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„Erst der handelnde Mensch verleiht der Welt Sinn“ (2004)

von Eberhard Rumpf

Dr. Eberhard Rumpf, hier im Gespräch mit Dr. Uta Klee (BFU) und Dr. Rupert NeudeckRede anlässlich der Verleihung Julius-Rumpf-Preis 2004 an das Behandlungszentrum für Folteropfer Ulm (BFU) am 24.4.2004  Foto: Dr. Eberhard Rumpf, hier im Gespräch mit Dr. Uta Klee (BFU) und Dr. Rupert Neudeck

Wir würdigen heute die Mitarbeiter einer Einrichtung, die ihre Kraft und ihr Engagement der Betreuung von Flüchtlingen aus Kriegs- und Terrorgebieten und insbesondere der Behandlung von Folteropfern widmen. Mit dieser sachlichen Aussage ist rational ziemlich klar, was gemeint ist. Aber wenn jemand noch nicht direkt mit solchen Gewaltopfern zu tun hatte, dann gibt es eine große Schwierigkeit sich vorzustellen, was dieser Satz umfasst. Denn es ist eigentlich unvorstellbar. Und das hat Auswirkungen.

1951 schrieb der Philosoph, Schriftsteller, Journalist und Literatur-Nobelpreisträger Albert Camus bei seinem „Versuch meine Zeit zu verstehen“ von der zurückliegenden Epoche, die in 50 Jahren 70 Millionen Menschen entwurzelt, versklavt oder getötet hat. 1951 hörte dieser Teil der Geschichte aber nicht auf. Ich nenne in unvollständiger Auswahl nur Orte des Geschehens: Algerien, Kongo, Vietnam, Angola,  Äthiopien, Afghanistan, Tibet, Pakistan, Indien, Ruanda, nochmals Kongo, Kambodscha, Afghanistan, das ehemalige Jugoslawien, Tschetschenien, Israel und Palästina. 

Camus hat noch nicht ausdrücklich die Folter genannt, was daran liegen könnte, dass  seit und dank der Französischen Revolution die Folter in Europa geächtet war und nicht mehr systematisch eingesetzt wurde (soweit das von mir befragte Lehrbuch hierin Recht hat). Erst die NS und Frankreich im Algerienkrieg führten sie wieder systematisch ein. Wie viel Entwurzelte, Versklavte, Gefolterte, mehr oder weniger grausam getötete Menschen mag das ganze Jahrhundert hervorgebracht haben? 100 Millionen ? 140 ? Es ist egal. So etwas übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Die Zahlen machen keinen vorstellbaren Unterschied mehr, nur einen abstrakten. Jemand gab in diesem Zusammenhang zu bedenken, statt z. B. „1000 Tote“ „1000mal 1 gequälter oder zerstörter Mensch“ zu sagen. Dann wird das Entsetzliche wieder wahrnehmbar.

Bei dieser unvorstellbar großen Zahl von Menschen handelt es sich nicht um Opfer schicksalhafter Naturkatastrophen, was schon schlimm genug wäre, sondern um Qual und Zerstörung, die Menschen bewusst und gewollt anderen Menschen antun. Das hat eine andere Qualität. Wenn ich versuche, mir das konkret vorzustellen, dann

stockt mir der Atem. Wie können wir das aushalten?

Oder wie ist folgender Widersinn zu fassen, wenn wir ihn uns konkret vorstellen: Deutschland ist nach wie vor eines der Länder mit der größten Rüstungsindustrie und entsprechendem Export. Unser Industrie-Flagschiff, der Mercedes-Konzern, ist einer der größten Landminenhersteller. Gleichzeitig reisen aus Deutschland die Minenräum-Experten mit deutscher Technik in die verminten Teile der Welt und wir geben aus institutionellen und Spendentöpfen große Geldsummen für die Behandlung von Minenopfern, vor allem Kinder mit den abgerissenen Beinen und Händen. Wie mag das für einen Menschen sein, der irgendwie mit der Minenproduktion zu tun hat und an UNICEF spendet? Es ist ein Irrsinn im Wortsinne.

Wenn Sie aufmerksam wahrnehmen, was in Ihnen geschieht, wenn Sie Bilder von Gewaltopfern mit vollem Bewusstsein anschauen und sich das Geschehen vorstellen oder wenn Sie in der Zeitung Schilderungen lesen, werden Sie feststellen, dass sie an irgend einer Stelle die innere Vorstellung abbrechen, weil Schreck und Entsetzen an eine Erträglichkeitsgrenze stoßen. Das Bild in unserer Phantasie ist in der Regel schrecklicher als das Foto- oder Filmbild. Es setzen innere Schutzmechanismen ein, die uns von der vollen Wahrnehmung abschirmen. Wir erstarren, die Vorstellung hört auf, Fühlen und Erleben werden vom konkreten Geschehen getrennt und zum Schweigen gebracht, die Verbindung zwischen Widersprüchlichem wird getrennt und die beiden Seiten des Widerspruchs wie nicht zusammengehörige Einzelteile behandelt.

Wir schützen uns damit vor  unerträglich erscheinenden, bedrohlichen Gefühlen: Wut und Hass, Entsetzen, Rache, absolute Ohnmacht, Verzweiflung, Lähmung, Sinnlosigkeit. Sie werden auf ein erträgliches Minimum reduziert. Wenn uns das nicht gelänge, könnten wir wohl im Glauben an Vernunft und Menschlichkeit, an Gott und Dem Guten im Menschen verzweifeln .Dieser Selbstschutz hat sein Gutes: wir könnten sonst nicht in unserem Alltag weiterleben und unsere unmittelbaren Lebensaufgaben erfüllen. Er hat aber schwerwiegende Nachteile: Die Versuchung so weiterzuleben, als ob es das Schlimme und Schreckliche nicht gäbe; denn dann kümmern wir uns nicht mehr darum. Das tun wir nur, wenn wir die Vorstellung nicht ganz aus unserem mitfühlenden Bewusstsein verbannen. Das aber ist schwer auszuhalten.

Ärzte, Therapeuten und professionelle Berater und Helfer werden im direkten Kontakt und in der Bemühung um Gewaltopfer unmittelbarer mit den Schrecken konfrontiert, die die Opfer erlitten haben. Die Vorstellungen, das Erleben und die eigenen Antwortgefühle müssen ausgehalten werden. Dazu brauchen sie ihre ganze fachliche und menschliche Kompetenz.

Hinzu kommt, dass die Mitarbeiter solcher Einrichtungen zu einem großen Teil die Arbeit sogar ehrenamtlich machen müssen. Ein verantwortlicher Kirchenmann sagte andernorts anlässlich der Würdigung ehrenamtlicher Helfer: „Ehrenamtliche Arbeit ist unbezahlbar; deswegen wird sie auch nicht bezahlt!“ – eine vielschichtige Feststellung.

Wie ist diese Arbeit auszuhalten? Wie sind die Vorstellungen, die Irrsinnigkeiten auszuhalten, wenn wir sie uns bewusst machen? Das scheinbar Vergebliche, wenn für jedes behandelte Folteropfer Hunderte bis vielleicht Tausende neuer entstehen?

 

Auf zwei Antwort-Beispiele will ich hinweisen. Die eine, auf religiösem, hierzulande christlichem Boden, wird von Julius Rumpf verkörpert, und natürlich von vielen anderen mit ihm auf demselben Fundament.

Die zweite Antwort auf die Erfahrung der gewalttätigen Welt ist das Gegenteil, die Verneinung Gottes, und die Wahrnehmung, dass die Welt absurd ist. In radikaler Weise hat diese Position Albert Camus formuliert. Er beschreibt die uns sprichwörtlich bekannte Sagengestalt Sisyphos als das Paradigma des Menschen, der in der Absurdität lebt: Sisyphos wurde von den Göttern dazu verurteilt, einen Felsblock einen Berg hinaufzurollen, der im letzten Moment, bevor Sisyphos den Gipfel erreicht, wieder hinunterrollt. Im vollen Bewusstsein dieses Geschehens stemmt er immer wieder aufs Neue den Felsblock hinauf. Er tut es mit ganzer Kraft und geht jedes Mal im vollen Bewusstsein seines scheinbar vergeblichen Tunst in Tal hinunter, um von Neuem zu beginnen. Zunächst befremdlich, schließt Camus mit den Worten: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Er beschreibt keinen Resignierten, sondern einen, der „Trotzdem“ tut, was er tut; weil es so ist wie es ist.

Einige Jahre später beantwortet Camus die Frage, wie man in einer absurden, nach seiner Auffassung gottlosen Welt leben kann:

„In dem man den ebenso optimistischen wie verhängnisvollen Glauben an die Vernunft aufgibt. Das gelobte Land, das wir suchen, gibt es nicht. Es ist unmöglich, für das Morgen an Stelle dem heute zu leben. Die Welt an sich hat keinen Sinn, erst der handelnde Mensch verleiht ihn ihr, indem er für die Geknechteten und Entrechteten eintritt. Unrecht, Leiden und Tod sind nicht aus der Welt zu schaffen. Es gilt, die Erde zu lieben, kühn und intelligent zu denken, klar zu handeln und zu wirken“.

Zwei so unterschiedliche, gegensätzliche Positionen in der Auffassung von Welt und Lebenssinn und doch, wie ähnlich fallen die Antworten aus angesichts der Aufgaben in dieser Welt. Ich fasse es noch einmal zusammen: Julius Rumpf: wahrhaftig in der Liebe, umsichtig und besonnen, furchtlos, standhaft und tapfer, Sachlichkeit des Wesens und der Worte, Festigkeit und Klarheit.

Und Camus: erst der handelnde Mensch verleiht der Welt Sinn, indem er für die Geknechteten und Entrechteten eintritt. Unrecht, Leiden und Tod sind nicht aus der Welt zu schaffen. Es gilt, die Erde zu lieben, kühn und intelligent zu denken, klar zu handeln und zu wirken“.

Solches Wirken gilt es bewusst und öffentlich zu machen, zu unterstützen und zu würdigen, heute und hier in den Preisträgern.

Dr. Eberhard Rumpf ist der Enkel von Julius Rumpf, der Neffe des Stifterehepaars und Mitglied im Kuratorium der Julius-Rumpf-Stiftung

Die Rede wurde gekürzt.

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