von Martin Stöhr
„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“
Dieser Text ist in unzähligen in- und ausländischen Schulbüchern und Gedenkreden verbreitet worden. Zu Recht. Es benennt selbstkritisch eine Haltung, die exemplarisch nach dem Schuldigwerden am Anfang von Unrecht und Gewalt fragt. Varianten fügten in die Liste mal die Katholiken, mal die Juden, mal die Homosexuellen ein. Nach dem Anlass und dem Inhalt dieser verdichteten Position befragt, erklärte Martin Niemöller später im Gespräch mit Hannes Karnick und Wolfgang Richter (zit. nach: „Niemöller – Was würde Jesus dazu sagen?“, Ffm 1986)
„Das war kein Gedicht, nein, ich hatte mal in (Hans-Joachims) Oefflers Gemeinde (in Kaiserslautern-Siegelbach Ostern 1976) gepredigt…Da hatten wir hinterher eine Besprechung in einem Gemeindesaal…Da haben die Leute….vom Leder gezogen. Und dann haben sie gefragt, ob wir denn nicht aufgewacht wären nach der ‚Kristallnacht’ 1938. Und ich sage, um Gottes Willen, also fragen Sie mich nicht nach 38, ich bin 37 in die Gefangenschaft gekommen.“ Er verweist darauf, dass nach dem Reichstagsbrand und dem. „Ermächtigungsgesetz“ (23.3.1933) „erst mal die Kommunisten eingesperrt“ wurden. Die „waren ja keine Freunde der Kirche, im Gegenteil, und deshalb haben wir damals geschwiegen…. Es gab keine Niederschrift oder Kopie von dem was ich gesagt hatte, und es kann durchaus gewesen sein, dass ich das anders formuliert habe. Aber die Idee war jedenfalls: Die Kommunisten, das haben wir ruhig passieren lassen; und die Gewerkschaften, das haben wir auch noch passieren lassen; und die Sozialdemokraten haben wir auch noch passieren lassen. Das war alles nicht unsere Angelegenheit. Die Kirche hatte ja mit Politik damals noch gar nichts zu tun…wir wollten für die Kirche feststellen, das ist nicht recht und das darf in der Kirche nicht Recht werden.“
Deshalb habe man sich gegen die Einführung der antijüdischen Gesetzgebung in die Kirche und den staatlichen Druck gewehrt. Deshalb habe man „Nein!“ gesagt. „Das war wohl die erste contra-antisemitische Stellungnahme.“ Seine und die Schuld der Kirche beschreibt er mit den Worten: „Wir haben uns noch nicht verpflichtet gefühlt, für Leute außerhalb der Kirche irgendetwas zu sagen…so weit waren wir noch nicht, dass wir uns für unser Volk verantwortlich wussten.“ Deswegen nennt er 1976 in der spontan geführten Diskussion als Beispiele eines von ihm und der Kirche versäumten politischen Widerstandes nur politische Gegner der neuen Regierung aus NSDAP und Deutschnationaler Volkspartei.
Zu diesen knappen Zeilen ist oft zugespitzt gefragt worden, warum das „Abholen“, das „Einsperren“, die Deportation der Juden fehle. Es wurde die Vermutung geäußert, Martin Niemöller sei einer antisemitischen Ausblendung der Juden erlegen, die sich mit seiner deutschnationalen Vergangenheit erklären lasse. Wer Niemöllers Widerstand gegen den Nationalsozialismus vor 1945 sowie sein Engagement nach 1945 für Frieden und Völkerversöhnung, für internationale Gerechtigkeit und für Menschenrechte als kommunistisch, als deutsche Nestbeschmutzung, als Verrat am deutschen Volk diffamierte, griff gelegentlich auch zu diesen Vorwürfen. Sie begleiteten den politisch engagierten Theologen sein Leben lang.
Anderer Art ist Daniel J. Goldhagens Kritik[1]. Für ihn ist er im Rahmen seiner Sichtung damaliger kirchlicher Erklärungen „gleichzeitig überzeugter Nazigegner und überzeugter Antisemit“. Goldhagen geht aber weder seinem Widerstand wie seinem Antijudaismus inhaltlich näher nach. Er belegt nur mit einem Zitat, dass seine gelegentlichen antijüdischen Äußerungen der christlichen Abgrenzungstradition vom Judentum entstammen, die sich im Neuen Testament finden. War der Widerstand neu und tapfer – auch und gerade in seiner Ablehnung des gesellschaftlichen und staatlich verordneten Antisemitismus – so war eine theologisch antijudaistische Haltung eine alte Denkschule und Praxis. Erst im christlichen Glauben komme die Berufung des jüdischen Volkes an ihr Ziel. Goldhagen verschweigt nicht Niemöllers radikales Schuldbekenntnis gerade auch gegenüber den Juden wie gegenüber den östlichen Nachbarn, den Griechen oder den Kommunisten. Das zeigen seine Predigten, Vorträge oder Interviews nach seiner Befreiung aus dem KZ: Das Schuldbekenntnis sieht der polnische Leiter des Staatlichen Museums Maidanek in Lublin, Thomasz Kranz[2], deswegen als ebenso wichtig wie singulär für einen moralischen Neuanfang des deutschen Volkes an. Gleichzeitig muss er konstatieren, dass Niemöllers Position ab 1945 (wie Karl Jaspers[3] und später Alexander und Margarete Mitscherlich[4]) in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland auf „organisierte Unbußfertigkeit“ (M. Niemöller) stieß.
Der folgende Text versucht, anhand von Niemöllers Äußerungen sowohl die geschichtlichen Hintergründe wie seine Lernprozesse aufzuklären.
II
Ein „Leben lang zu lernen“ – die Absicht bejahen viele Menschen. Sie zu realisieren fällt schwer. Für Martin Niemöller war der Satz keine Phrase. „Wenn ich nicht mehr lernen kann, werde ich den lieben Gott bitten, meinem Leben ein Ende zu machen“, sagte er auf seine alten Tage. Er wäre nicht „erbleicht“, wie Bertolt Brechts Herr Keuner, als dessen Bekannter sagen musste „Oh, Sie haben sich gar nicht verändert!“ Ihn zeichnete die Fähigkeit aus, zu lernen, gegen eigene Traditionen, gesellschaftliche Trends und staatlichen Anpassungsdruck; biblisch gesprochen: umzukehren, eigene Irrwege sowie die der Gesellschaft klar zu benennen und Schuld nicht unter den Teppich des Verdrängens oder Aufrechnens zu kehren.
Als preußischer Protestant aufgewachsen, hatte Martin Niemöller sein Leben lang einiges zu lernen und zu verlernen. Die ihn formende Tradition kannte eine weithin unbefragte „Ehe“ von Thron und Altar, in der vaterländische Gesinnung und christliche Frömmigkeit ebenso kompatibel waren wie Obrigkeitshörigkeit und Judenverachtung. Damit war nicht ein rassistischer Judenhass gemeint. Für diesen hatten im naturwissenschaftlich geprägten 19. Jahrhundert neben anderen der Journalist Wilhelm Marr (1879: „Vom Sieg des Judentums über das Germanentum“), der Ökonom Eugen Dürimg („Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage“, 1881) oder Richard Wagners Schwiegersohn, der Kulturphilosoph Houston Stewart Chamberlain („Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, 1899), ein klares Feindbild und angeblich wissenschaftliche Begriffe von Rasse und Antisemitismus allen Gesellschaftsschichten zur Verfügung gestellt.
Aber es gab jene alte christliche Strömung, die den Juden die Schuld am Tod Jesu anlastete und zugleich ihre Verfolgungsgeschichte als göttliche Strafe „legitimierte“. Adolf Stoecker, auch im Elternhaus Niemöllers hoch geschätzter protestantischer Sozialreformer, als Hofprediger entlassen (Wilhelm II: „Christlich-Sozial ist Quatsch!“), gründete 1879 gegen die „gottlose“ Sozialdemokratie seine „Christlich-Soziale Arbeiterpartei“. Den Antijudaismus religiöser Herkunft lud er mit einer deutschnationalen Verachtung gegen die „fremdvölkischen“ Juden auf. Er versprach sich mit dieser demagogischen Mischung einen Zulauf der Massen. Aus der akademischen Zunft lieferte der Strasse, dem Klein- wie dem Grossbürgertum der Historiker Heinrich von Treitschkes die überaus schlagkräftige Parole: „Die Juden sind unser Unglück!“(1879). Alle studentischen Verbindungen hatten eine Klausel, die Juden als Mitglieder ausschloss. Haus- und hoffähig wurde so eine elementare antijüdische Menschen- und Minderheitenverachtung, an die der Nationalsozialismus nahtlos anknüpfen konnte.
Diese grob skizzierte, dumpfe Klima wirkte lange, war in Krisensituationen zur Sündenbocksuche abrufbar und hatte für die jüdische Gemeinde in Deutschland verheerende Folgen. Nahezu „selbstverständlich“ hatte sich im 19. Jahrhundert ein unterschiedlich motivierter Antisemitismus nicht nur in der deutschen Gesellschaft eingenistet. Allerdings wurde er nur in Deutschland 1933 zu einem auch vorher von den Nationalsozialisten nicht verschwiegenen Regierungsprogramm. Es führte bis 1945 zur fast völligen Vernichtung des mittel- und osteuropäischen Judentums. Die aufklärende und humane Alternative, wie sie in den Niederlanden, in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und in der Französischen Revolution wirksam wurde, wurde in Deutschland weder kulturell noch politisch wirksam – obwohl sie hierzulande z.B. durch Moses Mendelsohn jüdisch und Gotthold Ephraim Lessing christlich und andere gedacht und veröffentlicht worden war. Dieser ideenreiche, aber politikarme Ansatz wurde mit der geballten Gewalt von Vorurteilen, moderner Propaganda, Verwaltung, Technik und Gleichgültigkeit 1933 – 1945 zertreten.
III
Niemöllers Herzenswunsch, nach dem Abitur in der kaiserlichen Marine zu „dienen“, ging 1910 in Erfüllung. Den ersten Weltkrieg beendete er als erfolgreicher U-Bootkommandant. Dem Befehl, seine Flotte auszuliefern und zu versenken, widersetzte er sich. Ein klarer Fall einer von seinem Gewissen gesteuerten Befehlsverweigerung. Um nicht in einem Staatsgefüge, sondern frei und nur dem christlichen Gewissen verpflichtet, „dem Volk zu dienen“, wie er sein Berufsethos in seiner Autobiographie „Vom U-Boot zur Kanzel“ (1934) nennt, entschloss er sich, Pfarrer zu werden. Die völkischen Parteien schienen ihm auf der politischen Ebene allein geeignet, die „tiefe Not“ des deutschen Volkes zu heilen. Im März 1924 und noch im März 1933 wählte er NSDAP, die im Artikel 24 ein „positives Christentum“ zu vertreten versprach, was in breiten Kreisen eine Negation des Judentums einschloss.
Seine Einstellung begann sich nach dem Ermächtigungsgesetz mit seiner „Entmächtigung“ der auch von ihm nicht geliebten Weimarer Demokratie, mit der Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Organisationen und Medien sowie der Ausschaltung der kommunistischen und sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten langsam zu ändern. Bis heute erstaunt, wie weitgehend widerspruchslos die Beseitigung von Rechtsstaat und Demokratie in Deutschland hingenommen wurde. Nach dem staatlich angeordneten Judenboykott (1.4.33) und dem Berufsverbot für Juden im öffentlichen Dienst (7.4.33) sah Niemöller auch die Evangelische Kirche unter dem staatlichen und rassistischen Druck, sich gleichschalten zu lassen. Hier wehrten sich seine freiheitsliebende Widersetzlichkeit und sein protestantisches Gewissen. Keine politische Macht sollte in der Kirche das Sagen haben. Weiter beim jüdischen Drogisten um die Ecke zu kaufen, war eine alltägliche Folge seiner damals geäußerten Forderung, man benötige jetzt dringend und wahrhaftig „Menschenschutzvereine“ statt Tierschutzvereine, für die die Schule seiner Kinder sammelte.
Die erste große Herausforderung an die und in der Kirche stellte sich durch die Christinnen und Christen, die jüdischer Herkunft waren: Viele von ihnen waren Mitglieder seiner Dahlemer Kirchengemeinde. Niemöller vertrat in seinem konkreten Verantwortungsbereich, der Kirche, das Recht dieser Menschen, die durch den herrschenden staatlichen Rassismus bedroht waren. Sie mit Zivilcourage frei gegen Diskriminierung, Gewalt und Unrecht zu verteidigen, bestimmten seine Predigt und seine Alltagsarbeit.
IV
Thomas Mann, der im us-amerikanischen Exil die Niemöllers Dahlemer Predigten herausgab, schrieb in seinem Vorwort: „Warum musste der tapfere Bekenner Gottes und der Freiheit eines Christenmenschen im Konzentrationslager verschwinden? Weil das Hitler-Regime nur den einen Zweck hatte…, das deutsche Volk mit allen Mitteln…für den totalen Krieg in Form zu bringen…Dieser Geistliche störte es wirksam darin!“ Niemöller wollte sich, so Thomas Mann, nicht hinter dem weit verbreiteten „elenden Fetzen der Neutralität“ verstecken und zusehen, „wie andere ans Kreuz geschlagen wurden.“ Seine erste Entlassung aus dem Pfarramt provozierte Niemöller im November 1933, als er sich mit einigen Kollegen weigerte, „Ariernachweise“ auszustellen. Sie wurden aus den gemeindlichen Personenstandsunterlagen, den Kirchenbüchern, erhoben. Mit dieser kirchlichen Hilfe wollte der Schnüffelstaat jeden jüdischen Vorfahren aufspüren, um alle Nachfahren aus der deutschen Gesellschaft ausschließen. Er ignorierte seine Amtsenthebung und arbeitete weiter, immer „aufmerksamer“ überwacht und kontrolliert.
Bei einem Empfang evangelischer Kirchenführer in Hitlers Reichskanzlei (25. Januar 1934) kam es zu einem bezeichnenden Vorfall: Niemöllers Telefon war abgehört worden Seine mehr als respektlosen Äußerungen über die NS-Führungsschicht wurden von Göring ebenso servil wie dramatisierend in die Runde gebracht. Hitler verlangte von allen, damit auch von Niemöller, dem einzigen anwesenden Gemeindepfarrer, die „Sorge um Volk und Vaterland, um das Dritte Reich“, ihm, dem „Führer“, zu überlassen. Beim Abschied sagte Niemöller zu Hitler: „Dazu muss ich erklären, dass weder Sie noch sonst eine Macht in der Welt in der Lage ist, uns als Christen die uns von Gott auferlegte Verantwortung für unser Volk abzunehmen.“ Niemöller verstand seinen Widerstand als „Dienst am Volk“, der an keinen anderen Menschen zu delegieren sei. Die christliche Verantwortung betrifft nicht nur das private Seelenheil, sondern das Leben der Gesellschaft. Deutlich machen alle Äußerungen dieser Zeit, dass sein Eintreten für Freiheit und Recht in der Kirche und für alle ihre Mitglieder eine weitere, eine politische Dimension bekommt. Diese im „Kirchenkampf“ nicht bewusst und für alle Opfer des Staates wahrgenommen zu haben, wird er sein Leben lang seine und seiner Kirche Schuld nennen.
Martin Niemöller wie Dietrich Bonhoeffer sahen mit der kleinen Gruppe ihrer Freunde deutlich, dass jede Kritik an der von der Regierung angestrebten Apartheid-Gesellschaft mit ihrer Einteilung in Menschen erster und zweiter Klasse, Herrenmenschen und Untermenschen, an den Nerv des NS-Regimes rührten. Aber die Bekennende Kirche hatte in ihrer übergroßen Mehrheit weder die Kraft, noch die Freiheit und vor allem nicht die praktische und gedankliche Distanz zur generationenlang gelernten Judenverachtung, die Regierung und Volk in weiten Teilen einte. Erst nach 1945 sollte sich hier Grundlegendes ändern.
Und doch: In Unterricht und Predigt immer wieder zu sagen, dass Jesus und die Apostel Juden waren, dass das Alte Testament kein „Judenbuch voller Viehhändler- und Zuhältergeschichten“ sei, sondern Gottes Wort, dass das „deutsche Volk nicht ewig“ und seine Regierung nicht „Gott gleich“ sei, das waren auch politische Aussagen. Die ihn überwachende und bis zur Verhaftung 1937 mit über 40 Prozessen verfolgende Polizei und Justiz verstanden wie die wachsende Gemeinde zu Recht solche Aussagen auch als politische Stellungnahmen. Er hatte gesagt, „Wenn die Welt fordert, was Gottes ist, dann müssen wir mannhaft Widerstand leisten!“ Und „Gottes“ ist bekanntlich als sein Ebenbild jeder Mensch. Er darf nicht in die Hände der Menschen fallen, die ihn nicht voll als Mitmenschen respektieren. Anwalt des Menschen zu sein, war Niemöllers Aufgabe, auch wenn er seine Parteinahme (noch) nicht auf alle Opfer der Unmenschlichkeit ausdehnte. Aber er wurde 1937 nicht grundlos „Hitlers persönlicher Gefangener“. Predigt, Unterricht, Vorträge, Bekenntnisse, Tagungen und Gemeindeveranstaltungen waren öffentliche, also auch politische Ereignisse.
V
Dietrich Bonhoeffer sah am Anfang der Nazizeit in der Frage Unrechtsstaat und Judenverfolgung gewiss schon klarer. Er wurde für Niemöller einer der jungen Kollegen, auf deren Rat er hörte – genau so wie auf den von Ariergesetzgebung und Berufsverbot betroffenen Juristen Friedrich Justus Perels (später Justitiar der Bekennenden Kirche, ermordet 10.5.45 mit Klaus Bonhoeffer und Rüdiger Schleicher in Berlin) und auf den evangelischen Neutestamentler Franz Hildebrand, ebenfalls ein – im Nazijargon – „Nichtarier“. Niemöller stellte ihn, der bis zu seiner Emigration 1937 keine Stelle fand, in seiner Gemeinde an.
In einem Vortrag (April 1933) sprach Bonhoeffer von einer dreifachen Aufgabe der Kirche gegenüber dem Staat: Sie habe einmal den Staat nach der „Legitimität seines Handeln“ zu fragen; es genüge nicht Gesetze zu erlassen, sie müssten auch einer universalen und humanen Legitimität verpflichtet sein. Zum andern habe die Kirche nicht nur für die christlichen Opfer staatlicher Gewalt einzutreten, sondern für alle Opfer. Schließlich habe sie die Opfer unter dem Rad nicht nur zu verbinden, sondern „dem Rad in die Speichen zu fallen“, damit nicht neue Opfer entstehen. Damit erinnert Bonhoeffer an die weithin vergessene christliche Tradition, die eine Schuldübernahme beim Tyrannenmord der Tatenlosigkeit oder Gleichgültigkeit – als der größeren Schuld – vorziehen müsse. In vielen Predigten und Erklärungen und Treffen klärte sich die Position der protestierenden Protestanten.
Als der Staat gemäss seiner Beschlüsse über den Ausschluss von „Nichtariern“ (7.4.1933) aus dem öffentlichen Dienst auch von der Kirche verlangte, „Nichtarier“, also getaufte Mitglieder jüdischer Abstammung, auszuschließen, erhob sich im Mai 1933 deutlicher Protest der „Jungreformatorischen Bewegung“. Die Freiheit der Kirche war durch den Staat und die ihn beherrschende Ideologie des Judenhasses bedroht, im Innern durch die Minderheit der nazifreundlichen „Deutscher Christen“ und durch eine Obrigkeitshörigkeit, die eine Parteinahme vermeiden wollte. Es ging um die Gleichberechtigung der ChristInnen jüdischer Herkunft. Etwa 200.000 bis 300.000 Personen umfasste dieser Kreis im damaligen Deutschland. Gesamtgesellschaftlich erfuhren sie, wie die Juden (ca. 500.000) kaum helfende Solidarität. [5][5]Das später von Niemöller häufig ausgesprochene Schuldbekenntnis bezieht ihn selbst in dieses Versagen ein. Die gleichen Rechte der ChristInnen jüdischer Herkunft in der Kirche wurden am Beginn des sog,. Kirchenkampfes von Karl Barth, dem anderen großen Freund Martin Niemöllers, im Juni 1933 so eingefordert: „Die Gemeinschaft der zur Kirche Gehörigen wird nicht durch das Blut und also auch nicht durch die Rasse, sondern durch den Heiligen Geist und durch die Taufe bestimmt. Wenn die deutsche evangelische Kirche die Judenchristen ausschließen oder als Christen zweiter Klasse behandeln würde, würde sie aufgehört haben, christliche Kirche zu sein“. (Theologische Existenz heute). Diese entschiedene Position war in der Tat die „erste contra-antisemitische Stellungnahme.“
VI
Niemöller formulierte für die Selbstverpflichtung und Mitgliedskarte des Pfarrernotbundes, dessen Vorsitzender er im September 1933 wurde, den entscheidenden Satz, der zu unterschreiben und öffentlich zu bekennen war: „In solcher Verpflichtung bezeuge ich, dass eine Verletzung des (christlichen) Bekenntnisses mit der Anwendung des Arierparagraphen im Raum der Kirche geschaffen ist!“ Ein Drittel der evangelischen Pfarrer schlossen sich dem Pfarrernotbund an, aus dem später die Bekennende Kirche wurde. Ohne das Versagen der Bekennenden Kirche zu schönen, bleibt doch die Frage: Was wäre geschehen, wenn die Industrie- und Handelskammern, die Ärzte- und Kassenvereinigungen, die Sängerbünde und Sportvereine, die Universitäten und Kulturinstitute ähnliche Beschlüsse gefasst hätten? Hier wie dort wurde der Gebrauch des Gewissens Einzelnen überlassen. Und die blieben Vereinzelte, konnten also leicht in Nischen flüchten, oder ebenso leicht isoliert, eingeschüchtert und ausgeschaltet werden. Ein lebensrettendes Ethos der Institutionen und Organisationen war angesichts eines mächtigen Erbes an Obrigkeitshörigkeit nicht gelernt worden.
Es ist allerdings nicht zu verschweigen, wie schwer sich auch Niemöller gegen den lang und breit tradierten antisemitischen common sense in der deutschen Gesellschaft tat. Er vertrat z.B. im November 1933 einerseits die volle Gleichberechtigung der sog. Judenchristen und verlangte andererseits von ihnen zugleich „Zurückhaltung“, damit sie „kein Ärgernis“ geben. Gelegentlich räumte er ein, dass jüdische Menschen ihm nicht unbedingt „sympathisch“ seien. Die illegalen Synoden der Bekennenden Kirche fanden keine klare Stellungnahme, von den mit staatlicher Hilfe „braun“ unterwanderten evangelischen Synoden und Kirchenvorständen ganz zu schweigen. Auch zu den im September 1935 auf dem Parteitag der NSDAP verabschiedeten „Nürnberger Gesetzen“ gab es zunächst keine Stellungnahme. Nach dem Krieg, von Günter Gaus 1963 zu seiner Abneigung gegen Juden befragt, sagte Niemöller, es sei ihm erst im Konzentrationslager aufgegangen, dass „ich als Christ nicht nach meinen Sympathien oder Antipathien mich zu verhalten habe, sondern dass ich in jedem Menschen den Menschenbruder zu sehen habe“, für den Christus lebte und starb. Das schließe „jedes Antiverhalten gegen eine Gruppe von Menschen irgendeiner Rasse, irgendeiner Religion, irgendeiner Hautfarbe aus.“
In der Dahlemer Gemeinde[6][6] wurde zur Hilfe für Juden ein Netz von haupt- und ehrenamtlichen (vor allem) Helferinnen (z.B. Charlotte Friedenthal, Helene Jacobs, Marga Meusel, Gertrud Staewen) aufgebaut. Niemöller war ihr Dienstvorgesetzter, der ihre Arbeit deckte. Leidenschaftlich nannte er jene Einstellung einen „kalten Grundsatz ‚Juden werden getauft’“, wenn dann nicht gefragt würde, was aus den Menschen wird. So würden weder die Taufe noch die Menschen ernst genommen. An vielen Punkten wird deutlich, wie Niemöller gegen seine Traditionen und Neigungen, denen er dann auch wieder einmal erlag, seinen klaren Kurs gegen die eigene Staatsmacht und eine staatsfromme Gleichgültigkeit in der Kirche fuhr, die im „jüdisch-bolschewistische Untermenschen“ den einzigen Sündenbock und Feind sah, der ein für allemal auszurotten war.
VII
Im Jahr der Berliner Olympiade 1936 veröffentlichte die Bekennende Kirche endlich eine eindeutige Stellungnahme. Als In- wie Ausländer sich von der Propagandaschau verzaubern ließen, überreichte die BK in der Reichskanzlei einen Brief an Hitler (4. Juni 1936), der neben anderen auch Niemöllers Unterschrift trägt. Etwas gekürzt und entschärft wurde er auch als Kanzelabkündigung am folgenden Sonntag verlesen. Von den BK-Pfarrern, die den Brief verlasen, wurden viele verhaftet. In dem Brief an Hitler, der rasch in ausländischen Zeitungen publiziert wurde, hieß es eindeutig: „Wenn hier Blut, Volkstum, Rasse und Ehre den Rang von Ewigkeitswerten erhalten, wird der evangelische Christ durch das erste Gebot gezwungen, diese Bewertung abzulehnen. Wenn der arische Mensch verherrlicht wird, so bezeugt Gottes Wort die Sündhaftigkeit aller Menschen, wenn dem Christen im Rahmen der nationalsozialistischen Weltanschauung ein Antisemitismus aufgedrängt wird, der zum Judenhass verpflichtet, so steht für ihn dagegen das Gebot der Nächstenliebe.“ An anderer Stelle wird von der „schweren Gewissensbelastung“ gesprochen, die in „der Tatsache“ besteht, „dass es in Deutschland, das sich selbst als Rechtsstaat versteht, immer noch Konzentrationslager gibt und dass die Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei jeder richterlichen Nachprüfung entzogen sind.“ Die Sorge über eine manipulierende Kinder- und Jugenderziehung wird ebenso wenig verschwiegen wie die Kritik an der „Wahl“ zum „Reichstag“ am 29. März 1936, die 99% Zustimmung zu Hitlers Politik brachte. Kritisiert wird die „Verehrung“, die Hitler „in einer Form entgegengebracht wird, wie sie allein Gott zukommt.“ 28 Anlagen belegen jeden vorgebrachten Kritikpunkt.
Es ist mit Recht Niemöller als Leistung zugeschrieben worden (L. Siegele- Wenschkewitz), dass die von den Nazis zum „Problem“ gemachten Juden, für Niemöller nicht das Problem waren. Er sprach von dem „Arierproblem“, machte also die Mehrheitsgesellschaft zum Problem. Diese schloss ihn ein. Niemöller kehrte die „Judenfrage“ um zur „Arierfrage“. Die Nichtjuden sind nach der Bewährung ihrer Mitmenschlichkeit gefragt. Wie verhalten sie sich? Sie sind das Problem, nicht die Juden. Hier partiell geholfen zu haben, nennt er später das Versagen, das er in radikaler Ehrlichkeit als seine persönliche Schuld und die seines Volk und seiner Kirche benennen wird.
Als er 1956 von dem Gründer des jüdischen Dokumentationszentrums „Wiener Library“ (über Amsterdam und London aus Berlin nach Tel Aviv gerettet), Alfred Wiener, nach seinem Antisemitismus gefragt wird, verweist Niemöller auf seine „antisemitische Vergangenheit und Tradition“, auf Adolf Stoecker. Dann fährt er fort: „ Erst im Laufe der Jahre der Weimarer Republik, und dann allerdings schlagartig beim Aufkommen des Nationalsozialismus und seiner Machtergreifung habe ich über diese Dinge …anders zu denken angefangen…Ich bitte Sie, …mir zu glauben, dass ich 1945 als ein völlig anderer aus meiner achtjährigen Gefangenschaft nach Hause zurückgekehrt bin.“
Bei seinem ersten Treffen des Bruderrates der Bekennenden Kirche am 21.-24. August 1945 in Treysa führt er das aus: „Nein, die eigentliche Schuld liegt auf der Kirche, denn sie allein wusste, dass der eingeschlagene Weg ins Verderben führte, und sie hat unser Volk nicht gewarnt.“ Der BK schreibt er ein „besonders großes Maß von Schuld zu, denn sie sah am klarsten, was vor sich ging…sie hat sogar dazu gesprochen und ist dann doch müde geworden….Wir allein haben uns selber anzuklagen und Konsequenzen daraus zu ziehen.“ Er, der sich später als Ökumeniker bezeichnen wird, der einer der Präsidenten des Ökumenischen Rates der Kirchen wird, der sich als Kosmopolit“ versteht, hat den verengten nationalen wie kirchlichen Blickwinkel überwunden, den er als Schuld der Kirche und der Deutschen ansehen muss.
Er betont die Menschenwürde eines jeden Menschen, die jedem als Gottes Geschöpf und Ebenbild zukommt: „Wir haben deshalb eine andere Stellung zu unseren Mitmenschen; Wir wissen, dass sie gleich uns einen Anspruch auf Recht und Freiheit haben und dass sie darum niemals für uns und für andere zum Gegenstand der Ausbeutung werden sollten….Deshalb ist uns aber die Staatsform und deshalb sind uns die Grundsätze nicht gleichgültig, nach denen das öffentliche Leben gestaltet wird….Die Demokratie, wie sie in der abendländischen Welt seit dem Eintritt des Christentums erscheint, hat nun einmal mehr mit dem Christentum zu tun als irgendeine autoritäre Form der Staatsführung, die Recht und Freiheit für den Einzelnen verneint.“ In einer im Januar 1946 mehrfach in vielen deutschen Universitätsstädten gehaltenen Rede wurde er, wie in seinen Predigten und Vorträgen, konkret: „Es ist viel Jammer über unser Elend, über unseren Hunger, aber ich habe in Deutschland noch nicht einen Mann sein Bedauern aussprechen hören…über das furchtbare Leid, das wir, wir Deutsche über andere Völker gebracht haben, über das, was in Polen passiert ist, über die Entvölkerung von Russland und über die 5,6 Millionen toten Juden.“ Berichte über seine Vorträge melden an solchen Stellen immer wieder „Empörung, Scharren und Zwischenrufe: ‚Und die Schuld der anderen?’“
Er bestand darauf, dass vor den Vertretern der ökumenischen Christen im Oktober 1945 der Satz in das Stuttgarter Schuldbekenntnis eingefügt wird: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“
Sein späteres Engagement für eine gerechte, internationale Welt („Eine Welt oder keine!“), für Versöhnung und Frieden, für die Absage an jeden Nationalismus und an Feindbilder hat in der biblischen Vorstellung seine Wurzel: In den verfolgten Kommunisten, in den verfolgten Juden hätten wir erkennen müssen, dass in ihnen Jesus selbst verfolgt, gefangen oder getötet wird. Nicht an ihrer Seite zu stehen, bedeutete auch, nicht an der Seite Jesu zu stehen. Es hätte nicht zu dem Blutbad kommen müssen, wären die zum Tode Bestimmten außerhalb der Kirche als „die geringsten der Brüder Jesu“ (Mt 25) erkannt und solidarisch geschützt worden. Davon ist Niemöller fest überzeugt. Ebenso oft hat er – selbstkritisch wie kaum sonst jemand – bekannt, dass zu spät und zu schwach Einspruch gegen das rassistische Unrecht und den Krieg erhoben wurde – von ihm und von seinen Zeitgenossen.
Thomas Mann hat Niemöllers Position in der Nazizeit so beschrieben „God is my Führer“. Gott oder Christus – das war seine Bezugsgröße, die ihm Kritik und Relativierung des „Führers“ und seiner Mitläufer ermöglichte. Das gab ihm die Freiheit „Gott mehr zu gehorchen als den Menschen“ (ApGesch 5,29). In der Zeit nach dem Massenmorden des 2. Weltkrieges, in der Bemühung, Schuld nicht nur zu erkennen, sondern auch öffentlich zu bekennen, wird Gott oder Christus herausfordernd sichtbar in jedem geschundenen Mitmenschen. Die Kirchengrenzen begrenzen keine Verantwortung.
[1] Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996, S. 589.
[2] Thomas Kranz (Hg), Das Verbrechen des Nationalsozialismus im Geschichtsbewusstsein und in der historischen Deutung in Deutschland und Polen, Lublin 1998.
[3] Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands, Heidelberg 1946.
[4] Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967.
[5] Vgl. Ursula Büttner, Martin Greschat, Die verlassenen Kinder der Kirche. Der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im „Dritten Reich“. Göttingen 1998, Leonore Siegele-Wenschkewitz, Die Judenfrage im Leben Martin Niemöllers. In: Ursula Büttner (Hg), Die Deutschen und die Judenverfolgung im „Dritten Reich“. Hamburg 1992; Wolfgang Gerlach, Zischen Kreuz und Davidstern. Bekennende Kirche in ihrer Stellung zum Judentum im „Dritten Reich“. Hamburg 1972.
[6] Der Sammelband Olaf Kühl-Freudenstein / Peter Noss / Claus P. Wagner (Hg), Kirchenkamp in Berlin 1932 – 1945. 42 Stadtgeschichten, Berlin 1999, enthält auch ein interessantes Portrait der Dahlemer Gemeinde und ihrer Aktivitäten.