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Eine andere Welt ist möglich

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Von Horst-Eberhard Richter

(Der Artikel erschien in der Ausgabe 05/02 von „Psychologie heute“ und wurde uns vom Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt.)

Der 11. September, das jüngste Attentat in Moskau und die blutige Gewalt in Israel/Palästina haben eine gemeinsame Wahrheit aufgedeckt, nämlich eine Gegenseitigkeit unseres Zusammenlebens, von der keine einseitige Überlegenheit an Machtmitteln befreit. 

Auch der Mächtigste bleibt mit einem Rest Ohnmacht an einen Rest Macht des Ohnmächtigsten gefesselt. Unterdrückung, Erniedrigung, kulturelle Missachtung können diese Verbundenheit nicht aufheben, aber in eine destruktive Entfremdung und in eine Verkettung von Gewalt verwandeln. An allen drei Orten hat der Terrorismus eine wechselseitige verhängnisvolle Verstrickung von Herrschaft und Ohnmacht, von Demütigung und Rache als Ausdruck einer gescheiterten, dennoch unauflöslichen An-einander-Gebundenheit offenbart. 

Kein anderer hat diesen Zusammenhang prägnanter formuliert als der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber in einem Brief an seinen Präsidenten Bush in dem Satz: „Der Terrorismus ist nur die negative und verzerrte Form der wechselseitigen Abhängigkeit, die wir in der positiven und nützlichen Form nicht anzuerkennen bereit sind.“

Dieser Satz ist leicht verständlich, trotzdem geht er nur sehr schwer ein, weil er an einem in unserer Kultur fest eingewurzelten Denkmuster rüttelt. In unserem System sind die konkurrierenden Machtegoismen auf das Ziel ausgerichtet, sich durch die Eroberung eines siegreichen Vorsprunges von einengenden Gebundenheiten zu befreien, die bei den Schwächeren und den Verlierern verbleiben sollen. Unter diesem Aspekt handelt dann der Besitzer eines überlegenen Machtpotentials nur konsequent, wenn er sich zu der Unfairness verleiten lässt, seine Befriedigungen nicht länger an den von John Rawls definierten Prinzipien der Gerechtigkeit auszurichten, sondern wenn er seiner      egoistischen Willkür freien Lauf lässt. Er verwechselt dann beispielsweise seine Übermacht mit der Freiheit, sich nach Belieben gemeinsamen Regelungen zum Schutz des Klimas, zur Ahndung von Kriegs- und Menschenrechtsverletzungen und zur Kontrolle von Biowaffen zu entziehen, – womit er allerdings nicht nur gegen die guten Sitten verstößt, sondern Bindungskräfte missachtet, von deren Funktionieren sein eigenes langfristiges Wohl abhängt.

Wir leben in Wahrheit nicht in einer ungebundenen Vereinzelung als Individuen oder als abgesonderte Einheiten nebeneinander, so sehr sich dieses Denken auch seit der Renaissance immer mehr verfestigt hat. Sondern wir sind primär von Geburt an miteinander vernetzt. Unsere Existenz ist auf Gegenseitigkeit festgelegt. Die psychologische Erfahrung dieser Gebundenheit liegt im Mitfühlen, mit dem wir auf die Welt kommen und das uns die Verantwortung füreinander klarmacht. Das Mitfühlen belehrt uns, wie Schopenhauer gezeigt hat, über die Maßstäbe von Gerechtigkeit, auf deren Achtung wiederum ein wohlgeordnetes Zusammenleben beruht. Dies ist das Fundament, das derjenige erschüttert, der seinen Machtvorsprung zum Versuch missbraucht, die Gegenseitigkeit zu negieren und sich nach Belieben von den Schwächeren abzukoppeln.

Die Versuchung liegt nun nahe, solche Kurzsichtigkeit nur bei den Amerikanern zu entdecken und zu kritisieren. Aber wäre solcher Missbrauch von Macht nur deren Problem, erhöbe sich dagegen längst ein viel vehementerer Proteststurm als die gedämpfte Kritik der internationalen Gemeinschaft. So aber spricht alles dafür, dass man bei den Amerikanern nur wahrnimmt, was man selbst gern täte, wäre man dazu nur stark genug. Ein Hauptantrieb unserer Kultur ist nun einmal ein seit der Renaissance immer stärker hervortretender Bemächtigungswille, der laufend weniger die Grenzen respektiert, die unser wechselseitiges Aufeinander-Angewiesensein und das Angewiesensein auf einen Einklang mit der Natur uns vorschreiben. Es ist eine Egomanie, eine Flucht aus der einstigen Gottergebenheit in einen Machtwahn, der an die Machbarkeit einer Art von Selbstvergöttlichung glaubt und sich weitgehend unempfindlich für die Risiken macht, die etwa mit den Unverantwortlichkeiten der Atomrüstung und der Naturvergewaltigung verbunden sind.

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Sigmund Freud erkannte bereits in seiner berühmten Schrift von 1930 „Das Unbehagen in der Kultur“, dass solche horrenden Risiken nahegerückt waren. Aber er war sich nicht darüber im klaren, dass sein eigenes Menschenbild bereits genau das Dilemma enthielt, das die Gefahr heraufbeschwor. So schrieb er, man arbeite mit Allen am Glück Aller, wenn man als Mitglied der Gemeinschaft mit Hilfe der von der Wissenschaft geleiteten Technik zum Angriff auf die Natur übergehe und diese dem menschlichen Willen unterwerfe. Die erobernde Kulturarbeit sei allerdings Sache der Männer, und diese müssten ihre dafür nötige Energie vor den Frauen schützen, die weniger sublimieren könnten und einseitig die Interessen der Familie und des Sexuallebens verträten. Aber wohin führt es, wenn die Männer ihren in der Technik investierten Eroberungswillen unbedrängt ausleben? Freuds verwirrende Antwort in den letzten Sätzen dieses Buches lautet:

„Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Nun ist zu erwarten, dass die andere der beiden ‚himmlischen Mächte’, der ewige Eros eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten.“

Das klingt sehr schön, aber nachdem Freud gerade 40 Seiten vorher den irdischen Eros als Mittel der Frauen beschuldigt hat, die Männer von ihrer Kulturarbeit abzuhalten, gesteht er am Ende nur seine Ratlosigkeit.

Hätte er inzwischen nicht umgedacht, müsste er heute noch ratloser sein. Denn die Mittel, die eigene Gattung vollständig auszurotten, sind bekanntlich inzwischen noch sehr viel grausamer geworden und liegen in Hülle und Fülle bereit. Aber die Völker haben sich daran gewöhnt. Nach dem an den Juden verübten Genozid und der Niederwerfung Hitlers haben viele geglaubt und glauben es noch heute, mit dem Naziregime sei das Ur-Böse ein für allemal exorzistisch ausgetrieben. Tatsächlich steht der Holocaust als einzigartiges und unvergleichbares geschichtliches Verbrechen vor unseren Augen. Aber die tausendfache Vergegenwärtigung des Sieges über den verbrecherischen Nazistaat kann auch zur Ablenkung von der durch Freud benannten Gefahr der vollständigen Selbstauslöschung der menschlichen Gattung benutzt werden.

Wie nahe diese Gefahr während des Kalten Krieges gerückt war, hat im Nachhinein der Ex-Oberkommandierende der US-Nuklearstreitkräfte General Butler bestätigt – durch das Geständnis, ein „nuklearer Holocaust“ sei wohl eher durch göttliche Fügung als durch menschliche Vorsicht vermieden worden. Eine einzige voreilig abgefeuerte Rakete im Kubakonflikt 1962 hätte zum Tod von Hunderten von Millionen führen können.

Später hatte sich der atomare Rüstungswettlauf noch beschleunigt. 1980 klagte Samuel Pisar, ein Ausschwitz-Überlebender: „Es ist, als ob ein Ausschwitz-Fieber die Menschheit befallen hätte und sie direkt in den Abgrund treibt. Eine Ausschwitz-Ideologie durch Aushöhlung des wichtigsten Grundrechts, des Rechts auf Leben.“

Wenn General Butler von nuklearem Holocaust und Pisar von Auschwitz-Fieber sprachen, so dachten sie bei der Verschiebung von Namen, die eindeutig auf den Völkermord an den Juden bezogen sind, gewiss nicht daran, die Shoah zu relativieren. Vielmehr ging es ihnen darum, jene andere Verdrängung zu verhüten, nämlich die des Risikos der totalen gemeinsamen Selbstvernichtung der Gattung Mensch.

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Diese Warnung scheint nach wie vor allzu berechtigt. Die Erzeugung und Modernisierung von Massenvernichtungsmitteln hat sich fortgesetzt, ungeachtet des Drängens von Gorbatschow, der bis zum Jahre 2000 die Nuklearwaffen vollständig beseitigt sehen wollte. Sein Vorschlag, die gegenseitige tödliche Bedrohung durch eine Humanisierung der internationalen Beziehungen zu ersetzen und einen Frieden auf vertrauenschaffende Maßnahmen und eine kontrollierte gemeinsame Sicherheit aufzubauen, wurde verworfen.

Nur eine sehr kurze Weile war das Bewusstsein erwacht, einem nuklearen Inferno gerade noch entronnen zu sein. Einen Moment lang stand Gorbatschow als Erlöser da, der die Wortführer des tödlichen Rüstungswettlaufs mit seinem Humanismus beschämte. Bald aber benutzte der Westen die friedliche Revolution im östlichen Lager, Gorbatschow unumwunden zum Besiegten zu erklären. Man habe ihn schlicht totgerüstet, was immer er am Rande an schöner Versöhnungslyrik beigesteuert habe.

Was ist es, das die Menschen anscheinend dazu nötigt, trotz gegenteiliger Erfahrungen lediglich an den Triumph des Machtwillens zu glauben, welche Risiken damit auch immer verbunden sind? Wohl weil dieser Wille als gar nicht mehr kritisch reflektierter Hauptantrieb unserer Kultur wirksam ist. Demzufolge hat die einzige verbliebene Hegemonialmacht sich konsequent auf den Weg gemacht, sich einen uneinholbaren Vorsprung an Bedrohungspotential zu verschaffen, aus der Illusion heraus, sich damit und mit einem Raketenschutzschild unverletzbar und frei von allen Abhängigkeiten machen zu können.

Der 11.September bot – wie seinerzeit die Errettung vom Kalten Krieg – noch einmal eine Chance zur kritischen Umbesinnung. Viele in aller Welt spürten momentan im Entsetzen und Mittrauern ihre globale Zusammengehörigkeit. Im Westen strömten Scharen in die Kirchen, um hier gemeinschaftlich ihr Mitfühlen auszudrücken und persönlich Trost zu suchen. Hier und da meldete sich wohl auch die heimliche Sorge, ob es vielleicht kein Zufall sei, dass ausgerechnet die grandiosesten Herrschaftsburgen wirtschaftlicher und militärischer Macht des Westens getroffen worden waren. Einigen wenigen mag sogar die Warnung des Blaise Pascal aus dem 17. Jahrhundert eingefallen sein: „Wir verbrennen vor Sehnsucht, einen festen Ort und ein endgültiges Fundament zu finden, um einen Turm darauf zu bauen, der sich bis ins Unendliche erhebt; aber alle unsere Fundamente bersten, und die Erde tut ihre Abgründe auf.“

Unmittelbar nach dem 11. September unterschrieb eine beträchtliche Zahl amerikanischer und kanadischer Psychologen und Sozialwissenschaftler einen Brief an Präsident Bush, er möge die Täter und die mitverschworenen Verantwortlichen nach Recht und Gesetz verfolgen und bestrafen lassen, aber keinen Rachekrieg entfachen, der viele Unschuldigen treffen und im übrigen eine Erniedrigung auf das primitive Niveau der selbst erlittenen Brutalität bedeuten würde.

Genau das Befürchtete ist jedoch geschehen, nämlich der Aufbruch zu einem Dauerkrieg, mit dem dieser Tage sogar ein Land bedroht wird, das weder mit dem Terror des 11. September noch    überhaupt mit dem islamistischen Terrorismus etwas zu tun hat. Die Sorge ist zu spüren, dass Saddam Hussein durch Befolgung der UNO-Auflagen den militärischen Angriff noch erschweren könnte. Ganz ungelegen kam offenbar die Aufdeckung des Atomwaffen-Programms Nordkoreas, während für ein solches im Irak ein Beweis erst noch gesucht wird. Schließlich ist die Diktatur Nordkoreas um keinen Deut menschlicher als die Saddam Husseins. Aber vielleicht wird Nordkorea ja auch nur eine Atempause gegönnt, bis der Irak erledigt ist. Genau betrachtet, ist es ja wohl überhaupt gar nicht primär die Angst vor immer neuen Bedrohungen, die inzwischen zu einer Art Dauerkrieg motiviert. Anscheinend ist das Böse am Ende sogar notwendig, um das militärische Engagement vor Arbeitslosigkeit zu bewahren. Richard Rorty, der renommierte amerikanische Philosoph, erkennt in seinem Land ein offenkundiges Interesse der Republikaner daran, die Nation so lange als möglich im Kriege zu halten, um die Wiederwahl von Präsident Bush 2004 wahrscheinlicher zu machen. Wörtlich: „In ihrem Interesse liegt die permanente Militarisierung des Staates, wie sie Orwell in 1984 beschrieben hat.“ Denn jede kriegerische Verwicklung erlaube es, alle Formen normaler Opposition als Mangel an Patriotismus niederzumachen. In der Tat genießt der Präsident in seinem Land fast uneingeschränkte Beliebtheit, seitdem er alles, was sich unter den Begriffen des Terrorismus und des Bösen subsummieren lässt, militärisch angreift oder bedroht. Damit demonstriert er Tatkraft. Hinter sich hat er, wie Kurt Vonnegut sagt, eine „geistige Einheitsfront“. Aber was ist das eigentlich für ein Geist, der die Amerikaner in dieser Weise befeuert und an dem die Europäer nur zögernd herumzumäkeln wagen?

Hier bietet sich nun doch wieder ein Brückenschlag zu den zitierten Gedanken Freuds über die Spaltung von psychologischer Männlichkeit und Weiblichkeit an. Männlich gleich sublimierter Bemächtigungswille, weiblich gleich verhaftet sein in Bindungsgefühlen, in erotischen und familiären Interessen. – Auf welcher geistigen Entwicklungsstufe stellt sich der männliche Kriegsgeist dar, der Tatkraft vorzeigen muss, um Begeisterung zu entfachen? Für Vonnegut ist Bush ein Cowboy-Spieler. Von Außenminister Powell heißt es, er habe seinen französischen Amtskollegen, weil dieser unlängst von einem Irakkrieg abriet, als schwächlich und weibisch verspottet. Kriegskritiker der Demokratischen Partei wurden und werden als weichliche Europhile eingeschüchtert, was manche von diesen im Wahlkampf hinderte, sich mit ihrer echten Überzeugung zu outen. Schwächlich, weibisch, weichlich seien die Friedensaktivisten, eine auch hierzulande wohlbekannte Diffamierungsrhetorik – eine Waffe, die sich aber bequem auch gegen ihre Benutzer wenden lässt. Denn allzu deutlich klingt die Erinnerung an das kraftmeierische Gebaren unsicherer pubertierender Jugendlicher an, die ihre Potenzzweifel überkompensieren.

Oder wäre es tatsächlich ein Männlichkeitsdefizit, vor den Massen potentieller ziviler Opfer zurückzuscheuen, die ein vom Zaun gebrochener Irak-Krieg kosten würde? Müsste sich ein Willy Brandt noch nachträglich als unmännlich dafür schämen, dass ihm ausdrücklich an einer Politik der Compassion, also des Mitfühlens, gelegen war? Ist Nelson Mandela ein weibisches Weichei, weil er darauf verzichtet hat, die Gräuel der Apartheid mit einem blutigen Bürgerkrieg zu vergelten? Allein diese Beispiele zeugen von der Unreife und von der gleichzeitigen Gefährlichkeit einer Männlichkeits-Ideologie, die sich zum Selbstbeweis an Kriegsabenteuern berauscht – und dies in einer Zeit, da aus traumatischer Erniedrigung, kultureller Missachtung, ökonomischer Unterdrückung Gewaltpotentiale herauswachsen, die eben durch keine Ausrottungs- oder Überwachungsstrategie zu verhindern sind, wie sich in Israel/Palästina, wie sich am 11. September und kürzlich in Moskau gezeigt hat. Kein „Ministerium für Homeland Security“, keine noch so drastische Verschärfung polizeilicher Überwachung und strafrechtlicher Verfolgung ermöglichen außer einer täuschenden suggestiven Beschwichtigung eine echte Sicherheitsgarantie, schreibt Rorty.

Wenn nun führende Politiker wie Powell selbst darauf kommen, im Streit über eine kriegerische  oder kriegsverhütende Strategie psychologischen Hintergründen wichtige Bedeutung beizulegen, so muss es erlaubt sein, auch auf dieser Ebene nach Chancen Ausschau zu halten, kritische Besinnungsprozesse zu unterstützen sofern sich solche überhaupt bemerkbar machen.

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Die Psychoanalyse richtet bekanntlich ihr Augenmerk regelmäßig darauf, ob und wie Vergangenheit verarbeitet wird. Wann, wo und wie ist z.B. ein Scheitern verdrängt, verleugnet oder sonstwie fehlverarbeitet worden und verstellt dadurch einen konstruktiven Umgang mit aktuellen Problemen? In dieser Hinsicht unterscheidet sich die nationale Biographie der Amerikaner zum Beispiel grundsätzlich von derjenigen der deutschen. Die Deutschen haben durch zwei angezettelte Weltkriege und die Nazi-Verbrechen Schrecken über die Welt gebracht, was sie nötigt, an der schmachvollen Erinnerung immer noch zu arbeiten. Auch die Amerikaner haben sich belastet, u.a. mit den über 200.000 Opfern in Hiroshima und mit Vietnam, wo das von ihnen versprühte Dioxin der Menge nach ausgereicht hätte, die gesamte Menschheit zu vergiften. Aber Hiroshima war und ist für sie nach wie vor eine ruhmeswürdige Kriegstat, und Vietnam verbuchen sie inzwischen ebenfalls in selbstbewusster Robustheit als Heldenstück. So konnte Bundeskanzler Schröder mit seinem Votum gegen einen Irak-Krieg die gewissensbelasteten deutschen Wähler gewinnen, während Präsident Bush genau umgekehrt mit entschlossenem Kriegsgeist das eigene Wählervolk hinter sich versammeln konnte.

Aber das heißt nicht etwa, dass die Deutschen moralischer als die Amerikaner wären. Diesen bedeutet Religion immer noch sehr viel – so viel, dass sie mehrheitlich über einen Präsidenten glücklich sind, der sich, wie die New York Times aus dessen Umgebung erfahren haben will, persönlich einer himmlischen Berufung zu seinem Feldzug gegen das Böse erkoren glaubt. In der amerikanischen Seele wohnt durchaus ein tiefes Bedürfnis nach moralischer Integrität, die vorläufig allerdings noch mit dem heiligen Kriegsfuror in Einklang zu stehen scheint. Aber niemand weiß, wie lange noch und wie es wird, wenn von außen noch mehr Skepsis und Entsetzen eindringen als jetzt schon und wenn unzensierte Bilder von Massenopfern der Zensur entgehen sollten. Als unmittelbar nach dem Vietnamkrieg die Verdrängung noch nicht funktionierte, hatten die Amerikaner in dem frommen Jimmy Carter einen Läuterungshelfer als Präsidenten gewählt. Just in diesem Moment wird ihnen genau dieser Expräsident und Irak-Kriegsgegner als Friedens-Nobelpreisträger vorgeführt – wie als eine warnende Botschaft. Wie weit die momentane Selbstgerechtigkeit noch trägt, ist durchaus unsicher.

Jedenfalls können sich die Europäer nur blamieren, wenn sie sich einreden oder einreden lassen, gebotener Anstand liegen in willfähriger militärischer Solidarität anstatt in beherzter Gehorsamsverweigerung. Es ist ein Freundschaftsdienst, die Amerikaner noch beizeiten davor zu warnen, sich nicht nur politisch, sondern auch moralisch zu isolieren. Kanzler Schröder tat jedenfalls recht daran, seinen Freunden jenseits des Atlantiks kundzutun, dass einer Mehrheit der Deutschen ein Irak-Krieg ungerechtfertigt scheint, solange Saddam Hussein die Fertigung oder Hortung von verbotenen Waffen ebenso wenig nachgewiesen werden kann wie eine Verbindung zum Al Quaida Terrorismus. Der Kanzler muss sich für diese aus der schmachvollen deutschen Geschichte erwachsene kritische Sensibilität nicht schämen. Er müsste sich schämen, würde er zugunsten falscher Autoritätsergebenheit seine Überzeugung und die der Mehrzahl seiner Wähler verraten.

Aus dem Irak-Krieg kann, wie Rorty schreibt, leicht ein unendlicher Krieg werden, falls nämlich das Böse dauerhaft gebraucht wird, um im Siegen den inneren Zusammenhalt und eine grandiose Selbstachtung zu sichern. Aber dann droht ein Sich-kaputt-Siegen, weil bei den Verlierern, den Gekränkten und Gedemütigten niemals die terroristische Gegengewalt ausgerottet werden kann, wie sich in Israel/Palästina und in Tschetschenien zeigt. Das Siegen benötigt immer rücksichtslosere Gewalt und erschwert zunehmend die Selbstrechtfertigung. Schon jetzt belastet es das Weltgewissen, wenn die vermeintlich gerechten Bomben und Raketen arme ausgeblutete Länder wie Afghanistan, Palästina und den Irak heimsuchen. Immer mehr Mühe kostet es, die eigenen Militärschläge als Abwehr oder Verhütung gewaltiger feindlicher Bedrohungen zu verteidigen. Das High-Noon-Szenario büßt zunehmend an Glaubwürdigkeit ein, wenn aus der Übermacht heraus das Siegen eher in der Form des Hinrichtens oder des Abschlachtens geschieht. Da ist es dann mit dem Nimbus des Heroischen zu Ende.

Das blutige Gemetzel in Israel/Palästina demonstriert beispielhaft, wie es dem Westen ergehen könnte, würde er keine vernünftige Lehre aus diesem Drama ziehen. Dort war der Terrorismus für drei Jahre fast erloschen, als die Verabredungen von Oslo die Palästinenser hoffen ließen, bald in einem eigenen Staat unter Einfluss der freigegebenen besetzten Gebiete ebenbürtig neben den Israelis leben zu können. Erst als nach der Ermordung von Itzhak Rabin die Hoffnung schwand, entflammte die neue Intifada und überzog beide Seiten mit weiterer Zerstörung und weiterem furchtbaren Leiden.

Zu wünschen wäre, dass man beiderseits in dem jeweils erfahrenen und verursachten Leiden einen gemeinsamen Feind erkennen könnte, der zu bekämpfen ist, so wie am Ende des Kalten Krieges der atomare Rüstungswahn als gemeinsame Bedrohung begriffen wurde. Im Schatten der Atombombe müssten alle Menschen sich als Geschwister erkennen, sagte Einstein. Erdbeben oder gewaltige Überschwemmungen können das gleiche Erleben von grenzenloser Zusammengehörigkeit stiften, plötzlich wird das Bewusstsein von gemeinsamer Verantwortung wach. Die Bilder des Leidens in überschwemmten Dörfern und Städten mobilisieren Ströme von Helferinnen und Helfern über große Entfernungen hinweg. Halb verschüttete Ressourcen des Mitfühlens und der Bereitschaft zu Engagement kommen wieder ans Licht. In solchen Episoden dämmert es, dass der Aufbruch zu praktischer Solidarität keine infantile, weichliche oder unmännliche Anfälligkeit ist, sondern schlicht die Beherzigung der Gegebenheit unseres wechselseitigen Aufeinander-Angewiesen-Seins. Aber wo und wie können solche Einsichten und Impulse gefördert und nachhaltig gesellschaftlich wirksam gemacht werden?

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Klar scheint, dass die großen Institutionen von Politik und Wirtschaft und die Parteizentralen kaum die rechten Orte sind, wo grundlegende kreative Ideen und neue Handlungsansätze wachsen können. Hier bewegt sich das Denken in zu engen Spielräumen, und in den Strukturen bilden sich genau die egomanischen Machtprinzipien ab, die eine Globalisierung von Gegenseitigkeit und Solidarität verhindern, was u.a. zu der Absurdität führt, dass in hohen und höchsten Etagen der internationalen Institutionen manche Verantwortliche sitzen, die sich eben durch solche strukturellen Zwänge gehindert fühlen, grundlegende dringende Veränderungen in Gang zu setzen.

Also scheint es nur logisch, dass sich in den letzten Jahren, zunächst fast unbemerkt, spontan Werkstätten gebildet haben, wo darüber nachgedacht wird, wie eine menschlichere Globalisierung an Stelle derjenigen aussehen kann, die im Augenblick die Kluft zwischen reich und arm wie zwischen mächtig und ohnmächtig noch laufend erweitert. Ich meine die globalisierungskritische Bewegung, in der die Formation von attac in Europa eine herausragende Rolle spielt. Für attac ist es zuerst einmal wesentlich, dass man sich gar nicht erst auf eine Sichtweise einlässt, die momentan eine rasante Militarisierung der internationalen Politik zur Ausrottung des Bösen plausibel macht, die also bereits eine Spaltung der Welt voraussetzt und diese weiter vertieft. Attac denkt vielmehr von den Menschen aus, die ebenbürtig und gleichberechtigt zusammenleben und sich nicht auseinanderreißen lassen wollen durch machtgesteuerte Interessen von imperialer Politik, von Konzernen und verwilderten Finanzmärkten.

Attac ist also primär eine Pro- und weniger eine Anti-Bewegung. Deshalb regiert in ihr, wie trotzig auch immer, die Hoffnung. Das Motto, das sie ihrem Gründungskongress 2001 in Berlin voranstellte, lautete dementsprechend optimistisch: „Eine andere Welt ist möglich!“ Das klingt kühn, fast tollkühn. Gemeint ist das verbindende Ziel aller Einzelreformen, die auf dem Programm stehen, nämlich eine globalisierte Solidarität.

Inzwischen liegt reichlich Literatur über die Einzelprojekte von attac vor, deren Aufzählung sich hier erübrigt. Zu erwähnen ist immerhin, dass sich sehr rasch eine enge Zusammenarbeit von attac mit den schon etablierten Bewegungen zu den Themen Frieden, Öko, Gewerkschaftsrechte, Frauen-Emanzipation, Menschenrechte entwickelt hat, also mit Bewegungen, die mit ihren Schwerpunkten unmittelbar in das Gesamtkonzept von attac hineinragen. Aber was die überwiegend jungen Menschen in großen Scharen zu den Globalisierungskritikern hinzieht, ist das radikal neue Denken, das der vorhandenen und immer mehr beunruhigenden Welt-Unordnung entgegengesetzt wird. In diesen Kreisen ist genau das Bewusstsein lebendig, das kurzzeitig am Ende des Kalten Krieges oder auch einen Moment nach dem 11. September aufleuchtete oder das in manchen Naturkatastrophen kurz aufscheint, – nämlich das Bewusstsein einer Verantwortung für das Ganze. Damit wird die verordnete Spaltung der Welt in Gut und Böse revidiert, aber es wird auch die innere Spaltung aufgehoben zwischen Männlichkeits- und Weiblichkeits-Stereotyp nach Freud. Die Rehabilitierung des Mitfühlens ist das eigentliche Novum, das heißt Anerkennung der emotionalen Bindungskraft, die instinktiv das Engagement für eine gerechtere Welt anfeuert. Es werden also exakt die durch Überkompensation von Potenzängsten diskriminierten sozialen Gefühle frei, über die der aktuelle Kriegsgeist triumphieren zu können glaubt. Zu diesen rehabilitierten Bindungsgefühlen gehört auch eine wie immer eingestandene oder uneingestandene religiöse Komponente, zumindest in der von Albert Schweitzer beschriebenen Form der Ehrfurcht vor dem Leben.

So reagieren auch die Kirchen auf die Globalisierungskritiker mit Signalen der Sympathie. Und vielleicht entwickelt sich da auch noch mehr Nähe. Attac lässt aber spüren und tut sicher auch gut daran, sich weniger an irgendwelche Prominente als Galionsfiguren anzuhängen, noch sich enger an etablierte Institutionen anzulehnen. Die attac-Aktiven wollen sich als Bewegung selber bewegen und offen sein in der weiteren Gestaltung ihrer Arbeit und im Herausfinden ihrer Schwerpunkte. Ihr Unternehmen mag vermessen erscheinen angesichts der erdrückenden Übermacht des herrschenden Systems und dessen gewaltträchtiger Strategien. Aber es gibt auch eine Gegenmacht des Geistes, zumal in einer Phase, da sich der egomanische Herrschaftswille augenscheinlich mit seiner Ausrottungsmentalität übernimmt und jenes Fieber erzeugt, das nach Samuel Pisar direkt in den Abgrund zu treiben droht. Es gab schon einmal eine Zeitenwende, die von ganz unten und von einer sehr kleinen Minderheit eingeleitet wurde.

Prof. Dr. Horst Eberhard Richter, Psychoanalytiker, Buchautor, Leitfigur der Friedensbewegung und seit vielen Jahren Mitglied der Martin-Niemöller-Stiftung