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Wir trauern um Martin Stöhr

Nachruf von Michael Karg, Vorsitzender der Martin-Niemöller-Stiftung

Martin StöhrMit großer Trauer, aber auch mit Dankbarkeit blicken wir auf das, was Martin Stöhr in den vielen Jahren seiner Arbeit für uns bedeutet hat, davon 15 Jahre als Vorsitzender. Er hat uns geholfen, das Erbe Niemöllers nicht als museale Hinterlassenschaft, sondern als lebendige Herausforderung zu verstehen.

Er stand dafür, dass Niemöller gerecht zu werden und von ihm zu lernen heißen muss, seinem Weg der Selbstüberprüfung und Selbstkritik zu folgen. Wir, die wir Stöhr hatten, brauchten keine neuen Entmythologisierer, um der Gefahr zu entgehen, Martin Niemöller zum Denkmal zu reduzieren oder gar ihn zum Heiligen zu machen.

Martin Stöhrs konnte sehr genau auf offene Wunden, auf Selbstwidersprüche und blinde Flecken bei Niemöller hinweisen – aber eben auch auf das, was wir gerade aus ihnen für unsere eigene verantwortbare Arbeit im gegenwärtigen Kontext lernen können und dringend lernen müssen. Dies galt für unser gemeinsames Anliegen eines Jüdisch-Christlichen Gesprächs, welches den Namen auch verdient, ebenso wie für die Fragen von Frieden und Abrüstung. Dass Christentum nie unpolitisch sein kann, war auch seinen immer sehr lesenswerten Auslegungen der Jahreslosung zu entnehmen.

Wenn ich an Martin Stöhr denke, sehe ich den Menschen Martin Stöhr vor mir:

Die blitzenden und einen direkt anschauenden Augen – Neugier und Offenheit ebenso signalisierend wie Selbstironie und Schalk. Eine körperlich manifestierte Willkommenskultur, die bei anderen ankam wie eine Einladung zum vertrauten Gespräch der leisen Töne, mit der Bereitschaft, auch auf das zu lauschen, was der andere (noch) nicht in Worte fassen kann.

Besonders eindrücklich wurde mir dies in einer Diskussion mit Schülern der Martin-Niemöller-Schule in Goddelau: 150 Schüler und Schülerinnen der Jahrgangsklasse 10 hörten unserem Podiumsgespräch über Martin Niemöller aufmerksam zu. Statt danach in die Pause zu stürmen, kamen einige dieser Schüler, erst vorsichtig, dann doch direkt auf uns zu und stellten weitere Fragen, z.T. sehr persönlicher Art.- Da erlebte ich, wie Martin Stöhr mit diesen Jugendlichen ins Gespräch kam. Er, der für diese 15- und 16jährigen nun wirklich ein alter Mann war – er kommuniziert mit ihnen und sie mit ihm auf Augenhöhe. Für mich eine Sternstunde. Ja, so war er. Das zeichnete ihn aus.

In Gesprächen konnte er sich selbst auf die Schippe nehmen und es dadurch auch den anderen leichter zu machen, sich selbst nicht gar zu wichtig zu nehmen. Das bewahrte ihn davor, auch in fundamentalen Fragen plötzlich fundamentalistisch zu werden. Er konnte mit kraftvollen und schnörkellosen Worten auf gesellschaftliche Wunden, fehlgeleitetes Handeln und theologische Gedankenlosigkeit hinweisen – aber er setzte sich selbst nie absolut. „Wer seine eigenen Auffassungen von Gott, Welt und Mensch absolut setzt“, so schrieb er 2013, „(der) braucht die unverfügbare Absolutheit Gottes nicht, wohl aber Mitmenschen, auf die er herabsehen kann“. (Zitat bei Micha Brumlik: Martin Stöhr – ein persönlicher Nachruf)

Vieles von dem, was Martin Stöhr ausgemacht hat, ist bereits gesagt worden. Vieles wäre noch zu sagen. Ich belasse es dabei und füge für die Martin-Niemöller-Stiftung hinzu:

Ohne Martin Stöhr gäbe es keine Martin-Niemöller-Stiftung mehr. Er sprang ein, als Walter Jens das Vorstandsamt abgab. Er führte und begleitete die Niemöllerstiftung in einer und durch eine Zeit der Krise und trug wesentlich mit dazu bei, die Niemöllerstiftung wieder als wichtigen Gesprächspartner und als erkennbare Stimme im gesellschaftlichen Diskurs wahrnehmbar zu machen. Das tat er auch, nachdem er das Amt des Vorsitzenden vor gut 9 Jahren abgegeben hatte. Als ich 10 Tage vor seinem Tod bei ihm war, um mit ihm über eine Reaktion auf die neue Niemöller-Biografie zu sprechen, hatte er bereits ein sechsseitiges Essay dazu verfasst.

Martin Stöhr ist am 4. Dezember 2019, dem Barbaratag, von uns gegangen. Die Legende erzählt, dass die aufgrund ihres Glaubens zum Tode verurteilte Barbara auf dem Weg in das Gefängnis einen Obstbaumzweig mitnimmt, den sie im Gefängnis in einen Behälter mit Wasser stellt und der am Tag ihrer Hinrichtung erblüht. Wie gesagt, eine Legende. Aber als Christen sind wir getragen von einer Hoffnung, die nicht nur das Verwelken und Vergehen, sondern auch das neu Erblühen glaubt. Diese Hoffnung steht auch über dem Abschied von Martin Stöhr.