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Die Entwicklung von Bonhoeffers ökumenischer Friedensethik

von Karl Martin

Am 25. Januar 2006 hielt Dr. Karl Martin im Rahmen des Begleitprogramms zur Ausstellung „Frieden braucht Fachkräfte“ auf einer gemeinsamen Veranstaltung von Martin-Niemöller-Stiftung und Dietrich-Bonhoeffer-Verein den hier dokumentierten Vortrag.  

1.         Kurze Erinnerung an Bonhoeffers Biographie in den Jahren zwischen 1929 und 1934

Dietrich Bonhoeffer war ein glänzender Theologe, interessiert, umfassend gebildet, mit einer hohen Reflexionskraft. Bereits während der letzten Semester seines Theologiestudiums in Berlin schreibt er seine Dissertation. Im Dezember 1927 schließt er die Dissertation mit Rigorosum und öffentlicher Disputation ab, im Januar 1928 folgen Erstes Theologisches Examen und Aufnahme in die Kandidatenliste des Konsistoriums. Mit 21 Jahren ist Bonhoeffer fertig studierter und promovierter Theologe. Dass er „sein Lehrvikariat in Spanien absolvieren kann, verdankt er dem für die Berliner Kandidaten zuständigen Superintendenten Diestel. Der ist – und das will für die damalige Zeit etwas heißen – ökumenisch orientiert und hat eine Menge internationaler Kirchenkontakte. Er vermittelt Dietrich [Bonhoeffer] an die deutsche Gemeinde in Barcelona.“[1]

Zu seinen Aufgaben in Barcelona gehören die üblichen Pflichten des Gemeindepfarrdienstes: Predigt, Kindergottesdienst, Seelsorge, Veranstaltungen. Zusätzlich hält Bonhoeffer gelegentlich Vorträge. Berühmt ist sein Vortrag „Grundfragen einer christlichen Ethik“ geworden, weil darin das damals allgemein übliche theologische Denken zum Ausdruck kommt. Bonhoeffer hat zu Beginn seines beruflichen Werdegangs – also noch vor seiner „Wendung“ vom Theologen zum Christen – volkskirchlich-lutherisch-nationalkonservative Positionen vertreten. „Ethik ist Sache des Blutes und Sache der Geschichte“[2] lässt er seine Zuhörer wissen. „Es gibt eine deutsche Ethik und eine französische Ethik wie eine amerikanische Ethik“[3]. Das Spezifische der christlichen Ethik ist, dass sie „den Menschen unmittelbar Gott unterstellt“[4]: „es gilt, sich bei ethischen Entscheidungen unter den Willen Gottes zu stellen, sein Handeln sub specie aeternitatis [im Angesicht der Ewigkeit] zu bedenken und dann mag es laufen, wie es will, es läuft richtig.“[5]

Am 8. Februar 1929 hat Bonhoeffer seinen Barcelona-Vortrag gehalten. Wenige Tage später ist sein Lehrvikariat beendet. Bonhoeffer kehrt nach Berlin zurück. Er wird Assistent für systematische Theologie bei Wilhelm Lütgert und schreibt seine Habilitationsarbeit. Seiner Bitte an das Konsistorium, ihn von der Pflicht zum Besuch eines Predigerseminars zu befreien, wird stattgegeben. Im Juli 1930 absolviert Bonhoeffer das Zweite Theologische Examen. Im gleichen Monat erfolgt seine Habilitation für systematische Theologie mit Probevorlesung und öffentlicher Antrittsvorlesung. Die Ordination in den geistlichen Stand wird vom Konsistorium zurückgestellt, weil Bonhoeffer noch nicht das vorgeschriebene Alter von 25 Jahren hat.

In dieser Situation ist es höchst willkommen, dass Bonhoeffer ein Stipendium für einen einjährigen Studienaufenthalt im Union Theological Seminary zu New York bewilligt wird. Wieder verdankt er Superintendent Diestel die Förderung.[6] Von September 1930 bis Juni 1931 hält sich Bonhoeffer in den USA auf. Er lernt die amerikanische Philosophie des Pragmatismus und Behaviorismus kennen.[7] Die theologische Strömung des social gospel wird ihm vertraut.[8] An dem Seminary sind Studenten aus vielen Ländern und Nationen eingeschrieben. Die Vielfalt der Kirchen und Denominationen fordert Offenheit und Dialogbereitschaft heraus. Die ökumenische Dimension des christlichen Glaubens tritt ganz neu in Bonhoeffers Bewusstsein.

Für Bonhoeffer war Berlin stets Rückkehrort, Bezugspunkt und Lebensbasis, so auch nach dem USA-Aufenthalt. Die ökumenischen Kontakte gehören fortan zu seinem Wirken. Im September 1931 nimmt er an der Jahrestagung des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen teil und wird als einer der drei Jugendsekretäre gewählt. Außerdem wird er in das Management Committee sowie in das International Council des Weltbundes aufgenommen.[9] Im August 1934 findet auf der Insel Fanö in Dänemark eine große ökumenische Tagung statt. Bonhoeffer wird als Internationaler Jugendsekretär gebeten, ein Referat zu übernehmen. Der Vormittag, an dem er seinen Vortrag hält, steht unter dem Thema „Die Kirche und die Welt der Nationen“[10]. Die Fanö-Rede Bonhoeffers, die damals schon Aufmerksamkeit erregte, gehört mittlerweile zu den klassischen Friedenszeugnissen der Christenheit.

Die Fanö-Rede ist der letzte und endgültige Beleg dafür, dass sich eine Wendung vollzogen hat. Bonhoeffers Denken, seine theologischen Auffassungen haben sich verändert. Bonhoeffer ist Repräsentant einer ökumenischen Friedensethik geworden. Der Vergleich des Barcelona-Vortrags aus dem Jahr 1929 mit dem Fanö-Vortrag aus dem Jahr 1934 – eine Zeitspanne von fünf Jahren liegt dazwischen – lässt die Veränderungen besonders deutlich hervortreten. In Barcelona hat Bonhoeffer noch eine nationalprotestantische, bürgerlich-liberale Ethik vertreten: Es gibt keine verbindlichen ethischen Normen. Jeder muss seine ethischen Fragen mit seinem Herrgott alleine abklären. Auch Gott selbst ist in seinen ethischen Forderungen diffus, weil er sowohl zum Frieden als auch zum Krieg ruft. Ganz anders der Fanö-Vortrag: Von einer Diffusität Gottes ist nichts mehr zu spüren. Der Wille Gottes ist eindeutig. Gott will Frieden. Der Friede ist ein Gebot. Das Gebot fordert Gehorsam. „Zum Gebot gibt es ein doppeltes Verhalten: den unbedingten, blinden Gehorsam der Tat oder die scheinheilige Frage der Schlange: sollte Gott gesagt haben? Diese Frage ist der Todfeind des Gehorsams, ist darum der Todfeind jeden echten Friedens.“[11]

2.         Die ökumenische Friedensethik in Bonhoeffers Fanö-Vortrag „Kirche und Völkerwelt“

Dem Fanö-Vortrag vom August 1934 ging eine Zeit stürmischer Entwicklungen voraus. Im Januar 1933 hat der Nationalsozialismus in Deutschland die Macht errungen und sofort damit begonnen, die politischen Verhältnisse in seinem Sinne umzugestalten. Der Ausbruch des Kirchenkampfes führt im Mai 1934 zur Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen. Alle Illusionen, der deutsche Staat werde von sich aus für Recht und Frieden sorgen und für die Aufrichtung einer internationalen Friedensordnung eintreten, sind für Bonhoeffer längst zerstoben. Die grundlegenden Werte und Normen des Zusammenlebens sind gefährdeter denn je. Demokratische Mehrheiten, auf die man gesellschaftliche oder friedensethische Anliegen abstützen könnte, gibt es nicht mehr. Von den bisherigen Großinstitutionen verfügen alleine die Kirchen noch über eine gewisse gesamtgesellschaftliche Relevanz. Deswegen ist es in der Not der gegenwärtigen politischen Verhältnisse ihre Pflicht, sich als Träger der Friedensbotschaft zur Verfügung zu stellen. Bonhoeffers Anliegen in dem Fanö-Vortag ist es, die Kirchen an ihre Verantwortung, wie sie sich aus dem Wesen ihres Glaubens ergibt, zu erinnern. Die Friedensbotschaft soll mit den Grundinhalten des Christentums untrennbar verbunden und in der ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen verwurzelt werden – gleichsam ein verzweifelter Versuch, der übermächtigen völkisch-nationalen Massenbewegung mit der Gesamtheit der Kirche entgegenzutreten und so dem Grauen eines nächsten Krieges, das Bonhoeffer deutlich vor Augen steht, mit geistlichen Waffen Einhalt zu gebieten.

Es fällt in der Fanö-Rede die Begründung der Friedensethik auf. Die Begründung trägt einen dezidiert kirchlichen, christlichen, theologischen Charakter, um dem Friedensgebot für den Glauben und die Gewissen eine möglichst große Verbindlichkeit zu verleihen. „’Friede auf Erden’, das ist kein Problem, sondern ein mit der Erscheinung Christi selbst gegebenes Gebot.“[12] Es ist der Wille des Gebotes Christi, „daß Friede sein soll.“[13] „Der menschliche Wille muß konfrontiert werden mit dem göttlichen Gebot: Du sollst nicht töten.“[14] In dem Weltbund-Vortrag von 1932 – einem Friedens-Vortrag Bonhoeffers zwei Jahre vor Fanö – hatte Bonhoeffer diese Art der Begründung noch ausdrücklich abgelehnt. Damals hatte er noch gesagt: „Nicht aus der schwärmerischen Aufrichtung eines Gebotes – also etwa des fünften – über andere“[15] dürfe die Friedensethik abgeleitet werden. Jetzt 1934 bedient sich Bonhoeffer selbst der „schwärmerischen Aufrichtung“ des 5. Gebotes [16]. 1932 hat er noch historisch relativierend von der Entwicklung einer Erhaltungsordnung her argumentiert. Da sich der Krieg durch die Art der Waffen und durch die Art der Kriegsführung zu einem Vernichtungskrieg entwickelt habe, müsse er geächtet und durch die Aufrichtung einer internationalen Friedensordnung abgeschafft werden. Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges könne man sich nicht mehr auf Luther, Fichte und Bismarck berufen, denen in ihrer Zeit eine andere Sicht der Dinge möglich gewesen sei. Die historischen Relativierungen in der Weltbund-Rede, die die internationale Friedensordnung erst für das 20. Jahrhundert fordern, lässt Bonhoeffer 1934 hinter sich. Nunmehr postuliert er, dass das Gebot „Friede auf Erden“ schon immer gegolten habe, schon immer seit der „Erscheinung Christi“. Es hätte schon immer während der ganzen Christentumsgeschichte befolgt werden müssen. Der „Gott der Bergpredigt“[17] hat schon immer die Übertretung des Gebotes „Du sollst nicht töten“ gerichtet[18], und er wird dies auch in Zukunft tun.

Wir haben gesehen, dass sich in der Fanö-Rede die Begründung der Friedensethik – verglichen mit Bonhoeffers Weltbund-Vortrag von 1932 – radikalisiert hat. An diese Beobachtung schließt sich eine zweite an, betreffend die Rolle der Kirchen bei der Realisierung der Friedensethik. Bonhoeffer legt jetzt alles Gewicht darauf, dass die Brüder und Schwestern in allen Kirchen sofort mit der Realisierung der Friedensethik beginnen sollen und nicht erst warten dürfen, bis sich die Zustände geändert haben oder ein Friedensengagement politisch-gesellschaftlich opportun geworden ist. In der Weltbund-Rede von 1932 klang dieser Punkt noch etwas anders. Die Kirche war Überbringerin des Friedensgebotes, der eigentliche Adressat war die Welt. Die Änderung der politischen Zustände war Sache der Welt, und wenn die Welt in Beachtung des Wortes der Kirche eine internationale Friedensordnung eingerichtet hat, braucht niemand mehr zum Kriegsdienst gezwungen werden. Jetzt 1934 haben sich solche Erwartungen an die Friedensfähigkeit der Welt grundlegend verändert. In Bonhoeffers Augen ist aus der vernunft- und einsichtsfähigen Welt eine „rasende Welt“[19] geworden. Vernunft und Einsicht haben sich weitestgehend aus der politischen Öffentlichkeit zurückgezogen. Eine letzte Chance, der Welt mit dem Friedensgebot eine Grenze zu setzen, besteht nur dort, wo die Christenheit mit einer einzigen Stimme spricht: „Nur das Eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, daß die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muß und daß die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt.“[20]

Die Argumentation in der Fanö-Rede schreitet voran zu der Frage, wie Schritte zum Frieden konkret aussehen können. Im Zusammenhang mit dieser Frage macht Bonhoeffer darauf aufmerksam, dass es die Unterscheidung zwischen Friede und Sicherheit zu beachten gilt: „Wie wird Friede? Durch ein System von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals in den verschiedenen Ländern? d.h. durch die Großbanken, durch das Geld? Oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens? Nein, durch dieses alles aus dem einen Grunde nicht, weil hier überall Friede und Sicherheit verwechselt wird. Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muß gewagt werden, ist das eine große Wagnis, und läßt sich nie und nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung. Sicherheiten fordern heißt Mißtrauen haben, und dieses Mißtrauen gebiert wiederum Krieg. Sicherheiten suchen heißt sich selbst schützen wollen. Friede heißt sich gänzlich ausliefern dem Gebot Gottes“[21]. Dieses Verständnis des Friedens als Wagnis ist von dem Dietrich-Bonhoeffer-Verein (dbv) auf die Kurzformel „Frieden statt Sicherheit“[22] gebracht worden.

Bonhoeffer präzisiert, was er meint. Die Friedenspflicht schließt nicht nur einen Angriff gegen andere aus. Sie gilt auch dann noch, wenn der auslösende Angriff von der anderen Seite her geführt wird. Selbst dann werden Christen – ich zögere etwas, dies auszusprechen – „keine Sicherung wollen, sondern in Glaube und Gehorsam dem allmächtigen Gott die Geschichte der Völker in die Hand legen und nicht selbstsüchtig über sie verfügen wollen. Kämpfe werden nicht mit Waffen gewonnen, sondern mit Gott. Sie werden auch dort noch gewonnen, wo der Weg ans Kreuz führt. Wer von uns darf denn sagen, daß er wüsste, was es für die Welt bedeuten könnte, wenn ein Volk – statt mit der Waffe in der Hand – betend und wehrlos und darum gerade bewaffnet mit der allein guten Wehr und Waffen den Angreifer empfinge?“[23] Bonhoeffer schließt seine Fanö-Rede, indem er zur Eile bei der Umsetzung und Realisierung der Friedensethik mahnt: „Die Stunde eilt – die Welt starrt in Waffen und furchtbar schaut das Mißtrauen aus allen Augen, die Kriegsfanfare kann morgen geblasen werden – worauf warten wir noch? Wollen wir selbst mitschuldig werden, wie nie zuvor? M. Claudius: ’Was nützt mir Kron und Land und Volk und Ehr, die können mich nicht freun –’s ist leider Krieg im Land und ich begehr, nicht schuld daran zu sein.’“[24]

3.         Der christliche Pazifismus

Der Inhalt von Bonhoeffers ökumenischer Friedensethik hat ein bestimmtes Profil. Im Zentrum steht die geschwisterliche Beziehung zwischen allen Christen, die stärker als alle weltlichen Bande zählt und die jede Kriegs- oder Gewalthandlung gegeneinander ausschließt. In der Fanö-Rede ist dieser Gedanke klassisch ausformuliert: Christen „können nicht die Waffen gegeneinander richten, weil sie wissen, daß sie damit die Waffen auf Christus selbst richteten“[25] – und damit nicht nur Christus erneut töteten, sondern auch ihren eigenen Glauben zerstörten.[26] „Friede soll sein, weil Christus in der Welt ist, d.h. Friede soll sein, weil es eine Kirche Christi gibt, um deretwillen allein die ganze Welt noch lebt. Und diese Kirche Christi lebt zugleich in allen Völkern und doch jenseits aller Grenzen völkischer, politischer, sozialer, rassischer Art, und die Brüder dieser Kirche sind durch das Gebot des einen Herrn Christus, auf das sie hören, unzertrennlicher verbunden als alle Bande der Geschichte, des Blutes, der Klassen und der Sprachen Menschen binden können. … Darum ist den Gliedern der Ökumene, sofern sie an Christus bleiben, sein Wort und Gebot des Friedens heiliger, unverbrüchlicher als die heiligsten Worte und Werke der natürlichen Welt es zu sein vermögen; denn sie wissen: Wer nicht Vater und Mutter hassen kann um seinetwillen, der ist sein nicht wert, der lügt, wenn er sich Christ nennt.“[27]

In dem Brief vom 27. Januar 1936 bezeichnet sich Bonhoeffer als „christlichen Pazifisten“. Er kommt in dem Brief auf seine Wendung zum Christen und Pazifisten zu sprechen. Der Brief ist an einen sehr vertrauten Menschen gerichtet[28]. Es wäre nicht Bonhoeffers Art gewesen, über so persönliche Dinge in einer größeren Öffentlichkeit zu sprechen. Bonhoeffer schildert, wie sich die Wendung in allen Lebensbereichen auswirkte, bis ins Emotionale und bis in die Beziehungsebene hinein. Der „wahnsinnige“[29] Karriereehrgeiz, den Bonhoeffer früher an sich beobachtete, legt sich. Er beginnt sich als Diener Jesu Christi zu begreifen. Ein dringend-drängender Wunsch wird in ihm wach, sich für die „Erneuerung der Kirche“[30] einzusetzen. Wörtlich schreibt er: „… Ich stürzte mich in die Arbeit in sehr unchristlicher und undemütiger Weise. Ein wahnsinniger Ehrgeiz, den manche an mir gemerkt haben, machte mir das Leben schwer und entzog mir die Liebe und das Vertrauen meiner Mitmenschen. Damals war ich furchtbar allein und mir selbst überlassen. Das war sehr schlimm. Dann kam etwas anderes, etwas, was mein Leben bis heute verändert hat und herumgeworfen hat. Ich kam zum ersten Mal zur Bibel. Das ist auch wieder sehr schlimm zu sagen. Ich hatte schon oft gepredigt, ich hatte schon viel von der Kirche gesehen, darüber geredet und geschrieben – und ich war noch kein Christ geworden, sondern ganz wild und ungebändigt mein eigener Herr. Ich weiß, ich habe damals aus der Sache Jesu Christi einen Vorteil für mich selbst, für eine wahnsinnige Eitelkeit gemacht. Ich bitte Gott, daß das nie wieder so kommt. Ich hatte auch nie, oder doch sehr wenig gebetet. Ich war bei aller Verlassenheit ganz froh an mir selbst. Daraus hat mich die Bibel befreit und insbesondere die Bergpredigt. Seitdem ist alles anders geworden. Das habe ich deutlich gespürt und sogar andere Menschen um mich herum. Das war eine große Befreiung. Da wurde es mir klar, daß das Leben eines Dieners Jesu Christi der Kirche gehören muß und Schritt für Schritt wurde es deutlicher, wie weit das so sein muß. Dann kam die Not von 1933. Das hat mich darin bestärkt. Ich fand nun auch Menschen, die dieses Ziel mit mir ins Auge faßten. Es lag mir nun alles an der Erneuerung der Kirche und des Pfarrerstandes … Der christliche Pazifismus, den ich noch kurz vorher – bei der Disputation, auf der auch Gerhard war! – leidenschaftlich bekämpft hatte, ging mir auf einmal als Selbstverständlichkeit auf. Und so ging es weiter, Schritt für Schritt. Ich sah und dachte gar nichts anderes mehr.

Vor mir steht der Beruf. Was Gott daraus machen will, weiß ich nicht. Es ist bei mir immer noch viel Ungehorsam und Unlauterkeit im Beruf. Ich ertappe mich täglich dabei. Aber der Weg muss durchgegangen werden. Vielleicht dauert er gar nicht mehr so lang. Manchmal wünschen wir es uns wohl so. (Phil. 1,23) Aber es ist doch schön, diesen Beruf zu haben. … Ich glaube, die Herrlichkeit dieses Berufes wird uns erst in den kommenden Zeiten und Ereignissen aufgehen. Wenn wir doch durchhalten könnten!“[31]

An dem Brief Bonhoeffers vom 27. Januar 1936 sind zwei Punkte besonders erwähnenswert. Der erste Punkt ist Bonhoeffers Aussage, dass er zu Bibel und insbesondere zur Bergpredigt gekommen sei. Mit diesem Hinweis bezieht sich Bonhoeffer auf seine „Abkehr vom Phraseologischen zum Wirklichen“. Das Zur-Bibel-Kommen war nicht eine pietistische Bekehrung – also nicht der Aufbau einer neuen, nach außen abgegrenzten Innerlichkeit. Vielmehr steht hinter dem Zur-Bibel-Kommen jene Hinwendung zur Wirklichkeit, die mit den philosophischen Studien in New York begonnen hat. Eine neue Art, die Bibel zu lesen, hat das Interesse an ihrer Lektüre erheblich gesteigert. Bonhoeffer entdeckt den Wirklichkeitsbezug der biblischen Texte. In ihnen findet Beschreibung von Wirklichkeit statt bzw. wird Veränderung von Wirklichkeit intendiert. Das eigene Leben und Verhalten wird herausgefordert. Aus der Entdeckung dieses Wirklichkeitsbezuges erwächst eine deutliche Verstärkung von Bonhoeffers Frömmigkeit.

Der zweite erwähnenswerte Punkt aus dem Brief Bonhoeffers vom 27. Januar 1936 ist, dass Bonhoeffer die Stichworte Bergpredigt und Pazifismus sehr weit auseinanderzieht. Wir sind es gewohnt, Bergpredigt und Pazifismus ganz eng miteinander zu verbinden und auch bei Bonhoeffer diese enge Verbindung zu vermuten. Der Brief vom 27. Januar 1936 belegt, dass bei Bonhoeffer zwischen Bergpredigt und Pazifismus unterschieden werden muss. Die Bergpredigt steht für einen neuen hermeneutischen Zugang zu biblischen Texten. Der Pazifismus Bonhoeffers hat sich langsamer und später entwickelt. Das Gebot des internationalen Friedens ist ursprünglich eine Erhaltungsordnung. Erst in der Fanö-Rede wird daraus eine direkt aus den biblischen Texten abgeleitete ethisc

[1] Renate Wind (in Zukunft abgekürzt: Wind), Dem Rad in die Speichen fallen – Die Lebensgeschichte des Dietrich Bonhoeffer, Beltz Verlag Weinheim und Basel 1990, Seite 41.
[2] Dietrich Bonhoeffer Werke (in Zukunft abgekürzt: DBW), hrsg. von Eberhard Bethge, Ernst Feil, Christian Gremmels, Wolfgang Huber, Hans Pfeifer, Albrecht Schönherr, Heinz Eduard Tödt, Chr. Kaiser Verlag München 1992, Band 10, Seite 323.
[3] DBW 10, 323.
[4] DBW 10, 330.
[5] DBW 10, 333.
[6] DBW 16, 366 f.; zum Stipendium näheres in DBW 10, 6.
[7] DBW 10, 600 f.
[8] „Der Eindruck, den ich von den heutigen Vertretern des social gospel empfangen habe, wird für mich auf lange Zeit hinaus bestimmend sein“, resümiert Bonhoeffer seinen USA-Aufenthalt (zitiert nach Wind 48).
[9] DBW 11, 487 f. Wieder ist Superintendent Diestel der Initiator: DBW 16, 366 f.
[10] DBW 13, 298 Anm. 1. Heinz Eduard Tödt geht davon aus, dass Bonhoeffer am 28.8.1934 vormittags einen Vortrag „Die Kirche und die Welt der Nationen“ gehalten hat, der leider verloren gegangen ist und von dem uns lediglich die Kurzfassung eines Thesenpapiers vorliegt, vgl. H. E. Tödt, Theologische Perspektiven nach Dietrich Bonhoeffer, hrsg. von Ernst-Albert Scharffenorth, Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 1993, Seite 126. Der bekannte Text „Kirche und die Völkerwelt“ soll am 28.8.1934 als Morgenandacht gehalten worden sein, vgl. H. E. Tödt, a.a.O., S. 127. Anders Martin Heimbucher, der den Text „Kirche und Völkerwelt“ nicht als Morgenandacht, sondern als eines der Vormittagsreferate für den 28.8.1934 betrachtet, vgl. Martin Heimbucher, Christusfriede – Weltfrieden: Dietrich Bonhoeffers kirchlicher und politischer Kampf gegen den Krieg Hitlers und seine theologische Begründung, Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 1997, Seiten 126 ff.; 135 ff.; 141 ff. Oben im Text ist mit der „Fanö-Rede“ die „Kirche und die Völkerwelt“ gemeint.
[11] DBW 13, 298 f.
[12] DBW 13, 298.
[13] DBW 13, 300.
[14] Aus dem Thesenpapier zur Fanö-Konferenz „Die Kirche und die Welt der Nationen“ DBW 13, 295 ff., hier 296. Das Thesenpapier wird gelegentlich von mir zur Interpretation der Fanö-Rede „Kirche und Völkerwelt“ herangezogen.
[15] DBW 11, 341. In dem gleichen Sinne ist zu verstehen die Bemerkung DBW 11 auf Seite 337, die Friedensethik könne „nicht aus irgendeinem festgelegten Gesetz“ konzipiert werden, nämlich aus der als Gesetz verstandenen Bergpredigt, vgl. a.a.O. Seite 335 einschließlich der Anmerkungen, insbesondere Anm. 18.
[16] Es ist keineswegs so, dass Bonhoeffer nun in eine Art Gesetzlichkeit bzw. in ein schwärmerisches Gebotsverständnis abgleitet. Vielmehr geht es ihm „um das Halten des Gebotes und gegen das Ausweichen“ (DBW 13, 129). Der wörtliche Gehorsam gegen das Gebot ist zwar nicht die einzige, aber die „erste und einfältigste Möglichkeit“ (DBW 4, 73). Bonhoeffer hält an dem „paradoxen Verständnis der Gebote“ (DBW 4, 73) fest, legt jetzt aber Wert darauf, dass in diesem Verständnis der „einfaltige Gehorsam“ nicht ausgeschlossen, sondern eingeschlossen ist. Bonhoeffer will auch jetzt „nicht ein Gesetz aufrichten“ (DBW 4, 75). Es geht um den „Schritt in die Situation“ (DBW 4, 76). In dem Zusammenhang ethischer Reflexionen hatte Bonhoeffer bereits in dem Barcelona-Vortrag von „Paradoxie“ gesprochen (DBW 10, 344). Es zeigt sich hier, was sich noch an vielen anderen Stellen nachweisen ließe, dass Bonhoeffer Wendung vom Theologen zum Christen nicht eine Totalveränderung bedeutet, sondern „nur“ ein inhaltliche Veränderung bei gleichzeitiger methodischer Kontinuität. Insofern ist Heinz Eduard Tödt recht zu geben, der im Hinblick auf die theologische Entwicklung ausgehend vom Barcelona-Vortrag hin zur ökumenischen Friedensethik schreibt: „Die methodischen Grundlinien werden weitergeführt, aber die Inhalte sind radikal verändert“ (Heinz Eduard Tödt, Theologische Perspektiven nach Dietrich Bonhoeffer, S. 86).
[17] DBW 13, 296.
[18] Vgl. die Formulierung „Der Gott der Bergpredigt richtet ihn“ DBW 13, 296.
[19] DBW 13, 301.
[20] DBW 13, 301. Für den einzelnen Christen bedeutet die sofortige Umsetzung der ökumenischen Friedensethik Kriegsdienstverweigerung. Bonhoeffer ist bereits 1932 zur Kriegsdienstverweigerung entschlossen, vgl. Gremmels / Pfeifer 43; Wind 58. Dies ist eine im Deutschland des „Dritten Reiches“ geächtete, zunehmend gefährliche Haltung. Christen, die sich zur Kriegsdienstverweigerung entschließen, brauchen die Solidarität ihrer Kirche. Bonhoeffer fragt – und will damit die Kirchen an ihre Verantwortung erinnern -: „Sollten wir die einzelnen, die ihr Leben an diese Botschaft wagen, allein lassen?“ (DBW 13, 301).
[21] DBW 13, 300.
[22] Karl Martin (Herausgeber im Auftrag des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins), Frieden statt Sicherheit – Von der Militärseelsorge zum Dienst der Kirche unter den Soldaten: Positionen und Beiträge. Mit einem Geleitwort von Kurt Scharf. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn Gütersloh 1989, dort auf S. 39 ff. Insbesondere der Beitrag von Karl Martin, Frieden statt Sicherheit.
[23] DBW 13, 300. Vgl. auch DBW 13, 296 f.: „Auf den Einwand: Das Volk muß sich schützen, antwortet die Kirche: Hast du es schon einmal im Glauben gewagt, Gott deinen Schutz anheimzustellen im Gehorsam gegen sein Gebot?“
[24] DBW 13, 301.
[25] DBW 13, 299 f. Eine ähnliche Argumentation findet sich schon 1929/30 bei F. Siegmund-Schultze, Kirche, 3: „Eine Verletzung des christlichen Bruders würde Verletzung eines Gliedes des Leibes Christi bedeuten, Verletzung des Leibes Christi selbst.“ Vgl. DBW 13, 300 Anm. 6.
[26] Bonhoeffers Friedensverständnis ist nicht profan-humanistisch, sondern streng christologisch, vgl. sein Thesenpapier zur Fanö-Konferenz DBW 13, 295 ff. Frieden ist nach Bonhoeffer nicht eine profane Möglichkeit des Menschen, die durch moralische Appelle angemahnt und durch guten Willen ins Werk gesetzt werden könnte. Dazu sind die Aggressions- und Destruktionskräfte im Menschen viel zu stark, als dass er sie alleine, aus eigner Kraft unter Kontrolle und zum Verstummen bringen könnte. Die Fähigkeit, Frieden zu wollen, zu suchen und zu wünschen, ist ein Geschenk Gottes an den Menschen, das ihm eingebunden in seine Christusbeziehung übereignet wird. Real wird dieser von Gott geschenkte Friede in der Beziehung der Christen untereinander. Durch das Verhalten der Christen untereinander soll dieser Friede in der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit bezeugt werden. Von dort aus soll er sich in alle Lebensbereiche ausbreiten. Zum Wesen des Friedens gehört seine Ganzheitlichkeit. Friede umfasst alle Beziehungs- und Wirklichkeitsaspekte des menschlichen Lebens. Die Begriffe Gotteserfahrung, Friedenserfahrung, Christuserfahrung, Menschlichkeitserfahrung, Erfahrung erfüllten, gelingenden Lebens können zu Synonymen werden, denen ein gemeinsamer Wirklichkeitshorizont zugrunde liegt.
[27] DBW 13, 299.
[28] Wind 95 ff.
[29] DBW 14, 112.
[30] DBW 14, 113.
[31] DBW 14, 112 ff.