit Spendengeldern bis 2017 zu errichten. Davon ist die die Stiftung Garnisonkirche heute zeitlich, finanziell und politisch weiter entfernt denn je. Der Spendenruf verhallte und wurde zum Beginn eines theologischen, politischen und architektonischen Streites um den Sinn eines Neubaus bzw. genauer: um eine angemessene konzeptionelle Gestaltung des nationalen Erinnerungs- und Lernortes ehemalige Garnisonkirche Potsdam.

Die Martin-Niemöller-Stiftung, die wiederholt mit Gutachten, Tagungen und Stellungnahmen interveniert hat, weist anlässlich des Jahrestages darauf hin, dass sich von Anfang an eine Umdeutung der Geschichte durch die Veröffentlichungen und Stellungnahmen von Fördergesellschaft und Garnisonkirchenstiftung zieht.

„Der zweite Weltkrieg war bereits entschieden, als ein Luftangriff am 14. April 1945 die Potsdamer Mitte in Trümmer legte.

„Schon dieser erste Satz des ‚Rufs aus Potsdam‘ stimmt nicht“, erklärt Michael Karg, Vorsitzender der Niemöllerstiftung. „Denn natürlich war der Krieg nicht entschieden. Zehntausende KZ-Häftlinge starben noch auf den Todesmärschen. Hunderte junge und alte und uniformierte Deutsche wurden von Deutschen weiter hingerichtet als „Feiglinge“, „Deserteure“, „Kartoffeldiebe“, unter ihnen zum Beispiel Karl Anton Talazko[1], evangelischer Pfarrer und Opfer der NS-Diktatur, ermordet am 21. April 1945 in Pulsnitz. Zehntausende Befreier mussten noch ihr Leben lassen, bevor es am 8. Mai wirklich entschieden war. Gegen solches Wegsehen und Schönreden könnte gerade am Ort der ehemaligen Garnisonkirche Potsdam konkret und wirkungsvoll aufgeklärt werden. Leider geschieht das nicht in angemessener und notwendiger Weise.“

Der oben zitierte Satz aus dem „Ruf aus Potsdam“ wäre nach Meinung der Martin-Niemöller-Stiftung ein Beispiel für eine historische Aufarbeitung und eine didaktische Aufbereitung: Wie viele Menschen genau, aus welchen Ländern, auf welche Weise, mit welcher Begründung wurden zwischen dem 14. April und dem 8. Mai 1945 noch gewaltsam zu Tode gebracht? Von wem? Welche Potsdamer Offiziere gaben bis zuletzt die Befehle dazu? Wer und wie viele von ihnen haben in den letzten Kriegs- und den ersten Friedenstagen Selbstmord begangen? Was steht in ihren Abschiedsbriefen? Was wissen die Familien davon? Wie sind sie damit umgegangen? Wie denken sie heute darüber? Welche Forschung zu diesen und weiteren Fragen gibt es bereits? Was fehlt? Und warum?

Die Martin-Niemöller-Stiftung bedauert, dass alles, was bisher von verschiedenen Seiten an qualifizierter Kritik und konstruktiven Vorschlägen für eine wahrhaftige Auseinandersetzung mit diesem Ort und damit mit unserer Geschichte an die Baustiftung herangetragen wurde, antwortlos abgeprallt ist.

„Wir müssen feststellen: Die Fördergesellschaft/Baustiftung um Altbischof Wolfgang Huber verpasst die Chance, den Ort der ehemaligen Garnisonkirche zu einem der interessantesten und wichtigsten Aufklärungsorte Deutschlands zu machen. Das ist das Desaster der Stiftung Garnisonkirche nach 15 Jahren verfehlter Arbeit, 15 verlorenen Jahren“, so Michael Karg.

Die Martin-Niemöller-Stiftung appelliert an die Evangelische Kirche, sich ihrer Verantwortung am Ort der ehemaligen Garnisonkirche stärker zu stellen. Repräsentanten aus ihrer Mitte tragen die Baustiftung moralisch und politisch und könnten sie mit ihrer Mehrheit inhaltlich neu aufstellen. Auch die Deutsche Sozialdemokratie sollte nicht länger zulassen, dass ihre Vertreter in der Baustiftung das Ausblenden der eigenen Geschichte hinnehmen.

„Trotz alledem“, betont Michael Karg, „unser Angebot, an der Entwicklung einer Lösung mitzuwirken, besteht weiter.“

Für den Vorstand der Martin-Niemöller-Stiftung e.V.

Wiesbaden, 14. Januar 2019, Michael Karg, Vorsitzender

[1] Karl Anton Talazko entstammte einer evangelischen Pfarrerfamilie. Im Ersten Weltkrieg wurde er zum Heeresdienst eingezogen, wurde schwer verwundet und verlor seine rechte Hand. Nach dem Ende des Krieges studierte er Evangelische Theologie … Von 1932 an betreute er die Pfarrstelle in Gersdorf. Seine letzte Predigt hielt er am 15. April 1945.
Zu dieser Zeit waren die Truppen der Roten Armee bereits nahe an den Ort herangerückt. Wie in anderen Ortschaften gab es auch in Gersdorf Bestrebungen, durch Hissen von weißen Tüchern der heranrückenden Sowjetarmee ein Signal zur friedlichen Übergabe des Ortes zu geben. Inwieweit Talazko direkt an der Hissung der weißen Flagge auf dem Kirchturm beteiligt war, ist ungeklärt. Die SS-Männer hatten vom benachbarten Bischheim die weiße Fahne bemerkt und trieben daraufhin die Bevölkerung von Gersdorf auf einer Wiese vor dem Gasthaus zusammen.
Talazko und seinem 14-jährigen Sohn wurde befohlen, die weißen Tücher im Ort einzusammeln. Beim Rückzug verschleppte die SS Talazko und den Bürgermeister Haase nach Pulsnitz, wo sie auf einer Wiese vermutlich zusammen mit weiteren Männern erschossen wurden. Die in das benachbarte Obersteina geflüchteten übrigen Dorfbewohner sahen von dort, dass ihre Gersdorfer Kirche von der SS in Brand gesteckt wurde. Am 28. April holten die Gersdorfer die Leichen von Talazko und dem Bürgermeister nach Gersdorf und begruben sie neben der Brandruine.
Werner Oehme: Märtyrer der evangelischen Christenheit 1933–1945. Neunundzwanzig Lebensbilder. Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1979, S. 231–234. Nach: Wikipedia

 

 

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