Von Martin Stöhr
Vortrag vom 3. April 2005 in Jerusalem vor The Israel Interfaith Association und Konrad Adenauer Stiftung
I
Heidnische Kritik am Christentum sagt: Das Christentum ist staatlich unzuverlässig, weil es eine absolute und kritische Autorität jenseits der kaiserlich-göttlichen Autorität und jenseits der polytheistischen Gewalten anerkennt – den einen Gott Israels und der Völker. Dadurch ist gegenüber allen anderen Mächten jede absolute Loyalität der an diesen Gott Glaubenden gebrochen.
Ein Kritiker des Judentums und des Christentums, der neuplatonische Philosoph Kelsos, wirft um 180 n. Chr. dem Christentum vor, es sei „jüdischen, also barbarischen Ursprungs“. Zwar seien die „Barbaren imstande Lehren aufzustellen, aber die Griechen seien (ihnen) überlegen, solche Lehren zu beurteilen, zu begründen und in die Praxis umzusetzen.“ Kelsos beruft sich auf Platon, wenn er darauf hinweist, dass jede geoffenbarte Religion auf eine alte Weisheit zurückgehe und „stets von den weisesten Völkern und Städten und von weisen Männern festgehalten“ wurde. Seine Lehre habe „auch Moses bei weisen Völkern und berühmten Männern vorgefunden und sich angeeignet.“ So gewiss Kelsos eine unnennbare, oberste Gottheit als Grund aller Wahrheit anerkennt, so wichtig ist ihm die göttliche Würde des Kaisers. Daraus folgert er: Was ist denn Schreckliches dabei, unter den Menschen dem Kaiser einen Eid zu leisten? „Ist diesem doch die Herrschaft auf Erden verliehen, und was du im Leben empfängst, empfängst du von ihm!“ Wenn diese göttliche, zentrale Macht des Kaisers nicht anerkannt werde, dann wird das „gesamte Erdreich von den wildesten und gesetzlosesten Barbaren beherrscht.“ Dann erinnert Kelsos an die Ohnmacht des einen Gottes den Juden und Christen anrufen. Ihr Gott helfe ihnen nicht. „Statt Herren der ganzen Erde zu sein, ist jenen (d.h. den Juden) nicht ein Stück Land, ja nicht einmal ein Herdfeuer geblieben, während sich von euch (d.h. den Christen) zwar noch immer der eine oder andere versteckt hält oder flüchtig ist, aber sicher bald aufgespürt und der Todesstrafe zugeführt wird.“[1] Nach dem römischen Grundsatz „do ut des“ zahlt Religion sich auch in Erfolg und Machtgewinn aus.
Origenes verweist auf Abraham. Er habe für Sodom gebetet. In der alten machtkritischen Haltung des frühen Christentums vergleicht er Rom mit Sodom und beansprucht für die Christen sehr wohl, für das Wohl Roms zu arbeiten, z.B. durch das Gebet. Auch eine Minderheit sei nach Jesus wie das Salz der Erde (Mt 5,13) nötig, eine Gesellschaft zu erhalten. Die Christen „leisten sie dem Kaiser bessere Dienste als alle Soldaten, die ins Feld ziehen und so viele Feinde töten, wie sie können.“[2] Beten dient Gott umfassend.
II
Unbestritten ist unter allen Auslegern des Neuen Testamentes, dass die Botschaft Jesu von der Nähe des erwarteten Gottesreiches eine verbindliche Botschaft des Friedens, der Gerechtigkeit und der Gewaltlosigkeit einschließt. Jesu Auftreten ist gewaltfrei. Er antizipiert Hoffnungen und Inhalte des kommenden Gottesreiches in der Gegenwart, zieht sie ins Leben. Die damit verbundene Ethik des Friedens wird in der Bergpredigt als eine Interpretation der Tora entfaltet. Sie ist bestimmt durch die messianische Hoffnung der Propheten auf ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit. Es ist eine Ethik, die von den Nachfolgern Jesu zu leben und zu tun ist. Sie gerät in Konflikt mit dem Grundkonzept des Römischen Reiches: Einheit durch Gewalt und durch Religion.
In der Zeit Jesu und der Apostel wird heftig gestritten um das richtige Verstehen und Tun der hebräischen Bibel. Die Offenbarung Gottes an Israel, ist letztlich die gemeinsame Basis der verschiedenen Strömungen im Judentum, auch der christusgläubigen Gruppen. Aber: Die Bibel Israels allein richtig zu verstehen führt später zu dem christlichen Monopolanspruch, der alleinige Erbe des jüdischen Volkes, das „wahre Israel“ zu sein. Daraus erwächst jene breite christliche Tradition, sich selbst als „Religion der Liebe“ zu deklarieren und das Judentum mit der Rede von einem „rachsüchtigen und gewalttätigen Gott“ abzuwerten.
Diese Position wird früh von dem aus Pontus stammenden Schiffsreeder Markion vertreten. Er gibt sein ganzes Vermögen der christlichen Gemeinde in Rom für die Armen. Gerechtigkeit, Liebe und eine prinzipielle Verneinung jeder Gewalt kennzeichnen seine Position. Er gibt den Anstoß, dass auch die Christen über den Tenach hinaus ihre eigenen Heiligen Schriften sammeln. Markion verlangt den Abschied von der hebräischen Bibel. Dort spreche nur der Schöpfergott, der das Böse geschaffen habe. Markion will als Heilige Schrift der Christen nur das Lukas-Evangelium und die Paulusbriefe gelten lassen. Das provoziert christlichen Widerspruch. Man will „Mose und die Propheten“, die „Schriften“, die Tora, d.h. die ganze Schrift, nicht aufgeben. Die Kirche bekennt sich zur Bibel Israels als ihrer Heiligen Schrift. Aber sie beginnt nun auch, die Schriften der Apostel zu sammeln und als zweiten, kleineren Teil der Bibel hinzu zufügen – eine Midrasch zum Tenach. Markion wird im Jahr 144 aus der Gemeinde ausgeschlossen. Seine Sponsorengelder werden ihm zurückgegeben. Man muss allerdings sagen, dass nur ein Strang des markionitischen Denkens in der ganzen Kirchengeschichte lebendig blieb – nicht sein Pazifismus, wohl aber seine Abwertung der Hebräischen Bibel und Israels.
Wer nun auf Markions Spuren sagt, dass „Krieg“ und „Gewalt“ im Alten Testament dominieren und „Liebe“ und „Frieden“ im Neuen Testament, der übersieht folgende Fakten:
- Im Neuen Testament gibt es – vor allem in Gerichtsszenen und apokalyptischen Texten – Gewaltphantasien, die sich am angedrohten Leiden der Ungläubigen im Endgericht erfreuen.
- Das Gebot, Gott zu lieben und den Nächsten, dem Fremden und dem Feind zu helfen, gehört zum Zentrum der hebräischen Bibel, der einzigen vollgültigen Bibel Jesu und der Apostel.
- Die hebräische Bibel erzählt eine Geschichte des Volkes Israel – mitten unter den Völkern. Sie umspannt mit ihren ältesten Teilen weit über tausend Jahre. Sie ist auch ein Geschichtsbuch und nicht nur die Stimme Gottes. Die hebräische Bibel versucht, – wie die Historien seiner Nachbarn – in einer Geschichtsschreibung alle Überlieferungen des jüdischen Volkes festzuhalten:
- Dagegen umfassen die Texte des Neuen Testaments höchstens drei Generationen. Seine Verfasser rechnen nicht damit, dass sie Teile einer „neuen Bibel“ schreiben. Das Neue Testament versteht sich nicht als Ablösung des Alten Testamentes, sondern als dessen Bestätigung und Erfüllung.
- Würde man die Christentumsgeschichte auch auf über tausend Jahre bemessen – wie die hebräische Bibel mit ihrer Geschichte des jüdischen Volk – so umfasste das Neue Testament dann eine Kirchengeschichte, die bis zu Ketzerprozessen, Kreuzzügen und mittelalterlichen Judenpogromen reichte.
III
Die Wende seit Kaiser Konstantin ab 313 oder der Wunsch der Christenheit, zu sein wie alle Völker
Im Machtkampf um die Vorherrschaft hat – so die Legende – Konstantin (306-337) eine Vision. Er werde seinen Konkurrenten Maxentius im Zeichen des Kreuzes besiegen. Er siegt. Für Konstantin der Beweis, wer der stärkere Gott ist und welche Menschengruppe als politischer Machtfaktor jetzt zu berücksichtigen ist. Schon 314 verbietet die Synode von Arles Christen, den Kriegsdienst zu verweigern. Theodosius wird zwei Generationen später den „Heiden“ verbieten, Soldaten eines christlichen Kaisers zu werden. Arles ist auch jene Synode, auf welcher der Kaiser seine Arbeitsteilung zwischen kaiserlicher und religiöser Gewalt bestimmt. Er erklärt den Bischöfen: Gott habe ihn zum Bischof (episcopos ton ektos) = Aufseher der äußeren Dinge oder – anders übersetzt – der Außenstehenden, d.h. der Heiden, gemacht. Die Bischöfe habe er zu Aufsehern über die inneren Dinge bestellt.[3] Wie dieses Wort auch zu deuten ist, es beansprucht die Sphäre äußerlicher Gewalt für den Kaiser und überlässt die innere Welt religiöser Fragen den Bischöfen. Diese sind froh, endlich alle Verfolgungen hinter sich zu haben. Die blutigen Verfolgungen unter Diokletian (284-305) liegen erst wenige Jahre zurück.
Konstantin ist an einer einheitlichen Religion im Imperium Romanum interessiert. Gefährdet erscheint sie ihm und seinen Nachfolgern Einheit durch die anstürmenden Perser, Goten, Vandalen oder Germanen. Diese Situation fragt die zur Staatskirche werdende Christenheit, ob sie sich an der Verteidigung „ihres“ Vaterlandes beteiligen wollen. Hinzu kommt: Einheit und Handlungsfähigkeit des Imperiums sind auch durch den regionalen und theologischen Pluralismus in den rasch sich ausbreitenden Kirchen gefährdet.
In ihnen geht zentral auch und immer wieder um ethische Fragen, wie zum Beispiel das Problem des Militärdienstes, des Eides, der Familien- und Sexualethik, der Asketen durch das in Ägypten entstandene Mönchtum. Ständig auch um den Umgang mit den „lapsi“, d.h. mit denen, die in der Verfolgung mit staatlich-heidnischen Kulten kollaboriert hatten. In allen Fragen standen „liberalere“ Positionen gegen „rigoristischere“ Haltungen in unterschiedlichen christlichen Strömungen. Aber auch im Streit um einen einheitlichen Ostertermin will sich der Kaiser mit kaiserlicher Autorität im Interesse der Einheit durchsetzen. Folgt der Osten weitgehend der jüdischen Praxis der Berechnung des Pessachfestes, so will der Westen – oft mit antijüdischen Begründungen – die Verbindung zum Judentum abschneiden.
Den Prozess einer einheitlichen Religion geht Konstantin ebenso vorsichtig wie energisch an; vorsichtig, indem er das Christentum zunächst zur „Religio Licita“ erklärt, es also anderen Religionen gleichstellt. Diesen Status einer „zugelassnen Religion“ hatte das Judentum schon. Energisch handelt Konstantin, indem er sich selbst die letzte Verantwortung und Autorität für die kirchlichen Synoden zuteilt. Er allein beruft die Synode von Nicäa (225) ein; er leitet sie auch. Der römische Bischof ist entbehrlich, nimmt also nicht teil. Hier beginnt der theologische Weg einer katholischen, d.h. umfassenden Orthodoxie. Nach mehreren ökumenischen Synoden verbindet sie mit ihrem Credo die unterschiedlichen christlichen Konfessionsfamilien bis heute.
Es ist nicht zu leugnen, dass sich im Wunsch nach einer einheitlichen christlichen Religion auch eine tiefe christliche Sehnsucht ausdrückt, die dem Gebet Christi folgt („ut omnes unum sint“, Joh 17,21): „auf dass alle eins seien“. Andererseits ist die politische Gewalt nicht zu übersehen, die das Christentum instrumentalisiert und zähmt.
Diesen Prozess vollendet Kaiser Theodosius I (379-395) mit äußerster Konsequenz. In seinem Edikt von 380 ordnet er nach einem Bekenntnis zur Trinitätslehre an: „Nur die, die diesem Gesetz folgen, so gebieten wir, dürfen katholische Christen heißen; die übrigen aber, die wir für toll und wahnsinnig halten, haben den Schimpf ketzerischer Lehren zu tragen“.[4] Ihre Versammlungsorte dürfen nicht als Kirchen bezeichnet werden. „Endlich soll sie vorab die göttliche Vergeltung, dann aber auch unsere Strafgerechtigkeit ereilen, die uns durch himmlisches Urteil übertragen ist.“[5] Es ist festzuhalten, dass Zorn und Verfolgung der sich herausbildenden katholischen Kirche zuerst den Häretikern, dann den Heiden und zuletzt den Juden gelten.
Die Beziehung zur Mutter Israel wird in unterschiedlicher Schärfe dargestellt. Zentral ist dabei der kirchliche Monopolanspruch, jetzt das „wahre Israel“ (Verus Israel) zu sein. Als Grund dafür wird die Ablehnung, ja Hinrichtung Jesu durch das jüdische Volk genannt. Dieser kollektive Vorwurf entlastet die römische Staatsgewalt – obwohl Pontius Pilatus im Credo namentlich genannt wird und er belastet das jüdische Volk. Die christlichen Bündnisse mit der Staatsmacht auf Kosten des Judentums vergiften die jüdisch-christlichen Beziehungen auf fast 2000 Jahre. Der selbsternannte Erbe postuliert den Tod der Erblasserin Israel, die doch seine lebendige Mutter und Schwester ist.
Die christliche Polemik gegen das Judentum beim Auseinandergehen der Wege produziert ein offenes und latentes Gewaltpotential. Es ist jederzeit abrufbar, wie das Beispiel des Bischofs von Mailand, Aurelius Ambrosius[6] (339-397) zeigt, eines Vaters der christlichen Kirchenmusik. Nach einer Prozession zu Ehren der Makkabäer-Brüder, die als Märtyrer und Heilige in hohem Ansehen der frühen Christenheit stehen, verbrennen unter Führung des Bischofs die Mönche in Kallinikon (am Euphrat) zuerst eine Kirche von „Häretikern“ (sog Valentinianer), dann die Synagoge. Kaiser Theodosius weist den Bischof an, die Synagoge wieder aufzubauen und die Täter zu bestrafen, denn die „Sekte“ der Juden sei nicht verboten. Ambrosius schaltet sich ein und erklärt sich mit dem Bischof solidarisch: „Ich erkläre, dass ich die Synagoge in Brand gesteckt habe…, damit es keinen Ort mehr gebe, wo Christus geleugnet wird!“ Die Synagoge gilt ihm als „Haus der Gottlosigkeit, als Zufluchtsort des Wahns, den Gott selber verdammt hat!“ Der Kaiser gibt klein bei.[7]
In klassischer Weise bündelt Johannes Chrysostomus (354-407) alle antijüdischen Vorbehalte, weil in seiner syrischen Region viele Christen selbstverständlich an den Festen und Gebräuchen ihrer jüdischen Nachbarn teilnehmen. Mit glänzender Rhetorik liefert er in seinem Wunsch nach Abgrenzung allen christlichen Konfessionsfamilien Munition für christliche Attacken auf Juden – bis heute. Unter Theodosius wird eine theologisch korrekte christliche Lehre zum Staatsgesetz. Was eine Irrlehre ist, stellen Bischöfe oder Synoden fest. Die Verfolgung der Häretiker, später der Heiden und Juden, wird zur Aufgabe der staatlichen Gewalt oder des Volkes, dem man Sündenböcke zeigt.
IV
Biblische Herrscher werden zu christlichen Vorbildern
Im Lauf der Jahrhunderte findet ein bemerkenswerter Tausch statt: Seitdem die Regierung christlich ist, argumentiert die Machtkritik der christlichen Untertanen immer weniger mit dem Ersten Gebot oder mit der radikalen Ethik der Bibel gegen die Allmacht des Kaisers. Das Wort aus der Apostelgeschichte „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“(Ap Gesch 5,29) tritt zurück. Mehr und mehr wird der verkürzt verstandene Vers aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom wichtig: „Seid untertan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat“ (Röm 13,1).[8]
Von Karl dem Grossen (768-814) gilt: Er ist der Vater sowohl Frankreichs wie Deutschlands. Zugleich knüpft er erneut an die Tradition des Römischen Reiches an. Das zeigen seine Bestrebungen, die Reichseinheit herzustellen wie auch eine einheitliche Religion in den Dienst des Staates zu stellen. Ein Teil der Sachsen wird mit militärischer Gewalt in die Kirche eingegliedert. Das Reich der Bayern und der Langobarden wird durch Heirat integriert. Karl ist der mächtigste Fürst des Abendlandes. Politische und wirtschaftliche Beziehungen verbinden ihn mit dem Kalifen von Bagdad. Karl betrachtet sich als „Rex et Sacerdos“, als König und Priester. Wie selbstverständlich bezieht er Gottes Anrede an ganz Israel (aus Ex 19,5 und 6) auf sich selbst: „Und nun, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, so sollt ihr mir vor allen Völkern mein Eigentum sein; denn mein ist die ganze Erde. Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern werden und ein heiliges Volk.“
Der Hofstaat huldigt ihm mit dem Titel „König David“. Auch in dem Priesterkönig Melchisedek (Gen 14) sieht Karl ein Vorbild für seine Herrschaft. Schon sein Vater hatte sich anreden lassen mit „strahlend leuchtender David“. Josuas Kriege werden vorbildlich, auch die Mitwirkung der Priester vor Jericho (So später Thomas von Aquin zu Jos 6,4 und 4. Mose 10,9)[9] Sich Glanz und Autorität von biblischen Gestalten zu leihen, war eine Praxis, die auch andere Könige und Päpste übten. Waren es vor Konstantin die Makkabäerbrüder, die als Märtyrer und Vorbilder der Christen verehrt wurden, so sind jetzt die biblischen Herrschergestalten mitsamt ihren kriegerischen Taten vorbildlich, wozu auch wieder auf den Makkabäeraufstand hingewiesen wird.
Die ganze Bibel wird mit christlichen Augen gelesen. Dabei ist Afrikaner Augustinus (vor Thomas von Aquin) der große Lehrer des Abendlandes. In unserem Zusammenhang werden drei seiner Gedanken wichtig:
- Einmal die Arbeitsteilung zwischen weltlicher und religiöser Macht. Karl schreibt nach eigener Lektüre von Augustinus „De Civitate Dei“ an den Papst: Des Königs „Aufgabe ist es, die Heilige Kirche…vor dem Ansturm der Heiden und vor der Verwüstung der Ungläubigen draußen mit Waffen zu verteidigen und drinnen durch die Anerkennung des katholischen Glaubens zu befestigen“. Des Papstes Aufgabe „ist es, mit zu Gott erhobenen Händen wie Moses unser Waffenwerk zu unterstützen!“ Augustinus ist fest davon überzeugt – und das gilt bis in die Staatsethik der reformatorischen und anglikanischen Kirchen – ohne Gott sind Staaten „nichts anderes ist als Räuberbanden im Grossen“[10]
- Zum anderen: Die lateinische Bibelübersetzung der Vulgata verwandelt die Einladung Jesu zum großen eschatologischen Festmahl an die „Armen und Krüppel, an die Lahmen und Blinden“, an die Leute außerhalb der Stadt, an die auf den Landstrassen, in Zwang: „Cogite intrare! Zwingt sie, einzutreten!“ Mission mit Zwang scheint legitim.
V
Verachtung und Verfolgung von Juden anstelle der Nachfolge Christi
- Von den Juden sagt Augustinus, sie seien „Zeugen unserer Wahrheit und ihrer Bosheit“.[11] Gegen jeden mordenden Judenhass müssen diese Zeugen der Geschichte Gottes allerdings am Leben bleiben.
In der christlichen Konstruktion der Heilsgeschichte sind die Juden ein zentrales Problem. Ihrer Tradition verdankt das Christentum alles, was es über den Gott der Welt und über die Orientierung in der Welt zu lernen gibt. Warum aber schließt sich das jüdische Volk nicht dem christlichen Glauben an, in dem Juden Jesus von Nazaret Gottes messianischen Boten zu sehen? Die Kirchen hören die jüdische Nachfrage, wo denn die Realisierung der messianischen Hoffnungen in der öffentlichen Geschichte zu sehen sei? Diese Frage wird weniger mit der Nachfolge Christi beantwortet als vielmehr mit einer immer sublimeren Christologie. Die kritische Rückfrage der Juden gilt als illegitim. Haben sie nicht diesen Jesus umgebracht? Ihre Leidensgeschichte unter christlicher Macht und Mehrheit wird als Strafe Gottes gedeutet. Das berechtigt die einen, sich als Gottes Gerichtsvollzieher gegenüber dem jüdischen Volk zu verhalten. Andere nehmen sich daher das „gute Gewissen“, den Verfolgten nicht zu helfen. Man könne doch nicht gegen den zornigen Willen Gottes handeln.
Nun kennen die zweitausend Jahre Kirchengeschichte auch Epochen der Koexistenz und der Duldung. Das gilt vor allem für die Zeit vor den Kreuzzügen sowie für die Zeit des Humanismus und der Aufklärung. Das gilt z.B. vom mittelalterlichen Polen, das zur Zuflucht von Juden wird, als in Mitteleuropa die Pest wütet und die christliche Mehrheitsgesellschaft nach Sündenböcken sucht, die angeblich die Brunnen mit der Pest vergiftet hätten. Eine magische Auffassung der Eucharistie ist (seit dem Laterankonzil von 1215) weit verbreitet. Sie führt zu Ritualmordlegenden, die bis ins 19. Jahrhundert Anhänger finden. Zum Opfer der Pogrome werden die jüdischen Gemeinden. Über Europas Grenzen hinaus trifft diese Gewalt Juden und Muslime, aber auch Teile der im Westen weithin unbekannten orientalischen Kirchen auf den verschiedenen Kreuzzügen.
Durch die Jahrhunderte gibt es friedliche Pilgerreisen von Christen nach Jerusalem und ins Heilige Land. Das ändert sich schlagartig. als Papst Urban II im Jahr 1095 in Clermont zum Kreuzzug aufruft. Er antwortet damit zunächst auf den Hilferuf des byzantinischen Kaisers Alexios I (1088-1118). Die gewaltsame Befreiung des Heiligen Grabes schiebt sich rasch als Motiv vor die Hilfe für die östliche Christenheit. Das Rittertum steckt durch das Erstarken der Städte und des Bürgertums in einer Krise. Als Ausweg erscheint eine Kombination aus guter Tat des Glaubens, aus Hoffnung auf Beute und aus Abenteuerlust. Die in Massen mitziehenden Armen flüchten mit ähnlichen Zielen aus einer von Krisen geschüttelten europäischen Gesellschaft. Das Kreuz wird zum Siegeszeichen für die einen, zur tödlichen Bedrohung für die anderen. Die Definitionsgewalt – der Beginn jeder Gewalt – hat sie als „Ungläubige“ definiert, die unterworfen werden müssen.
1099 beschreibt ein Teilnehmer nach der Eroberung Jerusalems das Blutbad an den Bewohnern Jerusalems, „dass die Unsrigen bis zu den Knöcheln im Blut wateten…bald durcheilten die Kreuzfahrer die ganze Stadt…plünderten die Häuser, die mit Reichtümern überfüllt waren. Dann, glücklich und vor Freude weinend, gingen die Unsrigen hin, um das Grab unseres Erlösers zu verehren, und entledigten sich Ihm gegenüber ihrer Dankesschuld!“[12]
VI
Gegenbewegungen versuchen, Gewalt einzudämmen
Aber neben der Geschichte von Zwang und Gewalt ist zu sehen, dass in der Christenheit auf biblischem Boden auch Begrenzungen der Gewalt gesucht und gefunden werden. Nicht wirkungslos bleiben die biblischen Hauptworte Recht und Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit und des Friedens, sowie die prophetische Botschaft vor allem der Gedanke der Menschenwürde eines jeden Menschen, verankert im Gedanken seiner Gottesebenbildlichkeit. Die Botschaft Jesu ist nicht ganz vergessen. Ich nenne einige Beispiele, Gewalt rechtlich und ethisch einzudämmen:
- Viele mittelalterliche „Fürstenspiegel“ erinnern die Machthaber an ethische Leitlinien für ihr soziales und politisches Alltagshandeln. Sie sind oft in Anlehnung an biblische Texte formuliert. Diese Regelungen verbinden sich mit antiken Tugendkatalogen und verpflichten auf das Allgemeinwohl (bonum commune). Der Herrscher soll die Guten belohnen, die Bösen bestrafen, soll selbst vorbildlich und christlich leben, für Recht und Gerechtigkeit sorgen. Aber auch der umgekehrte Prozess ist zu beobachten. Der Widerspruch zwischen Religion und Politik führt zu dem Wunsch, sich ganz von jeder Ethik zu befreien. Niccolo Machiavelli (1469-1527) entwirft schließlich eine alternative, „ethikfreie“ Staatsethik. Nur der Machterhalt und die Machtausweitung bestimmen das Handeln des Fürsten.
- Die Begrenzung staatlicher Gewalt durch den Aufbau einer eigenen kirchlichen Machtstruktur bedeutet einen zivilisatorischen Fortschritt gegenüber der antiken Polis, in der Staat und Religion als „Mixtur“, ohne kritisches Gegenüber existieren[13]. Die Macht des einen findet jetzt ihre Grenze in der Macht des anderen. Die Anerkennung der Autorität des einen und einzigen Gottes gibt der Freiheit gegenüber allen anderen Autoritäten eine Chance. Das ist auch gegen Jan Assmann festzuhalten, der den biblischen Monotheismus für die Geschichte der Gewalt in den monotheistischen Religionen mitverantwortlich macht.[14] In den Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst sowie in der Theorie, dass die weltliche wie die kirchliche Macht nur dem einen Gott verantwortlich sind, wird immer wieder um Freiheitsräume gegen die Totalitätsansprüche der einen oder der anderen Seite gerungen. Der Kampf des Mittelalters zwischen Kaiser und Papst im Westen führt eben nicht zu dem Gedanken einer „Symphonie“ von Staat und Kirche unter dem Kaiser bzw. Zaren. wie sie für Byzanz kennzeichnend wird, erst recht nicht zu einem „Caesaropapismus“ beispielsweise der Russisch-orthodoxen Kirche bis 1917, sondern zu einer Gewaltenteilung. Der Gedanke einer Einheit von Religion und Staat lebt auch im Westen bis in den Friedensschluss nach dem blutigen 30jährigen Krieg weiter, allerdings schon vielfach gebrochen durch multireligiöse Wohngebiete. „Wer herrscht, der bestimmt die Religion“ (Cuius regio eius religio) – das war die Vorstellung vom „Corpus Christianum“. Wer nicht dazu gehört, hat minderes Recht oder das Recht zur Auswanderung. Die Lebensformen der orthodoxen Minderheitskirchen z.B. unter islamischer Herrschaft führen zu eigenständigen Beziehungen zwischen Staaten und Kirchen.
- Andere Gegenbewegungen entstehen im Mönchtum. Es lebt auf der einen Seite eine radikale Ethik des frühen Christentums – allerdings um den hohen Preis einer dualistisch denkenden, also gespaltenen Kirche. Als Staatskirche dispensiert sie sich durch die Unterscheidung von Laien und Klerus von der Ethik Jesu. Eine besondere, soziologische Gruppe, Klerus und Mönchtum, lebt als Spezialethik, stellvertretend für alle, die Ethik der Bergpredigt. Die Wirksamkeit dieser alternativen Lebensformen ist zeitweise groß. Wenn sie ihrem Ideal der Armut und Gewaltfreiheit treu bleiben, werden sie zu Reformkräften der Gesellschaft. Es sei an das Beispiel des Franz von Assisi erinnert.
- Aus verschiedenen antiken Traditionen übernimmt die Kirche zur Gewaltbegrenzung die Kriterien für einen gerechten Krieg. Das sind seit Augustinus (354-430) folgende:
- Nur eine legitime Regierung kann einen gerechten Krieg führen (potestas legitima);
- Es muss ein gerechter Grund (causa iusta) vorliegen,, dass Recht gebrochen wurde;
- Ziel kann nur sein, die gebrochene Friedens- und Rechtsordnung wiederherzustellen (finis pax);
- Dieses Ziel, die Friedens- oder Rechtsordnung wiederherzustellen, muss den Gegner einbeziehen;
- Die Mittel müssen dem Ziel entsprechen. Die Übel des Krieges dürfen nicht größer sein als das Unrecht, das er beseitigen soll (debitus modus);
Die scholastische Theologie hat diese Ethik verfeinert. Luther und Calvin blieben in der durch Konstantin gezeigten Beziehung zwischen Staat und Kirche. So auch in der Frage des „Gerechten Krieges“. Sie fügen allerdings drei Verschärfungen hinzu:
- Einmal den Grundsatz: Wer anfängt hat Unrecht;
- Niemand soll und kann Richter in eigener Sache sein;
- Heilige Kriege, Kreuzzüge oder Religionskriege sind keine „gerechten Kriege“. So argumentiert Luther gegen die Türken = Muslime vor Wien mit der These vom gerechten Krieg. Er lehnt jede religiöse Überhöhung dieses Verteidigungskrieges als Kreuzzüge ab. Er weiss, welche Blutspur die Kreuzzüge ins Heilige Land, aber auch die Kreuzzüge gegen christliche frühreformatorische Bewegungen durch die Geschichte ziehen. Zur Ausbreitung der Religion gibt es nach Luther und Calvin kein anderes Mittel als nur das Wort und die Praxis des Glaubens. Gewalt ist ausgeschlossen. Der Christ selbst kann Unrecht und Gewalt leiden – hier argumentiert er mit der Bergpredigt – aber andere darf er nicht leiden lassen.
Bis in die Neuzeit steht die Mehrheit der Kirchen hinter dem Konzept eines gerechten Krieges, obwohl es nach seinen strengen Kriterien selten „gerechte Kriege“ gegeben hat.
- Nicht zu übersehen ist, dass im Mittelalter kirchliche Feiertage die Kriege und Fehden begrenzen – bis zu einem Drittel des Jahres war so für Gewalt gesperrt. Die Synode von Toulouse gebot 1027 für alle Sabbate eine totale Waffenruhe. Solcher „Gottesfrieden“ in kirchlichen Fastenzeiten, an Heiligentagen oder in der Passionszeit heisst „Treuga“ Dei. Ein Konzilsbeschluss gegen das Töten von Christen begründet das Verbot so: In jedem Christen wird das Blut des Leibes Christi vergossen (1054 in Narbonne). Auch nach der großen Kirchenspaltung 1054 in orthodoxe Ost- und römisch-katholische Westkirche erweitert die Synode von Winchester (1087) diesen Beschluss und beruft sich dabei auf den griechischen Kirchenvater Basilius: „Wer einen Menschen getötet hat im großen Kampf, der soll für jeden einzelnen ein Jahr lang Busse tun!“ Konkret wird das im Gesetz zum „Ewigen Landfrieden“ von 1495.
- Hier liegen auch die in den mittelalterlichen Ethiken angelegten Entwicklungen eines Rechtes, das den Frieden fördert und schützt. In allen mittelalterlichen Staatsethiken sind Pax et Iustitia, Schalom ve Zedaka, zentrale Aufgaben. Das gilt zunächst für die Monarchen, später für souveräne Staaten, ehe es zum Recht der Völker und Menschen wird. Am Recht der Reformationskirchen wird dieser mühsame Weg deutlich. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 verspricht den Protestanten gleiche Rechte, was erst nach dem dreißigjährigen Krieg verbrieft wird. Das hat Auswirkungen auf die Minimierung von Gewalt. Erste Anfänge von Völkerrecht und Menschenrechten entstehen. Der Dominikaner Franz von Vitoria (ca. 1483-1546) kämpft angesichts der spanischen Eroberung Lateinamerikas um eine rechtliche Gestaltung der sog Neuen Welt und ihrer Völker. Der protestantische Jurist Hugo Grotius (1583-1645) entwirft ein Recht für die Völker, das Gottes Schöpfungsplan korrespondiert: „Was Gott will, ist Recht!“ Es gilt für Gläubige und Ungläubige, „auch wenn es Gott nicht gäbe! (etsi Deus non daretur“).
- Zu erwähnen sind die mittelalterlichen Reform- und Armutsbewegungen mit ihrem Anspruch, die Kirche nach der Botschaft Jesu Christi zu erneuern. Ideal der Kirchenreform ist die Gewaltlosigkeit und Armut der urchristlichen Gemeinde. Macht und Mammon, Akkumulation von Gewalt und Reichtum stehen im Widerspruch zur Anbetung des einen Gottes und seines armen Sohnes Jesus. Zu erwähnen sind z.B. die Albigenser (Katharer), Waldenser, Wiclifiten und Hussiten. Sie befruchten sich gegenseitig sehr stark, überleben jedoch nur als winzige Minderheiten. Sie trifft die volle Gewalt der Kreuzzüge von christlicher und weltlicher Herrschaft gegen andere, dissentiernde Christen. Diese blutige Erfahrung müssen gelegentlich auch die im Westen weithin unbekannten orientalischen Kirchen machen. Auch hier ertönt der Ruf „Gott will es!“ (Deus vult!). Fjodor Dostojewski beschreibt die Antipoden der Gewalt auf der einen Seite und einer Macht der Ohnmächtigen auf der anderen Seite. In einer Erzählung im Roman „Die Brüder Karamasov“ agiert der Großinquisitor mitten in der Großkirche. Er müsste auch Jesus verbrennen, wenn dieser mit seiner Botschaft etwa in seine Kirche hineinredet. Sie habe die Sache Jesu gut in die Hand genommen.
- Das Ethos der Kirchenreform- und Armutsbewegungen bildet eine Brücke zu den Kirchen, die in und nach der Reformationszeit entstehen. Es sind die historischen Friedenskirchen, z.B. der Mennoniten, Church of Brethren und Quäker. Sie haben im Europa der christlichen Staatskirchen keinen Platz. Sie müssen wie jene auswandern, die vor dem Elend des Hungers, staatskirchlicher oder staatlicher Repression flüchten. In Nordamerika werden sie um viele christliche Dissidentenbewegungen bereichert. Ihrem Kampf für Religions- und Gewissensfreiheit sowie gegen klerikale und säkulare Gewalt von oben verdanken wir einen entscheidenden Beitrag zur modernen Hochschätzung der Menschenrechte und der Demokratie. In der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1776 ist dieses biblisch-menschenrechtliche Fundament deutlich erkennbar- auch in der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution. Obwohl sie gegen eine mit der Macht und dem Reichtum verbündete Kirche antikirchlich sich artikuliert, stehen ihr keinen anderen als die biblischen Begriffe Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit zur Verfügung.
- Der Freiheitskampf der Niederländer durch Wilhelm von Oranien (1533-1584) und die Unterdrückung durch Spanien benutzen biblische Motive der Befreiung und der Rechtsgleichheit. Ähnliches gilt von der Anti-Apartheidpolitik in Südafrika. Der Widerstand der schwarzen Mehrheit wie des Ökumenischen Rates der Kirchen und des Vatikans begründet sich mit der gleichen Würde und den gleichen Rechten aller Menschen – ohne Rücksicht auf ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit. Die weiße Minderheit benutzt neben machtpolitischen und ökonomischen Argumenten auch biblische: Man sieht sich in der Rolle Israels, dem Gott dieses verheißene Land gegeben habe. Die Unterschiede der „Rassen“ seien gottgegeben. Der anglikanische Erzbischof Tutu: „Als die Weißen kamen hatten sie die Bibel und wir das Land, letzt haben sie das Land und wir die Bibel!“ In der Tradition des Kampfes um Freiheit für Menschenwürde und gegen Gewalt lebt auch die antike, dann christlich adaptierte Ethik des Tyrannenmordes weiter. Ich nenne stellvertretend für viele Widerstandskämpfer in Europa Dietrich Bonhoeffer, der als Pazifist sich daran beteiligte, Hitler mit Gewalt zu beseitigen. Vor genau 60 Jahren wird er im KZ Flossenbürg ermordet.
- An zwei engagierte Christen und ihre Arbeit für Menschenwürde und gegen Gewalt will ich in diesem Zusammenhang erinnern. (a) Henri Dunant (1828-1910) gründet nicht nur das Rote Kreuz und den Internationalen YMCA, sondern auch der Genfer Konvention von 1863. Sie bestimmt auch die Anfänge der Haager Landkriegsordnung mit. (b) Peter Benenson gründete 1961 Amnesty International, das sich für alle „gewaltlosen politischen Gefangenen“ (prisoners of conscience) einsetzt. Grundlage ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO.
VII
Eine Entscheidung ist notwendig, welcher Linie sowohl der biblischen wie der kirchlichen Geschichte die Christenheit folgen will
In der christlichen Geschichte sind die Aktionen gegen Gewalt eine Minderheitenposition. Mehrheitlich findet eine Anpassung an die herrschende Macht statt oder eine Instrumentalisierung isolierter christlicher Motive wie z.Z. in der Kriegsrhetorik von George W. Bush oder bei den fanatischen Gegnern in Nordirland. Die Ambivalenz in der Gewaltfrage verlangt eine Entscheidung: Welche biblische, welche christliche Linie wollen wir weiter verfolgen? Ich illustriere das Problem am ambivalenten Umgang mit dem universalen Auftrag des Gottesknechtes aus Jes 49, 6. Da spricht Gott zu Jakob/Isarel: „Ich will dich zum Licht der Völker machen, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde!“
Columbus setzt das Wort als Motto in sein Schiffstagebuch.[15] Er ist auf einer Eroberungsfahrt nach Indien, um Gold zur Finanzierung eines neuen Kreuzzuges zu gewinnen. Wieder einmal soll das Heilige Land von den „Ungläubigen“ befreit werden.
Anders der Pädagoge und letzte Bischof der Böhmischen Brüderkirche, Johann Amos Comenius, er ist auf der Flucht vor der Gegenreformation aus Prag nach Amsterdam. Er formuliert aus demselben Text einen konträren, einen universalen Schluss: Gerechtigkeit sowie Gleichheit aller Menschen und nicht Machtgewinn ist sein Ziel. Er schreibt nach dem Gemetzel des Dreißigjährigen Krieges kritisch zur Gewaltpolitik der europäischen, christlichen Kolonialmächte: „Die christliche Welt umfasst nicht die ganze Welt. Neben uns gibt es noch Hunderte von Nationen….Es ist absolut notwendig mit dem Trachten nach Seemacht Schluss zu machen…, denn der Schöpfer hat allen dasselbe Recht über die Meere gegeben , sodass in Zukunft nicht einfach Privatleute ihre Schätze zu eigenem Nutzen sammeln werden, sondern dass alle, die vor dem Herren auf Erden wohnen, werden essen und trinken und sich wohl kleiden und freudig dem Herren aller Erde loben!“[16]
Folgen wir Christen in Zukunft Columbus oder Comenius?
[1] So überliefert in der Gegenschrift des Origenes „Wider Kelsos“, 1,2; 7,45; 7,68; 8,69.
[2] A.a.O. 1,9; (,73.
[3] Eusebius, Vita Constantini IV,24
[4] Codex Theodosianus XVI,1,2.
[5] Zum Ganzen vergl. Hendrik Berkhof, Kirche und Kaiser, Zollikon-Zürich 1947, besonders S. 61ff.
[6] Von ihm. dem Vater der abendländischen Kirchenmusik, stammen so schöne Lieder wie „Veni Redemptor Gentium“ (EG 4) oder „Deus Creator Omnium“ (EG 485; die in den christlichen Gesangbüchern bis heute in Nachdichtungen lebendig sind.
[7] Zitiert nach Aolf Martin Ritter, Alte Kirche, Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd 1, Neukirchen 1094, S. 186.
[8] Es wäre interessant, die Auswahl der altkirchlichen Propheten. und Evangelienlesungen daraufhin zu betrachten, wieweit sie politik- und reichtumskritische Texte den Gemeinden vorenthalten.
[9] Vergl. Karl Hammer, Christen, Krieg und Frieden, Olten und Freiburg/Breisgau 1972.
[10] De Civitate Dei XXII
[11] CChr 39,744
[12] Regine Pernoud (Hg), Die Kreuzzüge in Augenzeugenberichten, München 1971, S.100f.
[13] Franz Rosenzweig, Stern der Erlösung, III S. 117: „Die antike Polis war ihren Bürgern Staat und Kirche in eins, noch ganz ohne Gegensatz.“
[14] Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998; Ders., Herrschaft und Heil: Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa. München 2000. Regina Schwartz, The Curse of Cain. The Violent Legacy of Monotheism. 1997.
[15] Zitiert aus José Miguez Bonino, Theologie im Kontext der Befreiung, Göttingen 1977, S. 16.
[16] Zitiert aus Pavel Filipi, Komenský und der Kolonialismus: Der Brief nach Breda. In: Jan Lásek und Norbert Kotowski, Johannes Amos Comenius und die Genese des modernen Europa. Fürth 1992, S. 217-222.