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Am Ende des unmenschlichsten Jahrhunderts

Von Martin Stöhr

Am 27. Januar 1999 – mehrere Monate nach der Rede von Martin Walser in der Paulskirche – . mischte sich Martin Stöhr mit der folgenden Rede an der Marburger Universität in die Diskussion ein. 

Lassen Sie mich mit einigen Sätzen beginnen, die ein Überlebender, Günter Anders, l965 in seinen „Philosophischen Stenogrammen“ festhielt. Nur für sich? Auch für uns – denn er veröffentlicht sie, beteiligt sich also an der seit l945 laufenden Debatte, wie angemessen von Auschwitz zu reden sei, wie wir der Opfer im Lande der Täter gedenken, wie wir unsere Geschichte nicht vergessen. Geschichte erzählt von Menschen. Besser: Menschen, auch tote, haben und erzählen Geschichte, die Aufmerksamkeit verlangt.

In einer nichts beschönigenden Sprache schreibt Günter Anders, den Verbrennungsöfen entkommen, von der Brutalität der Geschichte:
Wenn Du von Auschwitz sprichst, dann vermeide Feierlichkeit. Der feierliche Tonfall ziemt sich nicht, er ist noch zu human, er könnte noch so klingen, als ob es irgendwo doch noch eine Möglichkeit von Sinn und Versöhnung gebe… Das wäre eine tödliche Entwürdigung des Monströsen, das sich abgespielt hat. Sprich nicht von Toten. Noch nicht einmal von ‚Ermordeten‘. Getötet worden ist niemand. Und ermordet worden ist ebenfalls niemand. Wie tief Dich das auch erschrecken mag, die einzige wahre, die einzige der Millionen Entwürdigten angemessene Rede ist die zynische. Zu sprechen hast Du also von dem Material, das, der Maschine zur Verarbeitung zugeliefert, die ungewöhnliche Eigenschaft besessen hat, sehen, hören und fühlen zu können. Und die zufällig unverarbeitet gebliebenen Materialreste, die die gleichfalls ungewöhnliche Eigenschaft besitzen, sich erinnern, berichten und anklagen zu können. Nur so. Anders zu sprechen ist unerlaubt und läuft beinahe schon auf Entschuldigung hinaus.“

Eine harte Rede. Wer hält sie aus? Sind meine Gegenfragen Versuche, der zynischen Rede zu entkommen und die Maschinerie nicht als das zu sehen, als das sie sich zeigt? Und zugleich höre ich, weiss ich: Es handelt sich um sehende, hörende, fühlende, sich erinnernde, berichtende und anklagende Wesen – so nennt Günter Anders die Menschen, die dieser Todesmaschinerie zugeführt wurden. Und sahen, hörten, fühlten, erinnerten, berichteten oder klagten an auch jene, die die Todesmaschinerie als Täter oder als Opfer bedienen mussten? Sind es andere Menschen als die, die wissenschaftlich, politisch, ökonomisch oder religiös lange vor Auschwitz Gründe erdacht oder veröffentlicht hatten, warum Juden oder Slawen zu verachten seien? Dass Kain und Abel zur Menschheit gehören, rechtfertigt nicht, was Kain tat. Kain ist die unmenschliche Möglichkeit, Mensch zu sein. Ihm wie uns ist es aber möglich, menschlich zu sein.

Folgen sind zu bedenken

Hat Martin Walser heutzutage diese zynische Rede in der Paulskirche versucht, als er die erwartete „Sonntagsrede“ und die „kritische Predigt“ verweigern wollte? Zeigen die stehenden Ovationen, mit denen das Auditorium ihn honorierte, dass es doch keine zynische Rede war, sondern eine Rede, die die Leute gerne hören wollten? Auch wenn Walser dies nicht gemeint hat, wie er später im Gespräch mit Ignatz Bubis und Salomon Korn in der FAZ erläuterte? Ist seit Anders‘ erschreckendem Stenogramm auch die zynische Sprache schon verbraucht? Ist das ein unvermeidliches Schicksal jeder öffentlichen, feierlichen Rede, jeder Predigt, jeden Kabaretts? Sie alle wollen, ja müssen doch die Zustimmung der Zuhörenden finden und zugleich Un-erhörtes vermitteln. Mann ist gemeint, Frau ist gemeint und sagt doch – bis auf ein paar Sitzenbleiber – durch Beifall, durch stehende Ovationen Ja, Amen (auf deutsch: Ja, das werde wahr). Eine persönliche Erfahrung des Redners, selbstkritisch reflektiert, wird rasch zu einer generellen Wahrheit. Wenn Walser skrupulös wegschaut, dann darf ich das vielleicht auch unskrupulös tun? Als einmal öffentlich Gehörtes und Beklatschtes kann das Un-erhörte goutiert werden. Was als Tabubruch in die Öffentlichkeit tritt, kann sich als verwertbare Binsenwahrheit ausbreiten. Warum soll für grenzüberschreitende Gedanken nicht gelten, was z.B. für biotechnologische, nukleare oder psychologische Entdeckungen gilt, dass ihre Folgen und Verwertungen zu bedenken sind? Ich frage und weiss zugleich, dass eine Gesellschaft ohne Tabus gegenüber toten und lebenden Wesen schamlos inhuman werden kann.

Die Schwierigkeit angesichts des „Monströsen“ und angesichts der Zumutung, als verantwortlicher Mensch heute für morgen gemeint und angesprochen zu sein, bleibt. Die Ausrufung der Normalität, was immer das auch sein mag, gibt der Banalität des Bösen und der Gedankenlosigkeit die größeren Chancen, weil Denk- und Handlungsentlastung versprechend. Die gewiss nötige Kritik an der „Banalität des Guten“ als Kritik am sog. Gutmenschen ist die derzeit billige Mode in einer seltsamen Koalition von Elfenbeinturmbewohnern und Machern. Diese Kritik muss sich vorsehen, dass sie die Mühsal, Gutes alltäglich zu verwirklichen, nicht durch Häme und Verachtung von Minderheitspositionen gefährdet. Eine solche Kritik kann leicht unkritisch übersehen oder hinnehmen, was an Vorurteilen oder Unrecht nicht zu übersehen oder hinzunehmen ist.

Die Diskussion muss weitergehen

Die ethosfreien Zonen wachsen gern in einer Gesellschaft, die vorenthaltene Löhne für fast 10 Millionen Zwangsarbeiter, von denen nur eine halbe Million noch lebt, unaufgeregt hinnimmt. Zechprellereien werden dagegen sanktioniert. Auch allzu viele Zeitgenossen, Gruppen und Medien klären Stimmungen gegenüber Ausländern politisch nicht auf, sondern schüren und nutzen sie aus.

Die Todesstrafe oder Ausländergesetze zum Gegenstand des Wahlkampfes zu machen, macht Betroffene zu Objekten von Kampagnen.

Walsers und Bubis‘ Verdienst ist es, eine öffentliche Diskussion erneut darüber angestoßen zu haben, was im Umgang mit vergangener, aber nicht folgenloser Politik heute bedacht und getan werden muss, was wichtiger und was unwichtiger ist, kurz, was gut oder nicht gut ist in einer Gesellschaft, in der vor zwei Generationen Auschwitz möglich war. Die Diskussion, kaum begonnen, scheint in einer Harmonie-verliebten Zeitgenossenschaft in den Redaktionsräumen der FAZ beendet worden zu sein. Sie braucht aber kein Ende, sondern mehr Menschen, die sich selbst exponieren und daran teilnehmen – öffentlich und praktisch.

Bleibt eine öffentliche Sprachlosigkeit, die sich gegen ein Kontrastprogramm von Moralkeulen, Klischees, Lippendiensten oder Instrumentalisierungen meint öffentlich-sonntäglich wehren zu müssen, neben einer gewissenhaft persönlichen Beschäftigung, wie sie Walser immer betrieb, ein letztes Wort zur deutschen Geschichte?  Und das in einer Zeit, in der die letzten Zeitzeugen noch, gerade noch zu hören sind, in der gar nicht so kleine Gruppen der zweiten  und dritten Generation der Überlebenden aus der Opfer- wie der Tätergesellschaft sich freiwillig mit ihrer, d.h. mit unserer Geschichte und Gegenwart, mit ihren Fragen und Erfahrungen abquälen, sich in Lernprozessen mühen, nach angemessenen Formen und Ritualen suchen, die Erfahrungen der Geschichte existentiell d.h. lebensfördernd zu vergegenwärtigen. Es geschieht mehr in Schulen, Gemeinden, Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit oder Workcamps, als wahrgenommen wird. All dies geschieht in einer Zeit, in der die keineswegs schlafenden Rechtsextremen für jeden Intellektuellen dankbar sind, der aus dem Zusammenhang gerissene, brauchbare oder missbrauchbare Zitate liefert.

Die Schwelle zur Inhumanität

Günter Anders hat recht: Sinn und Versöhnung sind in Auschwitz weder zu suchen noch zu finden. Nötig ist ein intellektuell und praktisch glaubwürdiger Bruch mit jenen Einstellungen, die Menschen zu Opfern und zu Tätern, zu Gleichgültigen oder Zuschauern von Unrecht werden ließen und lassen. Diese Einstellungen existierten vor l933 und sind mit l945 nicht verschwunden. Auschwitz wird sich nicht wiederholen. Bonn ist nicht Weimar, aber die in die Nazizeit führenden Haltungen von Ausgrenzung, Menschenverachtung, Indifferenz sowie von Gewaltbereitschaft führen ein zähes Leben. Es ist Antwort zu geben auf einen Zeitenwandel in der Wahrnehmung von Auschwitz, jenem Projekt der Moderne, das undenkbar nicht nur dachte, sondern exekutierte – mit allen Mitteln der Moderne wurde die Schwelle zur Inhumanität gesenkt. Deswegen  sähe ich es ungern, wenn Günter Anders‘ harte Rede und Martin Walsers eigene Position von l979 ungültig geworden wären. Im Blick auf Auschwitzbilder – sie stehen pars pro toto für die Shoah – sagte Walser 1979: „Ich möchte lieber immer wegschauen von diesen Bildern. Ich muss mich zwingen hinzuschauen. Und ich weiss wie ich mich zwingen muss. Wenn ich mich eine Zeitlang nicht gezwungen habe hinzuschauen, merke ich wie ich verwildere. Und wenn ich mich zwinge hinzuschauen, merke ich, dass ich es um meiner Zurechnungsfähigkeit willen tue.“

Weil ich den Verdacht habe, dass unsensiblere, dafür anders okkupierte Ohren Günter Anders von l965 wie Martin Walser von l979 gern für überholt erklären möchten, muss ich die Aufgabenstellung, menschliche Zurechnungsfähigkeit zu gewinnen, als eine bleibende öffentliche Aufgabe reklamieren. Diese bleibende Aufgabe hat nichts zu tun mit einem Transfer von Schuld oder Schuldgefühlen von der Kriegsgeneration auf die an Auschwitz heute wirklich schuldlose Generation. Heute geht es um die wache Erkenntnis erkennbarer Folgen einer seinerzeit hybriden deutschen Politik, Folgen, die bis in die Gegenwart reichen. Einige Interviews in Lidice, Lodcz, TelAviv, Minsk, Dresden, Hiroshima oder Oradour machen deutlich, dass hier Haftpflicht entstanden ist. Wer will sie wegschauend liegen lassen? Sie gründet nicht in persönlicher Schuld, und sie ist auch nicht nur ein Gegenstand notwendiger Forschungen unserer Zeithistoriker. Ich möchte mich an dem Streit mit den nur Applaudierenden, mit nur Neugierigen oder mit denen, die einen Schlußstrich ziehen wollen (Martin Walser gehört garantiert nicht dazu) beteiligen. Er hat sensibel, aber an einigen wenigen Stellen mit großkalibrig-unpräzisem Vokabular, die auf die präzise Nennung von Namen und Fakten verzichtet, eine Diskussion verbreitert, die seit langem in kleinen nachdenklichen Zirkeln stattfindet. Ebenso sensibel, aber auch mit gelegentlich unpräzisem Vokabular hat Ignatz Bubis in seinem nicht applaudierenden Widerspruch zu diesem notwendigen Gespräch beigetragen.

Die vorher schon laufende Diskussion wurde aber durch die Prominentengeilheit und Kurzatmigkeit mancher Medien öffentlich kaum wahrgenommen: Daran beteiligen sich ja nur ein paar gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger! Reste dieser Diskussion tauchen dann in den Spätprogrammen von Rundfunk und Fernsehen auf, wenn die Mehrheit der Nation nach dem Genuss von Unterhaltungsprogrammen schläft. Hinter dieser schlechtentwickelten Wahrnehmungsfähigkeit mancher Medien und Diskutanten steckt aber noch eine merkwürdige Tradition. Es ist die Auffassung, bei den in Frage stehenden Erfahrungen der Geschichte handele es sich um Varianten der seit Generationen so genannten „Judenfrage“. Also muss ein Jude antworten. Sind sie nicht die Ursachen der Probleme? Also eröffnet Herr Bubis den Streit mit Herrn Walser und kein anderer Ehrengast aus der Paulskirche. Also wird Herr Bubis gefragt, wenn ein jüdischer Friedhof geschändet, wenn rassistische oder antisemitische Vorfälle sich ereignen, und sie ereignen sich in wachsender Zahl in Deutschland.

Die Schwäche vieler Prominenter

Warum werden nicht Hochschulrektoren, Gewerkschaftsvorsitzende, Bischöfe, Minister, Chefredakteure, PEN-Club-Mitglieder, Bürgermeister oder Manager der Industrie und Banken um ihre Meinung gefragt? Sie alle wohnen doch nicht weit von solchen Verletzungen der Menschenrechte, nicht weit von Gefängnissen, in denen nicht zu Haft verurteilte aber zur Abschiebung verurteilte Asylbewerber oft monatelang sitzen müssen. Über 40 von ihnen zogen den Selbstmord in Deutschland einer Rückkehr in ihr folterndes Heimatland vor. Alle genannten Menschen des öffentlichen Lebens haben als Demokraten doch eine Verantwortung nicht nur für ihre Organisation, sondern für das demokratische Gemeinwesen. Sie alle kennen Vorurteile gegen Juden, Türken, Roma und Sinti. Sie alle erfahren von Brandsätzen gegen eine Moschee, eine Synagoge, gegen Asylantenheime oder eine Kirche, die Kirchenasyl gewährt. Die Stärke von Ignatz Bubis ist nicht nur seine politische und demokratische Schlagfertigkeit, sondern auch eine weitergehende Verantwortung, die nicht nur ihre Stimme erhebt, wenn eine jüdische Gemeinde oder ihre Mitglieder angegriffen werden. Seine Stärke ist aber auch die a-demokratische vornehme Zurückhaltung  und Schwäche der von mir vorhin aufgezählten sog. Prominenten. Sie nehmen oft erst Stellung, wenn sie selbst oder das eigene Haus angegriffen wird, weniger aber, wenn dies einer anderen Minderheit passiert. Die res publicae, die öffentlichen Angelegenheiten aber sind eine Sache aller in unser zum Glück demokratischen, aber noch verbesserlichen Republik.

Wenn die öffentliche Stellungnahme bei menschenfeindlichen Akten nicht nur eine Angelegenheit der betroffenen Gruppe ist, sondern auch der benachbarten, ja der konkurrierenden Gruppe oder Institution , dann gilt diese Verantwortung erst recht für die öffentlichen Veranstaltungen des Erinnerns und des Gedenkens.

Gedenken ohne falschen Zungenschlag

Manch falscher Zungenschlag, den doch niemand leugnet, der an Gedenkveranstaltungen teilnimmt, wäre unterblieben, wenn zwei Bedingungen erfüllt würden. Einmal sind Namen und Fakten zu nennen. Durch wen und wie geschah Unrecht und Gewalt in „Deutschlands dunkler Zeit“- wie die verräterisch schwammige Floskel gelegentlich heisst? Wo geschieht subtil oder massiv Ähnliches heute? Zum anderen wäre es dringend nötig, dass an den Orten verweigerter Mitmenschlichkeit nachgedacht würde. Das hieße z.B.: In jedem Jahr ist ein Gericht im Lande verantwortlich für die Ausrichtung einer Gedenkveranstaltung, auf der die Namen der abgesetzten, vertriebenen oder ermordeten jüdischen Richter genannt und über ihre Schicksale berichtet würde. Warum-Fragen dürften nicht fehlen, die nach heutigen Antworten suchen, warum Kollegialität und Zivilcourage sich so leicht in nichts auflösen. Warum ist die Würde des Menschen verletzlich, obwohl millionenfach das Gegenteil beschworen wird? Ich bin sicher, bei einer solchen Gedenkfeier am Ort des Alltagslebens würde auch der eine oder andere tapfere Mensch entdeckt, der Zivilcourage oder Nächstenliebe weder der Angst noch dem Konformismus oder dem Karrierewunsch opferte.

Nicht Vergangenheit bewältigen

Die kleinen Tapferkeiten des Alltags, auch wo sie das Schlimmste nicht verhindern konnten, gehören auch zu unserer Geschichte. Wir benötigen sie heute für morgen. Wenn solche Veranstaltungen in Sportvereinen, Universitäten, Polizeistationen, Kasernen, Industriebetrieben, Verwaltungen, Industrie- und Handelskammern, Parteien, Theatern, Schulen, Redaktionen, Kirchen, Gewerkschaften und Künstleragenturen geschähen, dann verschwänden manche hohlen Worte aus mancher Rede. Gedenken und Erinnern dienten dann der Erkenntnis, der Aufklärung und einer demokratischen Wachheit für Menschenwürde. Dann bliebe die Frage lebendig, wieviel Menschlichkeit sich Menschen heute zurechnen. Solche Veranstaltungen wären an der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert zukunftsorientiert. Hier würde nicht Vergangenheitsbewältigung gespielt, sondern geübt die schwierigen Aufgaben des menschlichen Zusammenlebens, von verschiedenen Kulturen und Völkern, von Mehrheiten und Minderheiten, von verschiedenen Lebensentwürfen und Zielvorstellungen besser zu „bewältigen“ als es in dem zu Ende gehenden Jahrhundert gelang.

Ich kann die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht nacherzählen. Ich will aber an einigen Ereignissen illustrieren, warum ich es das unmenschlichste in der menschlichen Geschichte nenne.

1. Das 20. Jahrhundert zeichnet sich dadurch aus, dass das Töten und Morden in einem Ausmaß staatlich und ideologisch erlaubt, ja geboten wurde, wie es nie zuvor geschah. Was dem einzelnen Menschen in allen Religionen und Rechtssystemen streng verboten ist (sehen wir einmal von Notwehr und Tyrannenmord ab), wird plötzlich vaterländische oder ideologische Pflicht: Anderen Menschen zu schaden, sie zu demütigen oder zu ermorden – in der übergroßen Mehrzahl Zivilisten. Die beiden Weltkriege und über l50 „kleine“ Kriege zeigen schauerliche Bilanzen, nicht zuletzt ermöglicht durch eine expansive Rüstungsproduktion und Exportpraxis. Sie kreieren erzwungene und berufliche Töter, darunter wachsende Zahlen von Kindern. Maschinelles Töten senkt die Hemmschwelle. Wenn es nicht eine stärkere Bewegung zur Ächtung des Krieges und zur Achtung des Völkerrechtes und der Menschenrechte gibt, lassen wir die Blutspur aus unserem Jahrhundert ins nächste eindringen.

2. Ein weiteres Kennzeichen des 20. Jahrhunderts ist die erschreckende Zahl von Völkermorden. Ich nenne den Genozid an den Hereros in Deutsch-Südwest-Afrika, an den Armeniern in der Türkei und in unserer Generation die Völkermorde in Kambodscha, Uganda, Burundi und Ruanda. Auf dem Weg zum Völkermord befinden sich die Massenmorde an Oppositionellen in der Sowjetunion, in lateinamerikanischen Diktaturen, im Kongo oder in Liberia.

3. Singulärer Tiefpunkt mit dem Ziel, ein ganzes Volk auszurotten, war der von unserem Land ausgehende Versuch, das jüdische Volk und das der Roma und Sinti völlig zu vernichten. Auschwitz, 6 Millionen, Shoah – Worte und Ziffern stehen für etwas, das sich jeder Sinngebung entzieht und gleichwohl um der Menschen, der Toten und der Lebenden willen, nicht aus unserem Gedächtnis verdrängt werden darf. Warum? Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass Hitler das Gewissen für eine jüdische Erfindung hielt. Um gewissenlos Macht auszuüben, wollte er sein neues Europa „judenrein“ machen. Die physische Erinnerung an so etwas wie Gewissen sollte ausgelöscht werden. Menschliche Machtbegrenzung und Gewaltminimierung benötigen aber lebendige Gewissen.

4. Albert Einstein schrieb am 12.10.1953 an Max Born: „Aber wir wissen ja zur Genüge, dass das Kollektivgewissen ein ganz lausiges Pflänzchen ist, das jeweilen dann einzugehen pflegt, wenn es am nötigsten gebraucht wird.“ Einstein schickte diesen Brief, als sein Kollege und Nobelpreisträger Born in das „Land der Mörder“ (Einstein) zurückkehrte. Mit Martin Walser könnte ich auch als Ziel meiner Arbeit beschreiben, „die Routine des Gewissens auszusetzen“. So antwortete Walser auf kritische Anfragen von Israels Botschafter Primor. Aber ich sehe hierzulande einfach nicht (und anderswo auch nicht), dass die Gewissen der Menschen routiniert aktiv sind und also von Abnutzungserscheinungen bedroht würden. Ich wünsche, dass die Gewissen mutiger benutzt würden. Alle Menschen besitzen eins, aber nicht alle benutzen es. Gibt es nicht zu viele schlafende, satte, gute Gewissen? Was ich zu sagen versuche, gilt vom persönlichen wie auch vom institutionellen Gewissen, das Einstein Kollektivgewissen nannte. Ein Gewissenspotential an Humanität steckt in jedem Individuum und in jeder Institution, z.B. auch in einer Verwaltung, einer Aktiengesellschaft oder in einer Universität. Das 20. Jahrhundert hat hier zu wenig Entwicklungsarbeit geleistet. Damit zukünftige Niederlagen des Gewissens nicht noch blutigere Folgen haben, sollte kreativ und rechtzeitig gestritten werden. Unter vielen Konzepten und im Widerspruch zu Mächtigen und meiner eigenen alltäglichen Feigheit können sich Gewissen institutionell und persönlich äußern, wenn sie gebraucht werden.

5. Ein fünftes Kennzeichen des 20. Jahrhunderts ist die wachsende Diskrepanz zwischen der Unfähigkeit, ethisch, menschlich, rechtlich, pädagogisch oder politisch zu bewältigen, was wir wissenschaftlich, technisch, industriell und kommerziell können. Die Kluft zwischen beiden Kapazitäten wächst. Die eine wächst schneller als die andere. Die Kultur der Lebensbewältigung, die das humane Zusammenleben und Überleben der Menschen einschließt, bleibt hinter dem Tempo und der Praxis und auch der Faszination des Machbaren und des „Laufenden“ zurück. Die Praxis des Machbaren sollte eigentlich im Dienst der Lebensbewältigung stehen, läuft aber allzu oft nur in der Spur ihrer eigenen Dynamik. Sie hat längst ein Kommando in der Geschichte übernommen. Politik, Religion oder Recht geraten allzu oft in den Geruch des Hinterwäldlerischen oder folgenloser Scheinaktivitäten, manchmal nicht ohne eigenes Verschulden. Gern beachtet werden sie dort, wo sie sich für die Produktion von Feindbildern, die Entwicklung von Karrieren und Durchsetzungsstrategien als brauchbar erweisen. Recht und Religion sind die Gedächtnisse für Werte wie Gerechtigkeit, Befreiung, Wahrheit und Versöhnung. Diese Quellen sind noch kaum ausgeschöpft. 

Verantwortung und „Na-Und-Philosophie“

6. Als nächstes Kennzeichen nenne ich die Wandlung im Verständnis von „Verantwortung“. Ein kluger englischer Zeitgenosse hat das englische Wort für Verantwortung „responsibility“ übersetzt mit „response ability“, als die Fähigkeit zu antworten auf das, was in unserer Welt vorging oder vorgeht. Diese Fähigkeit zu antworten auf das, was mich angeht, ist schwindsüchtig. Sie ist der selbständige und tapfere Gegensatz zu jener „Na-Und- Philosophie“, die auf Glück oder Unglück anderer mit einem achselzuckenden „Na – Und ?“ reagiert. Diese Haltung wird befördert durch die Ohnmachtserfahrung vieler Menschen auf unserem Globus, nicht an der Gestaltung und Planung der öffentlichen Dinge teilnehmen zu können. Objektiv kommt hinzu, dass die Komplexität vieler Erkenntnis- und Entscheidungsprozesse abschreckend wirkt, oder zu jenen Vereinfachern treibt, die ihre Gewalt aus der Ohnmachtserfahrung und dem Leiden vieler Menschen schöpfen. Die Fähigkeit menschlich zu antworten, macht den Menschen zum Menschen.

7.    Ein weiteres Kennzeichen ist die wachsende Kluft zwischen arm und reich, die etwa 30 Millionen Menschen, zumeist Kinder, verhungern lässt, während eine Minderheit der Weltbevölkerung im Überfluss lebt. Lebensrettende Ressourcen sind ausreichend vorhanden, Verteilungsgerechtigkeit und politische Phantasie nicht. Die Schere geht auseinander – gegen jedes Gebot der Humanität, aber nicht unbedingt gegen die Gesetze purer Ökonomie. Das bedeutet: Die Gefahr wächst, dass hoffnungslos Arme zu den Placebo-Hoffnungen von Fundamentalismen wie Nationalismus, Ethnozentrismus oder eines Religionsverschnittes flüchten. Geld und Medien zu globalisieren ist leichter als Brot und Lebenschancen. Die Chancen der Gewalt sinken, wenn eine gerechte Verteilung dieser Lebensgüter gelingt.

Primo Levi, ein Überlebender aus Auschwitz, der das Leben nach Auschwitz nicht ertrug, aber ein Botschafter jener bleibt, die völlig stumm gemacht werden sollten, aber nicht stumm sind, verleiht ihnen Stimme: „Im übrigen kann die gesamte Geschichte des kurzlebigen ‚Tausendjährigen Reiches‘ als Krieg gegen das Erinnern neu gelesen werden, als Orwell’sche Fälschung der Erinnerung, Fälschung der Wirklichkeit, bis hin zur endgültigen Flucht vor eben dieser Wirklichkeit.“

Alltagsorte der Erinnerung bewahren

Diese Flucht nicht zu begehen, bedeutet – wie die Alltagsorte der Erinnerung z.B. im Gericht oder im Rathaus – auch die Alltagsorte der Erinnerung in Dörfern und Städten zu bewahren. Wo stand die Synagoge? Was ist zu wissen von den jüdischen Familien, die hier lebten? Wohin flohen sie? Wer bereicherte sich an ihrem Eigentum? Werden sie heute eingeladen, kommt es bestimmt nicht zu einer Wiederbegegnung wohl aber zu einer viel schwierigeren, weil wichtigeren Neubegegnung. Neues Vertrauen wächst langsam.

Die Erfahrungen von solchen Austauschprogrammen und vom Jugendaustausch schaffen menschliche Begegnungen mit der eigenen Vergangenheit und verändern die Gegenwart. Die vielen kleinen Gedenkorte und Gedenkveranstaltungen machen ein zentrales Mahnmal nicht überflüssig. Erst recht macht dieses die authentischen Orte des Leidens als Gedenkstätten, die kleinen Gedenkorte und Veranstaltungen nicht überflüssig. Alle miteinander machen vor allem eines deutlich: Zu sich selbst zu stehen, bedeutet für die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft, dass die Erinnerung an die Opfer auch und gerade ihre ureigenste Aufgabe ist. Das Gedenken der jüdischen Minderheit oder der Roma und Sinti hat als eine Erinnerung der Überlebenden und Nachkommen ihren eigenen Stil und ihre eigene Würde. Sie würden gefährdet, hängten sich die Nachkommen der Täterseite hier einfach nur an.

Gedenken und die Hoffnung für die Zukunft

Die Erfahrung vieler Lernorte wie „Topographie des Terrors“, der Wannsee-Villa, von Dachau, oder Bergen-Belsen, oder das Fritz-Bauer-Institut, vieler Seminare und Begegnungen mit Zeitzeugen in Schulen, Gemeinden und Christlich-jüdischen Gesellschaften zeigen Menschen, die hingehen, hinschauen und hinhören. Sie wissen, die Vergangenheit ist die Vorgeschichte meines Lebens. Wer das Gedächtnis verliert, ist schlimm dran. Wichtige Orientierungen gehen verloren, gerade auch die für eine humanere Zukunft. Martin Buber drückt es l923 so aus: „Und so werden wir uns zur Vergangenheit des Judentums nicht zu stellen haben als zu der Vergangenheit einer Gemeinschaft, der wir angehören, sondern wir werden darin die Vorgeschichte unseres Lebens sehen, jeder von uns die Vorgeschichte seines eigenen Lebens, und wir werden, anders als wir es sonst vermochten, Werden und Bestimmung erkennen.“ Eine Generation, die gedenkt, wird zur Generation einer besseren Zukunft. In der Pessach-Liturgie der jüdischen Gemeinde ist diese Verklammerung von gestern und heute so ausgedrückt: „Ein jeder sehe sich so an als sei er heute aus Ägypten befreit.“

Ich bin sicher, ja ich weiss, dass, wo Menschen so lernen, Hoffnung wächst. Der letzte Kommandant des Warschauer Ghetto-Aufstandes, der Kinderarzt Dr. Marek Edelmann, trug diese Hoffnung l993 in Warschau den Delegierten der Christlich-Jüdischen Gesellschaften aus aller Welt so vor: „Aber wenn es eine Gruppe von Menschen gibt, eine soziale Bewegung, die widerspricht, die nicht schweigt, die keine Ungerechtigkeit, keinen Hunger, keinen Genozid zulassen will, dann hat unsere Erde eine Chance. Dann gibt es Hoffnung.“!

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