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Kritische Bedachtsamkeit als Kompass

von Ingrid Rumpf

Ansprache zur Verleihung des Julius-Rumpf-Preise 2005 an die „Aktion Zivilcourage Pirna“ 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde von der „Aktion Zivilcourage“!

Als Vertreterin der Stifter des Julius-Rumpf-Preises will ich mich in dieser kleinen Ansprache vor allem an Euch wenden, die Ihr Euch dafür engagiert, Jugendliche für Demokratie, Menschlichkeit und Toleranz zu gewinnen. Die beiden  Erlebnisse, die ich zu Beginn skizzieren möchte, können vielleicht zu diesem Thema etwas beitragen:

Erste Episode:

Es war im Sommer 1944 in der Zwergschule eines ostpreußischen Dorfes. Wir Grundschulkinder – alle zwischen 6 und 9 Jahre alt – hörten uns eine wichtige Mitteilung unseres Lehrers an. Er erklärte, dass in den nächsten Tagen „Polackenweiber“ (d.h. polnische Zwangsarbeiterinnen) ins Dorf  kämen, um dort Erdarbeiten zu verrichten. Wir dürften uns auf gar keinen Fall mit ihnen einlassen, warnte er uns, denn – so wörtlich – „Sie sind dreckig und verlaust“ und „sie lügen und klauen“. 

Und dann kamen sie: ein endloser Zug grau gekleideter, abgemagerter Frauen mit versteinerten Gesichtern. Wir Kinder standen am Straßenrand. Plötzlich rief ein Junge: „Dreckige Polackenweiber“, und bald erschallte der Chor der Kinderstimmen: „Dreckige Polackenweiber, dreckige Polackenweiber!“ Ich stand unter ihnen – ob ich nun in den Chor mit eingestimmt habe oder nicht (ich weiß es nicht mehr) – ich gehörte dazu zu diesem „Wir“, zu diesen braven Kindern, die sich jeden Abend wuschen, die keine Läuse hatten, die nicht klauten und – nun ja, meistens – auch nicht logen. Wie gut wir uns fühlten, wir schäbigen kleinen „Herrenmenschen“! Und da drüben gingen die Anderen, die „Dreckigen“ und die mit den Läusen.

Und nun die zweite Episode:

35 bis 40 Jahre später, irgendwann Anfang der 80ger Jahre,  nahm ich in der 12.Klasse eines  Gymnasiums mit meinen Schülern das Dritte Reich durch. Dabei benutzte ich  – ohne es mir selbst bewusst zu machen – immer wieder die Vokabel „wir“: z.B. „Wir haben  dann Russland den Krieg erklärt.“ Oder: „Wir haben im eroberten Polen Konzentrationslager eingerichtet.“  Eines Tages wurde ich von einem zornigen Zwischenruf unterbrochen: „Hören Sie auf mit diesem Scheiß-Wir. Ich und meine Eltern und auch Sie selbst haben das nicht getan, und was mein Großvater gemacht hat, ist mir ziemlich egal.“ In dem sich daran anschließenden Gespräch wurde mir klar, dass die Enkel gefragt sein möchten, ob sie diesem „Wir“ der Schuld- und Scham belasteten Tätergemeinschaft angehören und Verantwortung für die Taten ihrer Großeltern übernehmen wollen. Schuld, Scham und Verantwortung könne man, so meinten die jungen Leute, nur für selbst Vollbrachtes, für eigene Taten empfinden.   Aber wofür bin ich, seid Ihr dann verantwortlich zu machen? –  Ich versuche, eine Antwort darauf zu finden:

Es gehört zu unserem Lebensgefühl als Mensch, dass wir einem starken, moralisch anerkannten „Wir“ angehören möchten – ob das nun eine Clique ist,  eine Familie, eine wunderbare Nation, die meint dazu berufen zu sein, der Welt Freiheit und Demokratie zu bringen, ein Fanclub von Dynamo-Dresden oder eine Initiative für den Wiederaufbau der Frauenkirche. Wir wollen keine Einzelgänger sein, wir wollen zu einer Gemeinschaft gehören, die anerkannt ist und zu einer Gruppe, die uns anerkennt. Heute muss der Einzelne weitgehend selbst bestimmen, zu welcher Gruppe er gehören möchte, wo er sich einbringen will, und er kann sich wehren gegen das ungefragte Überstülpen einer Zugehörigkeit, die er ablehnt; und das ist gut so. Doch da fangen ja die Probleme erst an. Gibt es eine Gebrauchsanweisung, wie ein junger Mensch damit umgehen sollte? Warum sind rechte Kameradschaften eigentlich schlecht und die „Aktion Zivilcourage“ gut, was war gut an den Initiativen zum Wiederaufbau der Frauenkirche? Berechtigt die Zugehörigkeit zu einem Volk zu Stolz, darf sie mich zu Scham- und Schuldgefühlen zwingen?

Es gibt zwar keine Gebrauchsanweisung, aber vielleicht eine Art Kompass:

Der Zufall oder das Schicksal hat uns zu Deutschen gemacht oder zu Bewohnern der alten Bundesländer (also Wessis) oder zu Bewohnern der neuen Bundesländer (also zu Ossis), zu europäischen Christen (oder auch Nicht-Christen), zu Muslimen in Berlin Kreuzberg oder zu Dresdnern, die im Angesicht einer monströsen Ruine lebten. Man kann das Zufall oder  anonymes Schicksal nennen und sich den eigenen Problemen zuwenden. Man kann es aber auch umwandeln in lebendige Teilhabe, in die Willensentscheidung, eine vorgefundene Zugehörigkeit zu akzeptieren (oder auch nicht), in kritisches Bewusstsein, in nachhaltiges Handeln, wie Ihr zum Beispiel es tut in der Aktion Zivilcourage und wie es in Dresden geschehen ist. Das ist dann der Sinn von Verantwortung: Verantwortlich bin ich, seid Ihr, für das Hier und Jetzt unserer Gesellschaft und die Zukunft, die daraus erwächst. Was aber ist mit der Vergangenheit?

Dass uns nachgeborene Deutsche das Erinnern an die national-sozialistische Vergangenheit unseres Landes oft ratlos macht, ist verständlich und erlaubt; auch, dass wir diese Last manchmal abwerfen möchten. Wenn wir aber nun in der oben angedeuteten Weise unsere vorgefundene  Zugehörigkeit angenommen haben, so müssen wir erfahren, dass  gegenüber diesem Geschehen keine „political correctness“ oder gar „Bewältigung“ möglich ist. Wir leben damit, dass es dieses Grauenvolle gegeben hat und müssen das Entsetzen im Anschauen dieses Abgrundes der Unmenschlichkeit immer wieder einmal aushalten und hinein nehmen in das eigene Lebensgefühl.  Und als Weltbürger wissen wir zudem unauslöschlich Bescheid über diese und andere Ungeheuerlichkeiten wie Hiroschima, den Goulag, Ruanda und all die Folterkeller dieser Welt, die nicht verschwinden wollen. Wir dürfen ganz sicher fröhlich und sogar ausgelassen sein – denn daraus schöpfen wir die Kraft für unser Engagement – aber das Wissen um solche Abgründe wird in unserem Langzeitgedächtnisses bleiben, und es kann uns zu kritischen, bedachtsamen und aufmerksamen Menschen machen, die ihre Mitmenschen in deren je eigener Verletzlichkeit wahrnehmen. Es kann uns herausfordern, so etwas zu schaffen wie das Wunder der neu errichteten Frauenkirche. Das ist der Sinn des Erinnerns, der Information im Schulunterricht und der Gedenktage. Solche kritische Bedachtsamkeit, solches Verlangen nach einer friedlicheren Welt wird dann zum Kompass im unwegsamen Gelände der vielfachen Angebote der modernen Gesellschaft. Da wo wir diese kritische Bedachtsamkeit,  dieses Verlangen nicht einbringen können, da sind wir wohl in der falschen Gruppe gelandet, da wo unsere Achtung vor der Verletzlichkeit unserer Mitgeschöpfe willkommen ist, da ist der richtige Ort, sich einzubringen.

Am Beispiel derer, zu deren Erinnerung der Preis gestiftet wurde, den die „Aktion Zivilcourage“ heute erhält, will ich abschließend das Gesagte noch einmal deutlich machen: Da war in den 30er Jahren in Deutschland auf der einen Seite das große „Wir“ der jubelnden, der siegessicheren Deutschen, denen die Vorsehung angeblich den Führer gesandt hatte. Und da waren die Anderen, die angeblich das Verderben dieser wunderbaren Schicksalsgemeinschaft aller Deutschen vorbereiteten: die Juden, die Kommunisten, die entarteten Künstler, die russischen oder polnischen sog. „Untermenschen“.

Und dann gab es da noch ein ganz zaghaftes, kleines „Wir“ der Wenigen, die sich sicher waren, dass man Menschen so nicht einteilen darf. Sie mussten sich mühsam heimlich suchen, um irgendwo zwischen all dem Jubel zu kleinen, verfolgten und verstreuten Gemeinschaften zu finden. Sie waren sehr verschieden in ihrer Herkunft: Gewerkschafter, Offiziere, Katholiken, Protestanten, Atheisten, Bürger mit demokratischer, Bauern mit  bodenständig-religiöser Tradition. Was verband sie, woher nahmen sie ihre Gewissheit, ihren Mut? Sicher aus ganz vielen verschiedenen Eindrücken und Erfahrungen ihres Lebens vor dem Einbruch der Barbarei. Drei Dinge will ich hier nennen, die zum Beispiel für Julius Rumpf bestimmend waren: Zum einen dies, dass er es gelernt hatte, Mitmenschen in ihrer Verletzlichkeit und der Würde ihrer anders gearteten Identität zu achten: Denn als die Synagoge in Wiesbaden  in der Nacht des 9. November 1938 brannte, stand er am Fenster und schämte sich nicht zu weinen vor Verzweiflung und Hilflosigkeit über das, was da seinen Anfang nahm. Zum zweiten hatte er wohl aus der elterlichen Tradition gelernt, dass zur Redlichkeit eines Menschen eine klare Sprache gehört, die Unrecht beim Namen nennt und nicht mit weitschweifigen Umschreibungen zu hinnehmbarem Recht macht. Zum dritten gehörte zu seinem Charakter die Furchtlosigkeit, die wir von vielen Widerständlern kennen. Nicht Freiheit von Angst – wie könnte das auch sein in dieser Diktatur – aber Freiheit von Furcht in der Konfrontation mit den menschenverachtenden Bürokraten und Schergen des Regimes; selbstbewusst, ihrer einmal gefällten Entscheidung sicher, konnten sie ihren Gegnern in Würde gegenüber treten. Vielleicht könnten diese drei Elemente einer menschlichen Haltung auch eine Definition von Zivilcourage sein.

Und damit wären wir am Schluss wieder bei der „Aktion Zivilcourage“, von der wir von der Familie Rumpf meinen, dass sie den Preis zu Recht erhält. Wir freuen uns mit Euch und wünschen Euch viel Mut und Durchhaltevermögen, aber auch Freude bei der Arbeit und einfach Spaß miteinander. Und wir wünschen natürlich vor allem, dass Eure Arbeit Erfolg haben möge.

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