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Maßstäbe

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von Martin Stöhr

Seit 30 Jahren gedenken der SPD-Unterbezirk Rotenburg und die Stiftung Adam von Trott „Am Kreuz“ in Imshausen, der Heimat von Adam von Trott, des von der NS-Justiz ermordeten Mitverschwörers beim Attentat auf Hitler. Am 20. Juli 2013 hielt Martin Stöhr die Gedenkrede, die wir hier dokumentieren.

Sehr verehrte Familie von Trott, meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

Clarita von Trott, die letzte Überlebende aus dem Kreis der Verschwörer, wurde in diesem Jahr hier am Kreuz zu Grabe getragen. Sie fragt einmal in einem Interview: „Welchen Sinn hat der 20. Juli“ für Menschen der nächsten Generation? Sie will nicht akzeptieren, „dass fast alle um diese Frage herumgehen, wie um den heißen Brei“. Es reiche nicht, „sich des Widerstandes dem Ausland gegenüber erfolgreich zu bedienen.“ Ja – welchen Sinn hat der 20. Juli eigentlich für uns?

Vor 70 Jahren wurden Frauen und Männer inhaftiert, verschleppt, gefoltert, ermordet, weil sie einer deutschen Staatsführung sowie ihren Apparaten und Funktionären Widerstand leisteten – Widerstand mit Wort und Tat denen, die mit Lüge und Gewalt die Nachbarstaaten überfallen hatten, die im Inland die Minderheiten der Juden, der Roma und Sinti, der Oppositionellen und Unangepassten mörderisch verfolgten. Diese Minderheiten wurden Opfer, weil die Mehrheit unseres Volkes – aus allen Schichten

  • jubelte, solange es etwas zu jubeln gab,

  • oder mitlief, solange es dem eigenen Fortkommen und Hochkommen nützlich war,

  • oder schwieg bzw. wegschaute, weil man angeblich doch nichts machen konnte.

Eine Minderheit aber – aus allen Schichten – gilt unser Dank und Gedenken. Sie jubelte nicht, lief auch nicht mit bei der schweigenden Mehrheit, auch nicht bei den Wegschauenden. Diese Minderheit dachte: Man kann die Dinge nicht einfach so laufen lassen, wenn nicht nur ein Mensch, sondern Millionen unter die Räder kommen.

Seitdem das deutsche Volk 1932/33 eine große Koalition aus Nazipartei und Deutschnationaler Volkspartei in die Regierung gewählt hatte, gab es immer Menschen, die z.B- in der Arbeiterbewegung oder in der Christenheit, gelernt hatten, ein Gewissen nicht nur zu besitzen, sondern es auch zu benutzen. Jede und jeder hat bekanntlich ein Gewissen. Das wird häufig vergessen. Denn allzu oft ruht das Gewissen – ratlos, tatenlos, verschüttet, eingeschüchtert, gekauft oder eingeschlafen.

So nicht bei Adam von Trott zu Solz und seinen Mitstreitern und Freunden. Er ist einer jener Menschen, die wissen wollen, was alle wissen können, wenn sie wissen wollen – damals wie heute – was an Unrecht vorbereitet, getan und geduldet wird – in Büros und in der Nachbarschaft, in Schulen und Hochschulen, in der Wirtschaft, in Vereinen, im Militär, in den Medien, in der Verwaltung und wo auch immer.

Auch ein totaler Staat besteht aus vielen kleinen Einheiten, in denen Bürger/innen verantwortlich leben und arbeiten. Dort gibt es nicht nur Zwang zur Anpassung. Dort gibt es manchmal – und öfter als man denkt – auch Platz für kleine Tapferkeiten im Alltag. Beispielsweise gehörte damals dazu, zu widersprechen, wo Kopfnicken angesagt war; einem Zwangsarbeiter – 11 Millionen hatte Deutschland in unsere Industrie und Landwirtschaft gezwungen – ein Stück Brot zu geben; eine eigene Meinung nicht nur zu haben, sondern auch öffentlich zu vertreten; den Feind nicht – wie eingetrichtert – zu hassen, sondern als Mitmenschen zu erkennen; einen von Verhaftung Bedrohten zu warnen oder gar zu verstecken; mit den Verachteten und Verspotteten Bekanntschaft zu halten; sich auch mit denen sehen zu lassen, mit denen sich sehen zu lassen unerwünscht war. Dazu gehört der Blick über den Tellerrand des eigenen Volkes und der eigenen Interessen. Dazu gehören Begegnungen, die den Umkreis des eigenen Kirchturms und des eigenen Milieus überschreiten.

Dieser weite und offene Horizont zeichnet Adam von Trott aus. Kurz und gut, auch ihn bestimmt ein Dietrich Bonhoeffer verwandter Maßstab (vor genau 70 Jahren in seiner Bilanz von 10 Jahren Naziherrschaft fest gehalten): „Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiter leben soll“.2

Clarita von Trott antwortet auf ihre selbst gestellte Frage „Welchen Sinn hat der 20. Juli?“ ebenso realistisch wie herausfordernd im Blick auf damals wie auf unsere Generationen: „Sie hatten keinen Erfolg. Aber sie setzten Maßstäbe.“ Sie setzen Maßstäbe, die nicht mit dem vergangenen Jahrhundert im Keller der Geschichte verschwinden. Maßstäbe für uns und für heutiges Handeln.

II

Clarita von Trott zieht klare Konsequenzen, wenn sie in dem Interview weiter sagt: „In mancher Hinsicht empfinde ich sie (die Widerstand übten) als geistige Weggefährten und Zeitgenossen derjenigen, die die Welt heute gegenüber neuen tödlichen Gefahren wachrütteln wollen!“

Ohne ein derartiges Wachrütteln gegenüber neuen tödlichen Gefahren ist ein Gedenken nicht zu haben – schon gar nicht an einem Kreuz, das auf den hinweist, der es vor zwei Jahrtausenden schleppen musste, der gefoltert und aufgehängt wurde. Man wollte ihn und seine Maßstäbe loswerden. Wenn die Bibel wachrüttelt, dann tut sie das mit sehr menschlichen Maßstäben für unmenschliche wie für menschliche Wirklichkeiten. Gottes Maßstab ist Mensch geworden. Seine biblischen Maßstäbe sind alltagstauglich. Sie sind an einer Hand abzuzählen: Es sind Recht und Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Frieden sowie Befreiung von Angst und Schuld, von Elend und Menschenverachtung.

Werden die biblischen Hauptworte in Taten umgesetzt, werden aus Hauptwörtern Tu-Wörter, dann kommen immer auch die politischen, religiösen und wirtschaftlichen Machthaber und ihre Selbstbehauptung kritisch in den Blick – seinerzeit zB Pontius Pilatus. Aber der Blick fällt auch auf mich und auf die eigene Gemeinschaft. Uns fällt es oft nicht leicht, wahrhaben zu wollen, was um uns herum an Menschenverachtung geschieht. Die Neigung wächst unheimlich schnell, zu verharmlosen – wie die Jünger am Kreuz – zu schlafen, zu verraten, zu verleugnen, wegzulaufen. Und das in einer Situation, in der alles darauf ankommt, einen Menschen nicht im Stich zu lassen – damals den einen Juden aus Nazaret, heute zB die vielen Opfer einer „globalisierten Gleichgültigkeit“, wovon Papst Franziskus in Lampedusa zu Recht sprach.

Er steht am größten europäischen Friedhof im Mittelmeer und vor den hochgezogenen Zugbrücken der reichen Festung Europa. Die Verteidigung unserer Festung wird auch von der Bundesrepublik mit 81 Millionen € für Frontex-Schnellboote und Nachtsichtgeräte bezuschusst.

Unrecht und Gewalt verdanken sich zuerst dem Nichtstun der guten Menschen und nicht nur den bösen Taten der bösen Menschen, schreibt Martin Luther King einst aus dem Gefängnis an jene Freunde, die ihn belehrten, die Zeit heile alle Wunden, man dürfe nichts übereilen und nicht zu viel verlangen. Das Gute setze sich schon von selber durch.

III

1936 schreibt von Trott, als alle Welt eine tyrannendienliche Olympiade bejubelte:3 „Ich bin immer mehr zu der Überzeugung gelangt, dass nur eine Wiedergeburt der christlichen Gesetze und Ethik diese Flut aufhalten kann, die uns zu verschlingen droht“. Das ist keine romantische Rückerinnerung an ein „christliches Abendland“, das seine mit dem Adjektiv „christlich“ beanspruchten Maßstäbe nicht selten an nationales und militärisches Denken verraten hatte. Von Trott fragt am 18. 6. 1944 in einem Brief an seine Frau Clarita:: „Lässt sich unser christlicher Kinderglaube…ausweiten und auf die ganze Wucht und Intensität unserer heutigen Probleme einschärfen?“ Er spitzt die Herausforderung zu, weil er mit anderen sich entschieden hatte, dem Unrecht zu widerstehen Da reicht die Religiosität eines Kinderglaubens nicht. Diesen Kinderglaube gibt es ganz religiös, wenn er sagt „Gott wird alles schon richten!“4 Es gibt den Kinderglauben aber auch ganz unreligiös-säkular. Er verabschiedet sich von jeder Verantwortung mit dem Gedanken „Wieso denn Ich? Die Geschichte oder das Schicksal laufen auch ohne mich weiter.“ Nein, ein sog. Kinderglaube wird erwachsen, wenn er sich der „ganzen Wucht und Intensität unserer heutigen Probleme“ stellt.

Von Trott hilft denen, die direkt an Leib und Leben gefährdet sind, wie Juden oder Sozialisten. Er selbst entscheidet sich, nicht auszuwandern, sondern im eigenen Land seinem Land „zu dienen“, wie er sein widerständiges Handeln nennt. Er koppelt sich klar ab von einem üblichen, anpasserischen Staatsdienst wie von einer nur formalen oder traditionellen, nichts bewegenden Kirchenmitgliedschaft.

IV

Es geht um unsere Zeit, Deswegen geht Clarita von Trott den Weg der Erinnerung verantwortungsvoll nach vorne, bis in unsere Gegenwart. Sie verschweigt nicht, was sie an tödlichen Gefahren heute sieht. Sie benennt sie deutlich: „Nach innen aber haben besinnungsloser Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Wiederaufrüstung und der Kalte Krieg dazu beigetragen, dass unser Volk den Schatz nicht erkannt hat, den ihm der Widerstand mit seiner Geschichte hinterlassen hat.“5 Mit ihrem Hinweis auf den Schatz der Maßstäbe aus dem deutschen Widerstand nennt sie drei Aufgabenfelder, auf denen wir heute ebenso nachdenklich wie aktiv und keinesfalls „besinnungslos“ zu ackern haben: Wir sind gefragt:

  1. Wie gehen wir um mit wirtschaftlicher Macht? Denn unsere Gesellschaft nur am wirtschaftlichen Erfolg zu messen, an Produktion und Konsum, an Gewinn und Verlust, macht uns blind für alle, die wirtschaftlich abgehängt werden, die in Armut leben.

  2. Wie gehen wir um mit militärischer Macht? Denn das Vertrauen auf militärische und geheimdienstliche Macht bremst die Verpflichtung aus, die weniger tödlichen Alternativen auszubauen. Und die Alternativen heißen Völkerrecht und Menschenrechte. Ihnen gehört die Zukunft, damit sich nicht Kriege und Terror weiter ausbreiten.

  3. Wie gehen wir um mit der Macht von Feindbildern? Denn Vorurteile hindern mich, den Menschen als Mitmenschen zu erkennen. Antisemitismus, Antiislamismus und Antiziganismus sind in der Mitte unserer Gesellschaft zu Hause

Die drei Fragen stellen uns vor drei Aufgaben: Wir haben also (1) über Gerechtigkeit, (2) über Frieden und (3) über menschenfeindliche Einstellungen nachzudenken und zu entsprechend zu handeln. Heute.

V

Man muss sich immer und immer wieder klar machen: Diese Aufgaben wurden vor zwei Generationen von sehr unterschiedlich motivierten Freundeskreisen des Widerstandes angepackt – und das in einem totalen Staat. Man duckt sich nicht weg, als die überfallenen Nachbarstaaten genauso ausgeplündert werden wie die in Konzentrationslager verschleppten Nachbarfamilien. Damals wurde hemmungslos gerüstet, um einen Krieg führen zu können, an dessen Ende Europa zerstört und ca. 60 Millionen Menschen tot waren. Vorbereitet wurde alles auch durch Feindbilder von Juden, Zigeunern, Polen, Russen, von sog. Untermenschen, kurz von den „Anderen“, von den „Fremden“ oder als fremd Angesehenen. Genauer: Man hantiert mit Bildern von Menschen, ohne die wirklichen Menschen zu kennen und kennen lernen lernen zu wollen.

Im Gegensatz zu damals riskieren wir nicht unser Leben, wenn wir uns an diesen drei Aufgaben abmühen. Unser Land hat die beste demokratische Verfassung, die es je hatte, wenn es auch nicht in der besten Verfassung ist, in der es sein könnte. Davon können zB Migranten oder Arme ein trauriges Lied singen.

Ich betone ausdrücklich: Ich setze die Nazizeit nicht mit unserer Gegenwart gleich. Ich frage nach Maßstäben gegen Ungerechtigkeit, gegen Krieg, gegen Feindbilder. Nehmen wir diese Maßstäbe ernst in der „Wucht und Intensität unserer heutigen Probleme“? Oder gelten jene Maßstäbe, die uns Werbung und Medien aufs Auge und ins Unterbewusstsein drücken? Liegen gegenwärtig vielleicht jene Maßstäbe im Trend, die ich mit dem Dreisatz bündeln könnte: Vertraue

  • auf wirtschaftliches Wachstum,

  • auf innere und äußere Sicherheit,

  • aufs-Spaß-haben-müssen.

Schleichen sich nicht allzu oft diese Maßstäbe als ein persönliches und gesellschaftliches Erfolgsrezept in unsere Lebensstile ein? Mit ihnen kann man sogar „gut“ leben, auch wenn man das „Besinnung“ verliert. Das Leben kann weiter gehen. Welches Leben?

Wir leben zum Glück nicht in einem totalen Staat – aber erhebt eine globalisierte Ökonomie nicht Herrschaftsansprüche, der sich auch Demokratie und Kultur zu unterwerfen haben? Ist nicht immer zu hören, die globalisierte Weltwirtschaft sei ein Naturgesetz und gegen Naturgesetze könne man keine ethischen Maßstäbe anführen. Jeder Wochenmarkt wie der Markt der Möglichkeiten auf dem Kirchentag hat Regeln, die einen fairen Ausgleich zwischen großen und kleinen Marktteilnehmern schaffen. Hat die Kanzlerin aber nicht gesagt, dass wir in einer „marktkonformen Demokratie“ leben? Wird dadurch nicht die Aufgabe zerpflückt, den Markt endlich demokratiekonform – im Sinn von mehr Gerechtigkeit und Teilhabe im Inland wie weltweit auszubauen?

Ich frage weiter: Vor nicht allzu langer Zeit sagt unser Verteidigungsminister wörtlich im MDR: „,Grundsätzlich gibt es keine Regionen, in denen deutsche Soldaten nichts zu suchen hätten!“ Ich frage: Was gibt es da zu suchen? Wird da am Ende ein gerechter Friede gesucht, sogar gefunden?

Zeigen die neuzeitlichen Kriege nicht: Sie alle sind nicht gewonnen. Das gilt für China gegen Tibet, für Russland gegen Afghanistan oder im Kaukasus, Das belegen die Einmärsche der USA in Vietnam, Afghanistan und Irak, der Bürgerkrieg in Syrien sowie unsere deutsche Beteiligung in Afghanistan. Es ist deutlich: Kriegerische Mittel zerstören, was sie schützen und retten sollen. Keiner der Versuche, Konflikte militärisch zu lösen, brachte der Zivilbevölkerung einen „gerechten Frieden“. Der Rüstungsindustrie und dem Waffenhandel allerdings brachten sie Milliardengewinne. Millionen Menschen den Tod – meistens Zivilisten.

VI

Schon 1930 hatte der Göttinger Student Adam von Trott in sein Tagebuch geschrieben: „Die Selbstbehauptung des Staates auf dem Weg der Rechtsentwicklung, nicht dem des Krieges ist heute zu erstreben.“6 Über 10 Jahre später gibt er dem Freund Visser’t Hooft in Genf eine Stellungnahme ab, in der es genau so deutlich wie im Göttinger Tagebuch heißt, „dass in allen internationalen Organisationen…der Machtgedanke dem des Rechts eindeutig untergeordnet werden müsse.“7

Die völlig andere Formel „Macht geht vor Recht“ steht persönlich wie politisch wie wirtschaftlich oft hoch im Kurs, auch wenn wenige das laut eingestehen. Von Trott kehrt die Formel um und arbeitet an einer Lebenswirklichkeit, in der „Recht vor Macht“ geht. Diese Arbeit hat er uns vor die Füße gelegt. Sie darf nicht mit Füßen getreten werden.

Das Recht hat heute – wie gesagt – vor allem zwei Gestalten. Völkerrecht und Menschenrechte. Diese klare Position hatte von Trott formuliert, als er mit dem Kreisauer Kreis auch die Vorstellungen der US-amerikanischen Kirchen studiert hatte. Von Trott war gewissermaßen ein außenpolitischer Sprecher des Kreisauer Kreises. Dort arbeiteten Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammen. Sie waren gegen jeden angemaßten Machtanspruch verbunden in einer „freien Gewissensentscheidung“, wie sie von Trott in seinem Buch über Heinrich von Kleist schon 1935 dargestellt und entfaltet hatte.

Die Kreisauer arbeiteten an einer gerechten Friedensordnung Europas nach dem Krieg. Die US-amerikanischen Vorschläge befassten sich mit derselben Aufgabe. Sie waren über den Ökumenischen Rat der Kirchen nach Deutschland, nach Kreisau gelangt. Sie zeigen, wie in den westlichen Kirchen und im deutschen Widerstand nicht nur die Beseitigung Hitlers bedacht wurde, sondern auch die Nachkriegsordnung in einem geeinten und demokratischen Europa. Diese Vorstellungen sind das klare Gegenkonzept zu Hitlers gewalttätiger „Neuordnung Europas“.8 Dieser Versuch wollte und betrieb die Ausrottung des jüdischen Volkes und der Roma und Sinti sowie die Dezimierung und Versklavung der Slawischen Völker zugunsten einer rassistischen Alleinherrschaft von „Großdeutschland“.

Die us-amerikanischen, nichtkatholischen Kirchen stellten mitten im Krieg den europäischen Widerstandsgruppen und den politisch Verantwortlichen „Sechs Pfeiler des Friedens“ vor:

  • Eine Art „Vereinte Nationen“,

  • Ein gerechtes Welthandelssystem,

  • Ein internationales Vertragssystem unter Aufsicht der Vereinten Nationen,

  • Garantien der Vereinten Nationen für die Selbstregierung der im Krieg unterworfenen Völker ,

  • Eine weltweite, kontrollierte Abrüstung

  • Der Schutz religiöser und geistiger Freiheiten.

VII

Als Adam von Trott 1942 seinen Freund, den Baumeister des Ökumenischen Rates der Kirchen, Willem Visser`t Hooft, in Genf im Auftrag des Widerstands besucht, überreicht er ihm ein Memorandum, an dem er im Kreisauer Kreis mitgearbeitet hatte. Die Westmächte sollten nicht nur über die Existenz von Widerstandsgruppen in Nazideutschland informiert werden. Sie sollten auch Kontakt mit ihnen aufnehmen, um das entsetzliche Blutvergießen durch Verhandlungen zu beenden. Diese – wie andere Vorstöße – wurden nach London und Washington weitergegeben, fanden dort aber kein Gehör, obwohl Bonhoeffers wie von Trotts christliche und linke Freunde sich dafür einsetzten. In Genf sagte 1942 von Trott, dem die Schwäche des Widerstands bewusst war: „Die Nazis haben offensichtlich Erfolge zu verzeichnen, und nichts habe mehr Erfolg als der Erfolg“9

Dietrich Bonhoeffer analysiert zum Jahresbeginn 1943 zehn Jahre Naziherrschaft – kurz vor seiner Verhaftung. Er schreibt seine Bilanz der herrschenden Maßstäbe für die Widerstandsfreunde Hans Oster, Hans von Dohnany und Eberhard Bethge. Bonhoeffer war wie Adam von Trott ein wichtiger Kontaktmann des Widerstandes zu den Westalliierten. Beide fragen sich – im Interesse eines zivilen Deutschland – ob der Erfolg eine Sache rechtfertige10? Heiligt der Zweck die Mittel? Höchst „erfolgreich“ hatten – gemessen am Maßstab „Erfolg“ – Deutschlands Armeen, Polizei und Justiz „erfolgreich“ zwischen Nordkap und Libyen, zwischen Atlantik und Kaukasus getötet.

Dass sie dazu ein “Recht“ gehabt hätten, dass sie „recht“ gehandelt hätten, wird niemand sagen. Höchstens Neonazis, denen wachsame Bürgerinnen und Bürger zum Glück die bunte Karte zeigen – gegen die altbekannte Feindbilder und gegen die Todesfarbe „Braun“.

Dieselbe Frage „Was bedeutet Erfolg?“ stellt sich mit dem, was Clarita von Trott “besinnungslosen Wiederaufbau, Wirtschaftswunder“ nennt. Dass Wiederaufbau und Wirtschaftswunder im zerstörten, hungernden und frierenden Kriegs- und Nachkriegseuropa Erfolg hatte – wenn auch nicht für alle – ist eindeutig positiv. Nur: hat darüber eine ernsthafte Besinnung stattgefunden? Haben viele Menschen nicht den Schluss gezogen, das müsse und werde mit dem Wachstum immer so weitergehen, weil „Wachstum“ eben das ewige und überall gültige Gesetz der Wirtschaft sei? Dann werden Panzer auch in Diktaturen exportiert, weil es gut ist für unsere Handelsbilanz. Und Pfefferspray wie die Abhörgeräte gegen eine demokratische Opposition gleich mit.

Wenn es uns gelingt, hier eine breite öffentliche Debatte los zu treten, dann könnten wir vielleicht einmal die Besinnungslosigkeit vieler überwinden, die – in allen Schichten – zu beobachten ist. Dann kommen wir dem gerechten Frieden vielleicht ein wenig näher, von dem Christen und Sozialisten in ihrem Widerstand gemeinsam mit alliierten Freunden mit im Krieg träumten. Sie waren Internationalisten und Ökumeniker, hatten die Bewohnerinnen und Bewohner der internationalen Völkergemeinschaft und des ganzen bewohnten Erdkreises (oikoumene) im Blick.

Sie waren auch deswegen erfolglos, wie Willem Visser’t Hooft schreibt: weil der „Westen nicht begriffen hatte, dass Männer wie Adam von Trott und Dietrich Bonhoeffer nicht deutsche Nationalisten waren, die einer Niederlage ihres Landes vorzubeugen suchten, sondern Vorkämpfer einer neuen und besseren gesellschaftlichen und Internationalen Ordnung“11

Das hat zur Voraussetzung, dass wir ihre Maßstäbe wahr- und ernstnehmen. Und dazu gehört z.B- die Stimme Albrecht Haushofers, der mit Friedrich Justus Perels und Klaus Bonhoeffer am Tag der Eroberung Berlins durch die Rote Armee von der Gestapo erschossen wurde: In dem Bombentrichter, in dem man sie verscharrte, fanden sich Haushofers „Moabiter Sonette“. Eines dieser Gedichte davon trägt den Titel „Schuld“. Was ungerechte Gerichte zur Schuld sagen, ist für Haushofer belanglos. Wichtig sind ein selbstkritisch-waches Gewissen und eine klare Stimme. Seinen Maßstab, gewonnen aus einer Niederlage, gerettet aus einem Bombentrichter, gibt er lebendig an uns weiter:

„Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt,

ich musste früher meine Pflicht erkennen,

ich musste schärfer Unheil Unheil nennen –

mein Urteil hab ich viel zu lang gelenkt –

Ich klage mich in meinem Herzen an:

Ich habe mein Gewissen lang betrogen,

ich hab` mich selbst und andere belogen –

Ich kannte früh des Jammers ganze Bahn –

Ich hab‘ gewarnt – nicht hart genug und klar!

Und heute weiß ich, was ich schuldig war.“

1 Seit 30 Jahren gedenken der SPD-Unterbezirk Rotenburg und die Stiftung Adam von Trott „Am Kreuz“ in Imshausen, der Heimat von Adam von Trott, des von der NS-Justiz ermordeten Mitverschwörers beim Attentat auf Hitler.

2 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, München 1998, S. 24.

3 Henry O. Malone, Adam von Trott zu Solz. Werdegang eines Verschwörers 1909-1938. Berlin 1994, S. 168.

4 Zitiert nach Martin Greschat, Widerstand und Versöhnung. In: Anselm Doering-Manteuffel und Joachim Mehlhauseen (Hg), Christliches Ethos und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Europa, Stuttgart/Berlin/Köln 1995, S.142.

5 In: Dorothee von Meding, Mit dem Mut des Herzens: Die Frauen des 20. Juli. Berlin 1992, S. 187f.

6 Henry O. Malone, Adam von Trott zu Solz. Werdegang eines Verschwörers 1909-1938. Berlin 1994, S. 216.

7 Zitiert nach Armin Boyens, Kirchenkampf und Ökumene 1939-1945.München 1973, S. 222f.

8 In der Zusammenfassenden Analyse der Kreisauer Denkschrift durch den Ökumenischen Rat wird zum erstem Mal der Ausdruck „Gerechter Friede“ benutzt, der später in den Ökumenischen Versammlungen der Menschenrechts- und Friedensgruppe in der DDR 1988/89 eine wichtige Rolle spielt. Vgl. Armin Boyens, Kirchenkampf und Ökumene 1939-1945, München 1973, S. 217.

9 Willem Visser’t Hooft, Die Welt war meine Gemeinde. Autobiographie. Zürich 19742,, S. 190.

10 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. DBW Bd 8. München 1998, S. 24f.

11 A.a.O. S. 199.