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Ein Brief aus Peremoha

Iwan Philippowitsch schreibt an Claudia Sievers und Stefan Müller

Iwanbunt

Iwan Philippowitsch Christolubskij war Küster in Peremoha. Er starb 2005. Wir baten wir ihn, uns seine Erinnerungen und seine heutigen Erwartungen an das Leben aufzuschreiben. Daraufhin erhielten wir diesen Brief.

Liebe Claudia, lieber Stefan,

ich schreibe Ihnen diesen Brief, und ich schreibe ein bisschen über mich.

Ich, Christolubskij , geboren 1928 in Peremoha, Kreis Barischewska.

Ich erzähle zuerst über mich:

Meine Kindheit war sehr schwer. Der Vater ist 1930 gestorben, die Mutter und zwei Schwestern sind geblieben. Dann kam die Hungersnot. Wir haben Kräuter und Lindenblüten gegessen. Ein Lehrer hat mir Brot zugesteckt, als ich schon ganz aufgequollen zuhause herumlag. Das hat mich gerettet. 

Dann bin ich zur Schule gekommen. Die Schule war nicht weit. Ich bin barfuss gelaufen, auch im Winter. Nach der fünften Klasse verließ ich die Schule mit einem sehr guten Zeugnis.

1941 begann der Krieg. In Peremoha haben sich deutsche Soldaten einquartiert. Sie haben die Schule geschlossen und überall Plakate aufgehängt. Darauf stand: Wer abends das Haus verlässt, wird erschossen. Wer zu spät zur Arbeit kommt, wird erschossen. Wer nicht genug Milch und Eier abgibt, wird erschossen. Es gab keinen Satz, wo nicht am Ende stand: … dann muss der Mensch erschossen werden.

Anfangs waren die Soldaten anständig. Sie haben uns in Ruhe gelassen und uns manchmal medizinisch geholfen. Dann wurde das Leben schwerer. In den Wäldern gab es viele Partisanen. Die Bevölkerung hatte Mitleid mit ihnen und hat ihnen zu essen gegeben. .Am 15. August 1943 trieben die Soldaten alle Männer aus unserem Dorf  in die Schule und ließen sie dort zwei Tage lang eingesperrt. Am dritten Tag wurden 29 von ihnen auf dem Schulhof aufgehängt. Das ganze Dorf musste zusehen. Die Frauen weinten und schrieen, aber es hat nichts geholfen.

Warum haben sich die Deutschen so wütend gebärdet? 11 Häuser haben sie mitsamt den Bewohnern verbrannt. In der Nähe der Kirche wohnte der Küster. Er hieß Christolupski, wie ich. Die Deutschen legten Stroh um sein Haus und zündeten es an. Seine ganze Familie verbrannte, und die Nachbarn, die zu Besuch waren, auch. Insgesamt 13 Menschen.

Am 28. August 1943 morgens kamen die deutschen Soldaten in jedes Haus. Es war am Fest Maria Entschlafung. Sie riefen: Raus! Raus! Zieht euch an und geht auf die Straße. Wir zünden jetzt das Dorf an!. Wir wurden in das Dorf Rusanow getrieben, 4 km entfernt, alle, alle, über 1000 Menschen. Manche wollten wegrennen. Aber sie wurden erschossen. Auch die Kinder. Was haben sie ihnen getan? Es waren doch Kinder.

Dann haben wir stundenlang im Sumpfgebiet gestanden. Alle haben geweint und geschrieen: Die Deutschen wollen uns ertränken! Es gab nichts zu essen und zu trinken, nur Altwasser. Wir haben auf den Tod gewartet.

Dann kamen deutsche Reiter und haben uns nach Gogolow getrieben, 12 km auf der Straße. Wir haben auf dem freien Feld übernachtet. Dort haben wir den roten Feuerschein unseres Dorfes gesehen, das brannte, zwei Tage lang.

Am 29. August früh mussten wir zu Fuß nach Brovary. Ich war barfuss, und meine Füße bluteten. In Brovary wurden ich und meine kleine Schwester und die anderen Leute in einer Reihe aufgestellt und dann mussten wir zum Güterbahnhof. Dort hat man uns in die Kohlewaggons hineingeschoben. In der Nacht wurden wir nach Kiew gebracht. Ich war damals ja noch sehr jung  ich war ja außer in Peremoha noch nirgendwo gewesen. Jeder bekam einen Drittel Laib Brot und ein Päckchen Tabak. Danach wurden wir wieder in die Waggons geschoben. Uns wurde gesagt, dass wir nach Deutschland gebracht werden. Unsere Mutter und die große Schwester kamen in einen anderen Zug.

Ohne Halt sind wir bis zur polnischen Stadt Peremischl gefahren. Morgens gab eine medizinische Untersuchung. Weil ich von dem Kohlestaub Ekzeme bekommen hatte, sollte ich wieder nach Kiew zurückgeschickt werden. Aber ich wollte nicht alleine nach Kiew zurück, ich wollte bei meiner Schwester bleiben. Da bin den Bewachern weggelaufen und durch den Stacheldraht zurückgekrochen zu meiner Schwester. Wir kamen nach Frankfurt/Oder. Man hat uns untersucht und in eine Quarantänestation gebracht. Danach wurde ich auf einen Traktoranhänger in das Dorf Lancken in Brandenburg gebracht. Es war gerade Kartoffelernte, und so mussten wir Kartoffeln ernten.

Nach der Ernte kamen wir nach Neudorf. Ein Bauer suchte uns aus und nahm uns mit. Ich musste schuften wie ein schwarzer Ochse. Einmal sollten wir Reisig holen. Aber wir waren zu langsam. Da hat uns der Hausherr so verprügelt, dass wir von der zweiten Etage heruntergeflogen sind. Wir hatten nie einen freien Tag. Aber es gab zu essen, und ich war mit meiner Schwester zusammen.

Nach dem Einmarsch der Roten Armee wurden meine Schwester und ich nach Frankfurt/Oder zu einem Sammelpunkt geschickt, dann kam ich nach Torgau/Elbe. In Torgau wurden sehr viele junge Männer mit dem Zug in die UdSSR in die Stadt Brest geschickt. Dort wurden wir in Güterzüge verladen und nach Sibirien in die Stadt Tawda verschickt. Wir waren doch noch Kinder, aber wir waren Volksverräter, weil wir bei Deutschen gearbeitet hatten. Wir haben Wälder gerodet. Alles musste mit der Hand gemacht werden, wir hatten keine Maschinen. Viele sind gestorben.

1950 bin ich in die Heimat zurückgekehrt, in das Dorf Peremoha. Das Leben in dem Dorf war sehr schwer. Wir haben die Erde umgegraben, Getreide gesät und geerntet, alles mit der Hand. Getreide haben wir 32 km weit auf den Schultern getragen, 30 kg pro Mann. Nach dem Krieg, wo alles verbrannt war, gab es keine Häuser. Wir haben in Erdhöhlen gewohnt. Von der schweren Arbeit und dem harten Leben ist meine Mutter 1948 gestorben. Sie war 48 Jahre alt.

Meine ältere Schwester ist 1947 mit 24 Jahren gestorben. Es ging meiner jüngeren Schwester und mir sehr schlecht. Wir wohnten auch in einem Erdloch, das wir selbst gegraben hatten. 1974 ist meine jüngere Schwester gestorben, die mit mir in Deutschland war.

Ich habe meine Kindheit verloren, und ich habe meine Jugend verloren.

Herr Stefan Müller und Frau Claudia Sievers, Sie haben mich gefragt, was ich mir wünsche. Wenn Sie nach Peremoha kommen, bitte ich Sie herzlich, mir ein Fahrrad zu bringen. Ich muss öfter zur Arbeit in die Kirche und meine Beine sind krank. Meine Rente ist sehr klein. Wir leben von der Erde. Meine Frau ist auch sehr krank. Aber meine größte Bitte: Helfen Sie der Kirche in Peremoha. Im Dorf ist der Kindergarten geschlossen, das Kulturhaus und der Jugendclub. Die Kirche ist das einzige, was noch geöffnet hat. Aber sie verfault und muss repariert werden. Dazu braucht man Balken, 200 kg Farbe, 10 Tonnen Kies, 22 000 Ziegelsteine. Im Dorf wohnen hauptsächlich ältere Leute. Sie brauchen die Verbindung zu Gott besonders.

Herr Stefan Müller und Frau Claudia Sievers, ich wünsche Ihnen nachträglich ein gutes Neues Jahr Gottes Segen und alles Gute und außerdem Grüße an Steve. Sagen Sie ihm bitte, dass ich ihn zu Besuch erwarte. Vor allem Sie sind herzlich eingeladen.

Mit besten Wünschen

Christolubskij Iwan Philippowitsch

28.01.2001

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