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Einander nicht demütigen

Von Ingrid Rumpf

Ingrid Rumpf im Gespräch mit Reinhard HöppnerRede zur Verleihung des Julius-Rumpf-Preises 2003 in Magdeburg am 14.09.2003 an den Verein „Miteinander – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen Anhalt e.V.“ 

Foto: Ingrid Rumpf im Gespräch mit Reinhard Höppner

Die Martin-Niemöller-Stiftung verleiht nun schon zum vierten Mal den Julius-Rumpf-Preis an eine Initiative, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, eine Gegenkultur der Mitmenschlichkeit aufzubauen gegen Gewaltbereitschaft und Ausgrenzung. Als wir uns im Kuratorium der Stiftung für diesen Verein als Preisträger entschieden haben, wollten wir nicht nur eine finanzielle Lücke schließen, sondern auch ein gesellschaftspolitisches Zeichen setzen. Die Preisverleihung soll die zivilgesellschaftliche Bedeutung seiner Arbeit hervorheben und damit die politischen Entscheidungsträger in Sachsen-Anhalt vor die Frage stellen, ob sie nicht die drastische Kürzung der Mittel für den Verein noch einmal überdenken wollen; ja, sie versteht sich geradezu als eine dringende Bitte, die Fortsetzung der Arbeit zu ermöglichen. Deshalb wird mein Redebeitrag zu diesem Festakt den Schwerpunkt auf die gesamtgesellschaftliche Bedeutung solcher Aktivitäten legen. 

Der Julius-Rumpf-Preis soll entsprechend seiner Satzung die Arbeit von Einzelnen oder Gruppen hervorheben, die (ich zitiere) „in sinnvollen Projekten Strukturen der Toleranz und der gewaltfreien Konfliktlösung, der Mitmenschlichkeit und der Versöhnung“ aufbauen. Dabei ist die Erkenntnis wichtig, die ich schon in meiner Rede zur ersten Preisverleihung im Jahre 2000 ausgedrückt habe, dass die Humanität der Inhumanität, die Gerechtigkeit der Ungerechtigkeit, die Menschenliebe der Menschenverachtung immer nur mühsam abgerungen werden können und immer neu abgerungen werden müssen mit Mut, Phantasie, Zähigkeit und oft hohem persönlichem Einsatz. Ganz umsonst ist das jedoch nicht zu haben; außer verbaler Anerkennung sollte die Gesellschaft dafür auch die notwendigen Mittel bereitstellen.

Die Tradition, an die durch die Namen Martin Niemöller und Julius Rumpf angeknüpft wird, ist die Tradition der Bekennenden Kirche. Martin Niemöller als streitbarer Kämpfer gegen Ideologie und Lüge, gegen staatlichen Allmachtswahn und Unmenschlichkeit in der Zeit des Nationalsozialismus ist weithin bekannt; er wirkte ja noch lange weiter in der Zeit der Bundesrepublik für Frieden, Versöhnung und Abrüstung. Seinem Mitstreiter Julius Rumpf war nur eine kürzere Wirkungszeit beschieden.

Er steht vor allem für den Mut zu klarer und wahrhaftiger Sprache in einer Zeit, in der man mit jedem falschen Satz sein Leben riskierte; er steht für den schwierigen, weil geheimen, Aufbau von Strukturen der Bekennenden Kirche, die der biblischen Botschaft als widerständigem Wort eine immer gefährdete Verkündigung ermöglichten. Die Stiftung soll dieses Engagement weitertragen in einer neuen Zeit mit neuem Auftrag – mit dem Auftrag, unter sehr veränderten Bedingungen, eine humane Orientierung der Gesellschaft zu bewahren. Heute riskiert man erheblich weniger. Heute geht es fast nur noch darum, sich so zu präsentieren, dass man bei der Verteilung der knapper werdenden Mittel nicht durchs Sieb fällt, dass man zu den richtigen Seilschaften gehört und dem vorherrschendem Trend entspricht. Meine Bitte lautet: vergessen wir doch nicht, worum es wirklich geht – um die Zukunft der Gesellschaft, in der wir leben und in der unsere Kinder leben sollen und die wir uns weltoffen, fair und human vorstellen wollen. Dieser Begriff von Gesellschaft darf jedoch nicht im Klischee, im Lieblingsvokabular von Gutmenschen und Gedenktagsreden stecken bleiben, wir müssen sie an die Wirklichkeit heranführen; das will ich nun in knappen Ausführungen versuchen:

Das Buch des israelischen Moralphilosophen Avishai Margalit „Politiker Würde“ bietet einen sehr erhellenden Beitrag zur Konkretisierung.

Im englischen Original heißt das Buch „The Decent Society“, was im deutschen Text etwas unglücklich mit „die anständige Gesellschaft“ übersetzt wurde. Im folgenden bitte ich Sie, bei dem Begriff „anständig“, die gelegentlich etwas zweifelhafte Verwendung des Wortes im Deutschen zu vergessen und bei diesem Schlüsselbegriff der Ethik Avishai Margalits einfach nur an das zu denken, was ich eben sagte: eine Gesellschaft, die wir uns weltoffen, fair und human vorstellen. Margalit definiert dann folgendermaßen: „Eine Gesellschaft ist dann anständig, wenn ihre Institutionen die Menschen nicht demütigen, sie ist dann zivilisiert, wenn in ihr die Menschen einander nicht demütigen.“ Diese eigenartige, etwas holprige, zudem auch noch negative Definition irritiert im ersten Augenblick. Margalit setzt sich ausdrücklich von anderen Ethikern mit positiven Definitionen ab – z.B. von solchen, die das Merkmal einer humanen Gesellschaft in Gerechtigkeit, Achtung vor der Würde des Anderen, gleicher Zuerkennung der Menschenrechte oder Ähnlichem sehen. Er besteht auf der Negation „nicht demütigen“; warum dies?

Er begründet damit, dass dieser Begriff eher auf Konkretes weist, dass die Demütigung leichter erkennbar und definierbar ist als z.B. die Achtung. Er rät auch zur Bescheidenheit: Die Bekämpfung von Verhältnissen, in denen Menschen gedemütigt werden, würde ihm vollauf genügen. Mir ging beim Lesen des Buches auf, dass der Begriff der Nicht-Demütigung auf die Kehrseite der Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte hinweist, auf die kleine Münze nämlich in der diese hehren Begriffe im Alltag ausgezahlt werden, auf den täglichen Vollzug. Wir werden auf Fragen gestoßen, auf die wir beim Anhören von Sonntagsreden gar nicht kommen: Demütigung – wie geschieht das, wo hab ich das schon mal gesehen, wo, vielleicht unbemerkt selbst gemacht? Woher kommt diese Lust an der Erniedrigung des anderen? Warum ist gerade der das Opfer? Worauf zielt das Ganze ab?

Avishai Margalit hat, ehe er das Buch schrieb, viele Gespräche geführt z.B. mit Arabern, die Staatsbürger Israels sind, mit überlebenden der Shoah, mit Auswanderern aus der ehemaligen Sowjetunion und hat dabei die zentrale Rolle entdeckt, die Ehre und Würde für den Einzelnen und in der Gesamtgesellschaft spielen. Sein Ergebnis etwas vereinfacht:

Menschen, denen Erniedrigung widerfahren ist, fühlen sich ausgeschlossen aus der Menschenfamilie, können ihre Selbstachtung nur noch mühsam oder gar nicht mehr aufrechterhalten und genau das ist die verborgene, im schlimmsten Fall offene Absicht jeder Demütigung: der Ausschluss aus der Menschenfamilie, die Vernichtung der Selbstachtung.

Wenn eine anständige Gesellschaft sich dadurch definiert, dass sie Verhältnisse bekämpft, durch die Menschen gedemütigt werden, müssen wir Demütigung, da wo sie geschieht, erkennen können. Ich fasse die für unseren Zusammenhang wichtigen Beobachtungen Margalits in drei Punkten zusammen und benenne die sich daraus ergebenden gesamtgesellschaftlichen Aufgaben:

  1. Verhältnisse und Verhaltensweisen, die Menschen in ihrer Würde verletzen,haben ihren Ursprung in „gesellschaftlichen Rahmenannahmen“, die der Einzelne ganz selbstverständlich teilt. Wir nennen das meist „Vorurteile“. Die Aufgabe besteht darin, diese Rahmenannahmen bis in die Breite und Tiefe der Gesellschaft bewusst zu machen, zu definieren und nach am gegebenen Ort einsehbaren Maßstäben zu korrigieren.
  2. Der Mensch hat ein tief verwurzeltes, wahrscheinlich evolutionär eingeprägtes Bedürfnis nach Homogenität seines sozialen Umfeldes – Fremdenfeindlichkeit ist dem Menschen von Natur eigen. Demütigung zielt immer auf Ausgrenzung es ist die raffinierte Vorstufe der Ausstoßung.Demütigung meint im letzten Ausschluss aus der Menschenfamilie, ist der erste Schritt auf dem Weg, an dessen Ende die Ausstoßung, die physische Gewalt steht. Die Aufgabe besteht darin, dieses Ende anschaulich zu machen und den Weg zurück zu verfolgen bis zu den Anfängen der kleinen Alltagsdemütigungen.
  3. Die Formen, in denen die Entwürdigung des Mitmenschen geschieht, sind vielfältig. Ein großer Teil des Buches ist typischen Verhaltensmustern, die auf Demütigung zielen, gewidmet. Ich kann hier nur einige Beispiele nennen: Avishai Margalit hat beobachtet, dass es in jeder Gesellschaft Menschen gibt, die gar nicht wahrgenommen werden, sie sind wie mit einem Puder überstreut, das sie unsichtbar macht. „Menschenblindheit“ nennt er das. Diener in Herrenhäusern früherer Zeiten mussten sich darauf verstehen sich unsichtbar zu machen. Er denkt natürlich auch an Israel und die dort lebenden Araber. Auf uns bezogen fragen wir: Wie oft schauen wir weg, wenn unerwartet Menschen auftauchen, die durch ihre Eigenart nicht in unseren soziales Umfeld passen, dort störend und peinlich sind.

Ein anderen Beispiel ist die Gleichsetzung von Menschen mit Tieren – Eine Barbarei, die im Vokabular der Nazis geradezu wuchert, und die führte dann tatsächlich nicht nur zur Ausstoßung und Vernichtung. Oder, dass Menschen behandelt werden wie Nummern, Karteikarten oder Automaten. Wichtig ist dabei das „als ob“. Menschen sind nicht unsichtbar, Tiere, Nummern oder Karteikarten, sondern sie werden behandelt so „als ob“ sie es wären. Dass sie in Wirklichkeit sichtbare, leidensfähige Menschen sind, bleibt beim Akt der Demütigung immer bewusst, denn daraus zieht der überlegene sein Machtbewusstsein – und das Opfer den Verlust seiner Selbstachtung.

Verhältnisse, in denen Menschen leben, sind nur z.B. dann demütigend, wenn sie von Menschen gemacht sind mit dem Zweck zu demütigen und auszuschließen. Die Aufgabe besteht darin, solche Verhaltensmuster durchaus mit einer gewissen Systematik, aufzulisten und zur Diskussion zu stellen unter Einbeziehung der öffentlichen Institutionen, welche von den Bürgern eines Landes gewählt oder steuerfinanziert werden. Wir brauchen gesellschaftspolitische und pädagogische Strategien, um Verhaltensmuster, die auf Demütigung abzielen sichtbar zu machen und zu verändern; wir brauchen engagierte Menschen, die mit uns und mit unseren Kindern einüben, Menschen nicht zu übersehen, das Menschliche auch im schwierigen und fremdartigen Anderen zu suchen und zu finden. Der Verein „Miteinander“ wird heute mit dem Julius-Rumpf-Preis ausgezeichnet, weil er diese so notwendigen Aufgaben in vorbildlicher Weise erfüllt.

 

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