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Folgen des Terrorismus für eine christliche Vision des Friedens

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Von Ulrich Frey

Am 18.3.2004 trug Ulrich Frey anlässlich der friedensethischen Fachtagung der Evangelischen Kirche im Rheinland „Unilaterale Politik und Krieg gegen den Terror – Herausforderungen für eine christliche Vision des Friedens“die folgenden Thesen vor. 

 

Eine Herausforderung für eine christliche Vision des Friedens sind Parolen wie “Krieg gegen den Terror” oder “Krieg gegen den Terrorismus”. Besonders die Klärung von Begriffen tut Not. Es folgen Thesen zum Verständnis von solchen ausgewählten Punkten und Zusammenhängen, die für die Fortschreibung der Position der EKiR in Fragen der Friedensethik[1] wichtig sind, weil sie unseren Sprachgebrauch und damit unser Denken und Handeln programmieren. Die vorliegende überarbeitete Fassung berücksichtigt Anregungen aus der Diskussion bei der Fachtagung.

 

  1. Terroristische Akte sind nichts Neues

Terroristische Akte sind nichts Neues. Parolen wie “Krieg gegen den Terror” oder “Krieg gegen den Terrorismus” aber wirken nach dem 11. September 2001 als semantische Leitworte für politisches Handeln. Diese Parolen sind in sich widersprüchlich und behindern die Realisierung einer christlichen Vision von Frieden sowie die darauf aufbauende Friedensethik, Friedensforschung und Friedenspolitik.

  1. Kriegerische Reaktionen auf Terrorismus stärken diesen

Terroristische Akte nach dem 11. September bedeuten nach Radikalität, Handlungs- und Opferbereitschaft der Täter, Stärke, weltweiter Vernetzung und Finanzierung allerdings eine neue “Qualität” von Gewalt. “Krieg gegen den Terror” und “Krieg gegen den Terrorismus” sind weltweit unreflektiert in den Sprachgebrauch und das Handeln von Gesellschaft, politischer Klasse und Regierungen in den USA und in Europa einschließlich Deutschlands übernommen worden. Dies muss in einer von Glauben und Vernunft geleiteten Auseinandersetzung korrigiert werden, weil eine falsche Semantik die falsche Erwartung produziert, Terrorismus durch kriegerische Gewalt eliminieren zu können. Das Gegenteil ist der Fall: Kriegerische Reaktionen stärken den Terrorismus, indem sie Anreize zur Eskalation durch neue Gewalt liefern, anstatt den Teufelskreis zu unterbrechen. Die nicht abreißende terroristische Gewalt im Irak nach der Besetzung durch die von den USA angeführten Koalitionstruppen beweist das.

  1. Wir dürfen das “Böse” nicht tabuisieren

Die Überzeugungskraft einer christlichen Vision von Frieden wird durch eine fast als unüberwindlich erscheinende Gewalt, auch als Folge eines stärker werdenden Fundamentalismus christlicher, islamistischer und anderer Prägung, der die Welt in “Gut” und “Böse” aufteilt, im Bewusstsein der Menschen in Frage gestellt. Dieser bringt mehr Gewalt hervor, als die Vision bewältigen zu können scheint, bis hin zur Erwartung einer endzeitlichen Vernichtung der Welt durch Massenvernichtungswaffen, ökologische und andere Katastrophen. Das liegt auch daran, dass wir in der Regel das “Böse” in unserem friedensethischen Denken ausklammern und uns nicht hinreichend mit Gewalt in der Bibel und in der Geschichte und Gegenwart unserer Kirchen auseinandersetzen, sondern es verdrängen.[2]

  1. Die Vision des Friedens fordert das Bild eines liebenden Gottes

Die christliche Vision des Friedens[3] ist die des künftigen Reiches Gottes, das nicht von Menschen machbar ist. Das eschatologisch verstandene Reich Gottes in seiner Vollendung wird das Ende von Gewalt, Not, Unfreiheit und Angst sein. Aber: Es beginnt unter uns im Zuspruch der Vergebung, in Umkehr und Nachfolge. Zu den Elementen der Nachfolge gehört, dass wir uns auf einen Prozess zur Minimierung von Not, Gewalt, Unfreiheit Angst einlassen. Für Schritte in diese Richtung sind Christenmenschen aus ihrem Glauben heraus als Frieden Stiftende verantwortlich. Apokalyptische Vorstellungen vom Ende der Welt als Folie für politisches Handeln sind a priori nicht Bestandteil dieser Vision. Gott ist kein Gerichtsgott, der das Reich des Bösen niederreißt und kein Rachegott[4], dessen Mission ein Staat auszuführen hätte. Die fundamentalistische “civil religion”, die der Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) der gegenwärtigen US-Administration zu Grunde liegt, ist nicht christlich gedacht. Zusammen mit dem Nationalen Rat der Kirchen in den USA, der Schwesterkirche UCC, dem ÖRK und auch im weiteren ökumenischen Zusammenhang sollte die EKiR den befreienden und vergebenden Gott unter die Menschen bringen, der zu eigener Schulderkenntnis, Umkehr und Versöhnung befähigt.

  1. Frieden stiften: violentia in potestas transformieren

Das ökumenisch konsentierte Leitbild des “gerechten Friedens” als die friedensethische Zuspitzung einer christlichen Vision von Frieden und deren prima ratio ist die normative Grundlage für den Versuch, die willkürliche violentia durch eine rechtlich eingehegte und damit geregelte Gewalt (potestas) zu überwinden. Friedenspolitisch zielt der ”gerechte Friede” darauf ab, tradierte und neu aufkommende Gewalt zu brechen und eine gewaltfrei begründete Macht zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten im Rahmen eines rechtsstaatlich kontrollierten staatlichen Gewaltmonopols zu etablieren. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist aber ein Vollzugsdefizit zu beklagen. Sowohl gesellschaftliches (eingeschlossen kirchliches) als auch staatliches Handeln wird den Anforderungen objektiv nicht gerecht. Aufgabe der Kirchen ist es, zu mahnen und Alternativen zu fordern, aber auch mehr als bisher durch eigenes zeichenhaftes Handeln Vertrauen zum Begehen neuer Wege zu schaffen. Nachzudenken ist im Rahmen von Kapitel VII der Charta der VN über Legitimationsgrundlagen und Formen völkerrechtlich und rechtsstaatlich kontrollierter grenzüberschreitender Gewalt etwa nach den Prinzipien nationalen Polizeirechts zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.

  1. Das Leitbild des “gerechten Friedens” ist auch eines zur Bekämpfung von Terror

Der ”gerechte Friede” ist nicht die Negation von Krieg, sondern ein umfassendes konstruktives Programm im Dienste der vorrangigen Optionen für die Armen, die Gewaltfreiheit und die Förderung und den Schutz des Lebens. Ein ”gerechter Friede” kann nicht als fertiges Produkt definiert werden. Er ist vielmehr ein geschichtlich-dynamischer Transformationsprozess mit immer neuen Anstrengungen zur Bekämpfung der sich wandelnden Ursachen von Unfrieden, auch im Falle des Terrorismus. Dieser Prozess schließt Rückschläge nicht aus. Er nimmt die jeweilige reale Situation als Ausgangspunkt für neue Bemühungen. Leitende säkulare Paradigmen dieses Prozesses sind weltweit geltende Werte und Normen wie Demokratie und Menschenrechte, sowie die Forderung nach einer davon geleiteten Weltinnen- und Weltordnungspolitik. Ein ”gerechter Friede”, auch zur Verminderung der Bedrohung durch Terrorismus, entwickelt sich durch Fortschritte in zentralen Arbeitsbereichen, die miteinander verbunden sind. Dimensionen des “gerechten Friedens” – gegen jeden Fundamentalismus und daraus entstehende Gewalt – sind im wesentlichen: die Förderung von weltweiter Gerechtigkeit, die Schaffung und Durchsetzung von Recht, die Transformation von Gewalt bis zu deren Überwindung in gewaltmindernden Prozessen, Abrüstung und Konversion, eine weltweite nachhaltige Entwicklung, Dialog der Religionen, Bildung, Erziehung, Dienst für den Frieden und Qualifizierung dafür, in der Summe also kohärente Programme zur Krisenprävention und gewaltfreien Konfliktbearbeitung in der Perspektive eines nicht militärisch dominierten Sicherheitsbegriffs und multilaterales Vorgehen. Insbesondere die Stärkung der zum Dialog und zur Kooperation bereiten Kräfte in der islamischen Welt steht auf der Tagesordnung.

 

Das ökumenisch konsentierte Leitbild des “gerechten Friedens”[5] ist aus der Arbeit mit der Bibel entstanden, nicht aus politischen oder anderen Zusammenhängen. Eine “Lehre” im Range der vom “gerechten Krieg” ist das Leitbild nicht. Es hat sich in den Kirchen unterschiedlich schrittweise entwickelt. Systematische Ansätze finden wir u.a. im evangelischen und ökumenischen Bereich in der V. Barmer These von 1934, in der 1. Heidelberger These von 1959 und im gegenseitigen Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung seit 1983. Das Leitbild des gerechten Friedens formuliert keine Strategie christlichen Friedenshandelns und keine operationalen Anweisungen dazu. Vielmehr fasst es erprobte christliche Überzeugungen zusammen, die Friedensethik, Friedenspoltik und Friedensforschung, auch im säkularen Raum, anleiten.[6]

  1. “Terrorismus” ist nicht definiert, nutzbar aber das Wort “terroristischer Akt”

Für den Begriff “Terrorismus”[7] gibt es nach dem neuesten Stand der Diskussion keine international verbindliche juristische Definition, obwohl dies zu dessen rechtsstaatlicher Bekämpfung dringend nötig wäre. Terror und Terrorismus sind ihrem Wesen nach ohne Grenzen. Es gibt auch keinen Konsens darüber, worauf der Begriff Terrorismus angewandt werden soll, etwa auch auf Staaten (“Staatsterrorismus”) oder nur auf nichtstaatliche Gruppen. Dagegen wird der Ausdruck “terroristischer Akt” von Menschenrechtsorganisationen eher genutzt, um einzelne Handlungen zu kennzeichnen, die mit der Drohung oder Anwendung von Gewalt große Furcht in der Bevölkerung für politische Zwecke erzeugen soll. Dies sind in rechtlicher Bewertung Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder gewöhnliche Verbrechen nach innerstaatlichem Recht.

  1. Kriegerische Gewalt ist nicht länger nur “Krieg”

“Krieg” wird empirisch unterschiedlich beschrieben, rechtlich jedoch eindeutig als der “Rechtszustand, der es zwei oder mehr feindlichen Gruppen gleichermaßen zuläßt, einen Konflikt mit Waffengewalt auszutragen” (O. Wright). Seit 1648 wurden Kriege mehrheitlich von Staaten als Subjekten des Völkerrechts nach anerkannten Regeln für den Beginn, die Führung und die Beendigung von Kampfhandlungen ausgetragen, die Krieg zeitlich, geografisch und den Wirkungen nach begrenzen. Nach dem Ende der Ost-West-Auseinandersetzung im “Kalten Krieg” vollzieht sich gewaltförmiges Handeln aber mehr und mehr auf einem Niveau unterhalb von herkömmlichen Kriegen und zwischen anderen Akteuren als Staaten mit mehr oder weniger stark ausgeprägten terroristischen Elementen. Diese Konflikte werden als “neue Kriege”, “privatisierte Gewalt” oder ähnlich bezeichnet. Sie sind nicht mehr mit den klassischen Regeln des Völkerrechts fassbar. Sie werden geführt von privaten Gewaltherrschern alleine oder zusammen mit Resten staatlicher Herrschaft. Folgen daraus sind der Abbau von staatlichen Gewaltmonopolen, der Zerfall von Staaten und der Aufbau von Gewaltökonomien, die sich ausschließlich an der Sicherung von Profit durch Gewalt orientieren.

  1. “Krieg gegen den Terrorismus” – eine untaugliche und zugleich gefährliche Parole

“Krieg” ist begrifflich nicht mit “Terror” gleichzusetzen[8]. Die Formel “Krieg gegen den Terrorismus” ist in sich widersprüchlich, weil sie “Krieg” als völkerrechtlich gefassten Begriff zu einem begrenzbaren Sachverhalt auf den bisher völkerrechtlich nicht geregelten und zudem der Sache nach nicht eingrenzbaren Sachverhalt von Terror und Terrorismus anwendet. Gewalt in einem “Krieg gegen Terror und Terrorismus” könnte in Anwendung eines entgrenzten Verständnisses von “Krieg” deshalb zeitlich und geografisch ohne rechtliche oder völkerrechtliche Schranken ausgeübt werden. “Krieg gegen den Terror” verfolgt andere Ziele und Strategien als herkömmliche Kriege. Die USA als die globale Hegemonialmacht hat in der National Security Strategy (NSS) vom September 2002 zum Ausdruck gebracht, dass sie ihre Sicht der Weltordnung gegen Terrorgruppen und die “Schurkenstaaten” der “Achse des Bösen” mit “antizipierenden Aktionen der Selbstverteidigung” gegen geltendes Völkerrecht durchzusetzen bereit ist.

  1. Alte Formeln zur Ächtung von “Krieg” sind revisonsbedürftig

Die Amsterdamer Formel des ÖRK aus dem Jahre 1948 “Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein” reicht nicht mehr aus, um kriegerische Gewalt friedensethisch zu ächten, weil sich der Kontext der Anwendung von Waffen seither grundlegend geändert hat und die Erklärung von Amsterdam nur noch einen Teil der Fälle von kriegerischer Gewalt abdeckt. Zu ächten sind auch die neuen Formen friedensethisch unzulässiger Gewalt. Zusätzlich ist erforderlich, Brüche und systematische Lücken in der Friedensethik auch im evangelischen Bereich (z.B. hinsichtlich der Figur der “ultima ratio” und der “humanitären Interventionen”) zu beseitigen.

  1. Das völkerrechtliche Friedenssicherungssystem droht zu zerfallen

Das völkerrechtliche Friedenssicherungssystem der Charta der Vereinten Nationen droht zu zerfallen, wenn – wie im Falle des Angriffskrieges gegen den Irak im Rahmen eines “preemptive war” auf der Grundlage der neuen National Security Strategy (NSS) vom September 2002 – das individuelle oder kollektive staatliche Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der VN-Charta unilateral und entgegen seinem ursprünglichen Sinn und Ausnahmecharakter in Anspruch genommen wird. Das herkömmliche Verständnis der “Selbstverteidigung” geht von der Gefahr eines Aggressors aus, der fremdes Gebiet erobern will. Terroristen verfolgen keine territorialen Ziele. “Selbstverteidigung” unterstellte bisher auch, dass Angreifer und Angegriffene Staaten sind. “Selbstverteidigung” nach neuerem Verständnis scheint sich gegen solche Parteien als “Feinde” zu richten, die Terroristen beherbergen oder schützen, welche Angriffe auf das Eigentum oder die Bürger anderer Staaten unternehmen wollen. Diese Erweiterung des Selbstverteidigungsrechtes begünstigt es, auch willkürliche militärische Interventionen zu rechtfertigen. Dies kann zu Kriegen führen, die von den Konfliktparteien jeweils einseitig gerechtfertigt und damit als “gerecht” erklärt werden. Das wäre die Wiederkehr des bellum iustum et utrarque. Hinzuarbeiten ist statt dessen auf die völkerrechtliche Mandatierung der Vereinten Nationen mit einem internationalen Gewaltmonopol, das das internationale Gewaltverbot des Artikels 2 Absatz 4 der Charta VN materialisiert und eine “Selbstverteidigung” tendenziell erübrigt. Schon die privat gerechtfertigte Gewalt des Mittelalters ist in der Entwicklung des Staats- und Verfassungsrechtes im alten Europa der Neuzeit durch das staatliche Gewaltmonopol ersetzt worden, eine epochale kulturhistorische Leistung.

Die Ausweitung des “Selbstverteidigungsrechtes” durch die USA wird weltweit als unilaterales Handeln wahrgenommen. Die Art und Weise, wie die coalition of the willing gegen den Irak durch die Schwächung der auf Multilateralität angewiesenen UN zustande gekommen ist und wie sie agiert, demonstriert den “ausgesprochen amerikanischen Internationalismus, der unsere (sc. der USA) Wertegemeinschaft und unsere nationalen Interessen wiederspiegelt” (NSS). Andere Beispiele dafür sind der Internationale Strafgerichtshof und der Umweltschutz (Kyoto-Protokoll). Der europäisch-amerikanische Dialog über das Verständnis von Unilateralität und Multilateralität bleibt beiderseits eine herausragende Aufgabe von Gesellschaft und Politik.

  1. Der Kampf gegen Terror und “Terrorismus” bedroht Menschen- und Bürgerrechte

Der nichtmilitärische und der militärische Kampf gegen Terror und Terrorismus bedroht Menschen- und Bürgerrechte in substanzieller Weise. Die Unbestimmtheit des Begriffes “Terrorismus” führt z. B. direkt zu einem Bruch des Kriegsvölkerrechts im Falle der Personen, die als “feindliche Kombattanten” der gegnerischen Seite im Camp Delta auf Guantanamo/Kuba festgehalten werden. Camp Delta ist ein rechtsfreier Raum außerhalb jeder zivilen staatlichen Gewalt, wo Menschen ohne zeitliche Beschränkung und ohne Möglichkeit der Anrufung eines Gerichtes zu rechtlosen Körpern degradiert werden. Die Balance zwischen nationalen Sicherheitsinteressen und demokratischen Rechten wird beschädigt, indem westliche Demokratien auch in Europa entgegen ihren eigenen Werten und Grundsätzen bürgerliche Freiheiten wie das Recht auf Meinungsäußerung, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie die unabhängige Rechtsprechung einschränken.

  1. Die Sicherheitspolitik der EU lässt Missbrauch zu

Die multilateral angelegte europäische Sicherheitspolitik auf der Grundlage der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) vom 13.12.2003 lässt eine klare Priorität für die zivile Bekämpfung von Terror vermissen und will die EU auch gegen diesen militärisch aufrüsten. Sie hält gegen die “zunehmende strategische Bedrohung” durch Terrorismus eine “Strategiekultur” für nötig, die “ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen” auch mit militärischen Maßnahmen “fördert”. Diese Formulierung nähert sich der Position der National Security Strategy an und schließt die missbräuchliche Nutzung militärischer Gewalt, auch im Sinne eines preemptive war, nicht aus. Der erweiterte Begriff von Sicherheit, der der ESS zu Grunde liegt, ermöglicht diese Ambivalenz. Das Verständnis von Sicherheit in der ESS räumt dem Militär zwar konzeptionell keinen Vorrang ein, verhindert aber nicht, dass das Militär hinsichtlich der Ressourcen die zivile Krisenprävention, Konfliktbeilegung und Friedenskonsolidierung dominiert. Voraussetzung für eine Umkehr der Prioriäten ist die breite Akzeptanz eines zivil und gewaltfrei orientierten Verständnisses von Sicherheit, etwa nach dem Ansatz der “Human Security” der UN, der die komplexen Bedrohungen von Sicherheit durch ökologische Katastrophen, sozioökonomische Verwerfungen und die Erosion von demokratischen und menschenrechtlichen Normen in den Vordergrund rückt und die menschliche Sicherheit durch Entwicklung, Recht und demokratische Partizipation fördert. Nötig ist auf europäischer und nationaler Ebene auch die entschiedene Umkehrung der Ressourcenverteilung: Substanziell mehr Mittel für nicht – militärische Anstrengungen zur Bekämpfung des Terrorismus im Rahmen von Krisenprävention und ziviler Konfliktbearbeitung. Zu kritisieren ist insbesondere die beabsichtigte Einführung eines “Europäischen Amtes für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten” (Artikel 40/3 des Entwurfes einer Europäischen Verfassung) ohne die gegenläufige Förderung von Verfahren und Strukturen zur Stärkung der zivilen Kapazitäten, wie dies etwa in einem von NGOs geforderten “Europäischen Amt für Peacebuilding, Forschung und zivile Fähigkeiten” geschehen könnte.

  1. Der Umbau der Bundeswehr zu einer “Einsatzarmee” auch gegen Terrorismus stellt das Friedensgebot des Grundgesetzes in Frage

Die Bundeswehr wird nach Maßgabe der Verteidigungspolitischen Richtlinien vom 21.5.2003 in der Perspektive des neuen Europäischen Sicherheitssystems angesichts der neuartigen Bedrohungen als Einsatzarmee auch gegen Terrorismus umgebaut, ohne dass öffentlich die friedenspolitische, verfassungsrechtliche und verteidigungspolitische Problematik im Lichte des Friedensgebotes des Grundgesetzes debattiert wird. Obwohl bekannt ist, dass Militär keinen Frieden erzwingen kann, weil dieser nur politisch gestiftet werden kann, lässt die friedenspolitische Wende auf sich warten. Die verfassungsrechtliche Diskussion hätte bei dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 12.7.1994 zu den out of area-Einsätzen der Bundeswehr anzusetzen, das gestattet, herkömmliche Systeme der “kollektiven Verteidigung” in Systemen der “gegenseitigen kollektiven Sicherheit” aufgehen zu lassen und außer den UN auch die NATO als System der kollektiven Sicherheit nach Artikel 24 Absatz 2 des Grundgesetzes versteht. Grenzen zwischen dem militärischen Einsatz einerseits und dem “zivilen” Einsatz für humanitäre und Katastrophenhilfe andererseits zerfließen, wie sich am Beispiel des gemischten “Zivil-militärischen Wiederaufbauteams” im afghanischen Kundus zeigt. Solche Maßnahmen dienen letztlich dem Ziel der force protection, also der Gewinnung von Akzeptanz für das Militär vor Ort und damit der Erleichterung militärischen Handelns. Das kritisieren insbesondere die kirchlichen Hilfswerke Caritas und Diakonisches Werk.

                  

[1] Vgl. u.a. “Glaube hat eine Wahl” (Landessynode 1993), Kundgebung “Aufstehen für Frieden und Gerechtigkeit” der Landessynode 2003, Bericht des Präses der EKiR zur Landessynode 2004, Teil III, insbesondere Teil III 1

[2] Vgl. Frank Crüsemann, Religion und Gewalt in der Bibel, in: Michael Klessmann und Jochen Motte, Gewalt erkennen – Gewalt überwinden. Beiträge zu einem Symposium der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und der Vereinten Evangelischen Mission, Foedus Verlag, 2002

[3] Vgl. Gerhard Liedke, Die Fragestellung, Einleitung zum Projekt “Eschatologie und Frieden”, in: Eschatologie und Frieden, FEST, Heidelberg, 1978, S. 1 ff.

[4] vgl. Geiko Müller-Fahrenholz, In göttlicher Mission. Politik im Namen des Herrn – Warum George W. Bush die Welt erlösen will”, Knaur, 2003

[5] vgl. u.a. Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Friedensethik in der Bewährung. Eine Zwischenbilanz zu: Schritte auf dem Weg des Friedens. Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik, 2001;

Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Gerechter Friede, 2000

[6] Ausführlicher: Ulrich Frey, Themen und mögliche Gliederung einer Schrift zur aktualisierten friedensethischen Position von Kirchen, Oekumenischer Informationsdienst Nr. 73, III. Quartal 2003, S. 10 ff.

[7] Vgl.: International Council on Human Rights, Menschenrechte nach dem 11. September 2001, Deutsches Institut für Menschenrechte, 2003

[8] Selbst Gruppen der Friedensbewegung identifizieren “Krieg” mit “Terror”, z.B. in dem Titel des Aufrufes “Krieg ist Terror” zum internationalen Aktionstag der Friedensbewegung am 20.3.2004 für Frieden, atomare Abrüstung und globale Gerechtigkeit.