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Geschichten können Orientierung geben

 

 

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Albert Schweitzer, Martin Niemöller, Dietrich Bonhoeffer, Paul Schneider: Wie können Biographien auch Jugendlichen Orientierung geben?

von Daniel Gaede

 

 

 

 

Anläßlich der Tagung „Ehrfurcht vor dem Leben. Martin Luther & Albert Schweitzer – Bekenntnisse für das Leben“ der Albert-Schweitzer-Gesellschaft e.V. hielt Daniel Gaede am 23.09.2017 in Weimar einen Vortrag, den wir hier dokumentieren

 

Einstieg:

Sie sind mit anderen gefangen in einem Arbeitslager, täglich sterben einige unter den unbarmherzigen Torturen der SS. Sie werden aus der Menge herausbefohlen und zu einem schwerverletzten SS-Angehörigen geführt, der im Sterben liegt. Ihn quält, dass er an der Ermordung von Menschen aller Altersstufen beteiligt war, die – als Juden für minderwertig befunden – von ihm und anderen SS-Angehörigen in ein Haus getrieben wurden, das anschließend von der Einheit in Brand gesteckt wurde – es geht in Flammen auf und wer aus den Fenstern sprang, wurde erschossen; keiner überlebte Es ist sein letzter Wunsch, dass ihm, dem SS-Angehörigen, vor seinem Tod ein Jude ans Bett geholt wird, den er um Vergebung bitten kann.

Der Mann am Bett des SS-Manns Karl hat diese Bitte nicht vergessen können und da er unsicher blieb, ob er den Wunsch nach Vergebung hätte erfüllen oder verweigern sollen, hat er die Geschichte aufgeschrieben und diese Frage lange nach Kriegsende vielen anderen gestellt. Wie würde ich, wie würden Sie antworten? Was bedeutet hier „Ehrfurcht vor dem Leben“ – ist es nicht zum Fürchten und Verrücktwerden, was da Menschen in ihrem Leben sich wie anderen antun und zumuten? Und können solche Berichte wie dieser von Simon Wiesenthal in seinem Buch „Die Sonnenblume“ Orientierung geben, auch Jugendlichen, die Gott sei Dank in anderen Zeiten leben?

Ich selbst wurde mit dieser Geschichte im April 1977 im Jerusalemer „Haus Pax“ durch Joseph Walk konfrontiert, einem überlebenden orthodoxen Juden aus Breslau; wir waren rund 15 junge westdeutsche Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, hatten zuvor noch zwei Wochen in der Volksrepublik Polen und davon die Hälfte der Zeit in der Gedenkstätte Auschwitz mit Überlebenden gesprochen und gearbeitet, bevor wir nun hier, auch durch die Begegnung mit Joseph Walk, mit den Realitäten Israels vertraut gemacht werden sollten. Er sprach mit uns deutsch, das konnte er noch sehr gut, und er wollte von uns wissen, was wir an Stelle von Simon Wiesenthal getan hätten. Auch wenn es ein Blick in einen bodenlosen Abgrund war, zu dem er uns da brachte – er wollte uns nicht zum Schweigen bringen, sondern zum gründlichen Nachdenken: Eine Einladung zum Dialog, denn es war deutlich, dass auch er die Geschichte weitererzählte, um andere und sich selbst zu einem tieferen Verständnis dessen zu bringen, was hier mit „Holocaust“ und in Israel mit „Shoah“, „die Katastrophe“ umschrieben wird. Und es ging ihm nicht primär um Geschichte, sondern um Verständnis für die Hintergründe eines israelischen Alltags, der neue Konflikte barg und von alten Traumata durchzogen war.

Ich habe weder diese Geschichte, noch diese Situation noch Joseph Walk je vergessen – vielleicht ein erstes Beispiel dafür, wie Jugendlichen mit Biographien Orientierung gegeben werden kann.  

I                 Orientierung

Doch was ist „Orientierung“ eigentlich? Sich in Raum und Zeit und auch mit sich selbst zurechtfinden, dazu auch in politischer, religiöser, auch sexueller Hinsicht eine Orientierung haben. Soweit der Duden (https://www.duden.de/Shop/Das-Herkunftsworterbuch-1 Aufruf am 21. 9.2017)

Und etymologsich wird es nochmal interessant: „Orient · orientalisch · Orientale · Orientalist · orientieren · Orientierung“ listet das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache auf und führt aus: Orient m. ‘Himmelsrichtung, Gegend, in der die Sonne aufgeht, Osten, Morgenland, östlich gelegene Länder’ (Gegensatz Okzident), mhd. ōrīent, ōrient, ōrjent, entlehnt aus lat. oriēns (Gen. orientis) ‘Osten, Morgen, Gegend, Länder in Richtung Sonnenaufgang (von Rom aus gesehen)’, substantiviertem Part. Präs. von lat. orīrī ‘sich erheben, aufgehen, entstehen, geboren werden’, wohl nach lat. in oriente sōle ‘in Richtung der aufgehenden Sonne’. orientalisch Adj. ‘den Orient betreffend, östlich, morgenländisch’ (Mitte 16. Jh.), lat. orientālis, afrz. frz. oriental; vgl. spätmhd. ōrientisch. Orientale m. ‘Bewohner der Länder des Orients’ (17. Jh.). Orientalist m. ‘Lehrer, Forscher orientalischer Sprachen, Literatur, Kultur’ (Ende 17. Jh.). orientieren Vb. ‘etw. nach dem Aufgang der Sonne, nach den Himmelsrichtungen ausrichten’ (2. Hälfte 18. Jh.), danach ‘die Lage bestimmen, ausrichten, einstellen, in Kenntnis setzen’, (refl.) ‘sich zurechtfinden, sich einen Überblick verschaffen’, entlehnt aus gleichbed. frz. orienter, s’orienter; Orientierung f. (19. Jh.)

(„Orientierung“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/Orientierung>, abgerufen am 21.09.2017.)

Demnach lagen wir 1977, vor nun 40 Jahren, nicht ganz verkehrt, als wir uns in Jerusalem über die Verhältnisse in Europa, dem Okzident, aufklären lassen wollten, um uns nicht nur in Nahost, sondern auch zuhause besser zurechtzufinden …

Eine ethische Orientierung auf alles Leben, gekoppelt mit entsprechendem Handeln , ist notwendig und über die Beiträge Albert Schweitzers dazu haben wir in den letzten zwei Tagen viel erfahren können. Doch wieweit helfen uns diese Ansätze in unübersichtlichen, gefahrvollen Situationen, heute, mit Blick auf Donald Trump und Kim Jong Un, die Rohingya in Mianmar, die von Kriegen und Konflikten verschlissenen Gesellschaften in Nahost und anderen Erdteilen, die Europäische Union, die Geflüchteten und nur begrenzt hier Angekommenen, die Bundesrepublik, die ab morgen einen neuen Bundestag haben wird, mit Blick auf unsere Gesellschaften, unsere Arbeitsorte und Organisationen, in denen wir tätig sind, unsere Freunde und Familie, auf uns selbst? Und reicht es da, allein über das Gute, Erstrebenswerte, Vorbildliche nachzudenken? Genau genommen, Nein, seit den Früchten vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, seit Abel und Kain ist dies nicht mehr möglich. Wir sind aufgefordert, diese Lasten insgesamt zu tragen und nicht „das Böse“ in „Schurkenstaaten“ zu verlagern und uns selbst dann gut zu finden, wenn man zuerst und allein an sich oder sein Land denkt, wie wir es gerade erleben, denn, so schreibt Hannah Arendt im November 1944 in New York in dem Aufsatz „Organisierte Schuld“ – in Auseinandersetzung mit dem Kollektivschuld-Vorwurf gegenüber Deutschen:

„Politisch gesprochen ist die Idee der Menschheit, von der man kein Volk ausschließt und innerhalb derer man keinem ein Monopol des Lasters zubilligen kann, die einzige Garantie dafür, dass nicht eine „höhere Rasse“ nach der anderen sich verpflichtet glauben wird, dem Naturgesetz vom „Recht der Stärkeren“ zu folgen und die „niederen lebensunfähigen Rassen“ auszurotten – bis schließlich am Ende des „imperialistischen Zeitalters“ wir uns auf einer Bahn bewegen werden, auf der die Nazis wie dilettantische Vorläufer einer zukünftigen Politik sich ausnehmen werden. Eine nichtimperialistische Politik zu machen, eine nichtrassische Gesinnung sich zu bewahren wird täglich schwerer, weil täglich klarer wird, was für eine Last die Menschheit für den Menschen ist.“

Mehr zu den Rahmenbedingungen, die es „normalen Männern“ ermöglíchen, zu Massenmördern zu werden ist in dem hervorragenden Film „Das radikal Böse“ von Stefan Ruzowitzky zu finden; dort sind alle wichtigen Ergebnisse psychologischer Forschung zu Nationalsozialismus und Militär seit 1945 zusammengetragen. (https://de.wikipedia.org/wiki/Das_radikal_B%C3%B6se_(Film))

Und was das 20. Jahrhundert insgesamt für uns an Hinweisen zum Handeln in der Gegenwart parat hält, beschreibt Timothy Snyder, Osteuropa-Historiker an der Yale-University (https://de.wikipedia.org/wiki/Timothy_Snyder) in seinem kleinen Band „Über Tyrannei. 20 Lektionen für den Widerstand“ mit historischen Erläuterungen zu 20 knappen Sätzen, das Buch ist aus aktuellem Anlass in diesem Frühjahr erschienen; einige dieser Sätze will ich hier kurz nennen:

 

1 Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam

2 Verteidige Institutionen

4 Übernimm Verantwortung für das Antlitz der Welt

8 Setze ein Zeichen (… wie Rosa Parks und Winston Churchill)

14 Führe ein Privatleben

15 Engagiere Dich für einen guten Zweck

18 Bleibe ruhig, wenn das Undenkbare passiert (Terror als Vorwand zum Aushebeln der Demokratie)

20 Sei so mutig wie möglich

Soweit zur Orientierung, bleibt als Nächstes zu klären, wie diese Gedanken in Auseinandersetzung mit den Biographien von Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller, Paul Schneider und Albert Schweitzer fruchtbar gemacht werden können – wobei eigentlich auch von Maria von Wedemeyer, Else Niemöller, Margarete Schneider und Helene Schweitzer die Rede sein muss.

II               Biographien

Eine Biographie ist „eine ‘Lebensbeschreibung’ eine gelehrte Bildung des 18. Jhs.“, vermerkt das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache

(„Biographie“, www.dwds.de/wb/Biographie>, abgerufen am 22.09.2017.)

Biographien werden im Rückblick geschrieben, (Auto)Biographen beschriften einen Menschen leicht wie eine Dose, deren Inhalt selektiv aus dem Gesamtleben genommen wird, hochkonzentriert, eindeutig im Geschmack, damit eine klare Beurteilung des Lebenswerkes plausibel erscheint. Dabei haben die Menschen ihr Leben andersherum geführt, ohne sicher zu wissen, wo es hingehen und wie es enden wird. Und oft haben die Biographen nicht nur eigene Sichten, sondern auch eigene Interessen, einen Lebenslauf in glatten, widerspruchsfreien Bahnen zu beschreiben, so, dass er vielleicht zu ihnen, aber nicht unbedingt dem Beschriebenen passt. Doch erst die verschiedenen Perspektiven auf eine Person liefern tiefere Einsichten in die Umstände, unter denen jemand seinen Weg geh. Ein Beispiel: In seinem Roman „Der kurze Sommer der Anarchie“ schreibt Hans Magnus Enzensberger über Buenaventura Durruti, einen der führenden Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg und schildert am Ende vier Varianten, wie er zu Tode kam: Durch einen Scharfschützen Francos, einen Schuss aus den eigenen Reihen, Unfall oder Selbstmord – als Leser muss man entscheiden, was einem passt oder zumindest plausibel erscheint.

(vgl. www.suhrkamp.de/buecher/der_kurze_sommer_der_anarchie-hans_magnus_enzensberger_36895.html, aufgerufen am 22.9. 2017)

Über den Pfarrer Paul Schneider, dem „Prediger von Buchenwald“, wird übereinstimmend berichtet, er habe sich auf dem Appellplatz des Konzentrationslagers Buchenwald 1938 geweigert, die Mütze zum Gruß der auf dem Lagertor gehissten Hakenkreuzfahne abzunehmen – im Gegensatz zu den Tausenden Gefangenen um ihn herum. Daraufhin sei er von SS-Männern herausgegriffen, verprügelt und in die Arrestzellen verschleppt worden, in denen er noch monatelang gefoltert wurde und doch die Kraft fand, vom Fenster aus den Gefangenen mit Predigten Mut zu machen. Klare Verhälntisse: Der aufrechte Pfarrer, die brutale SS und die ohnmächtigen Häftlinge. In einem von seiner Frau Margarete Schneider zitierten Bericht eines Mitgefangenen heißt es dagegen: „… nun mussten die Häftlinge nach der Rede vor der Fahne ihre Mütze abtun. Alle Tausende (von 9000) taten es, Paul nicht. (…) Mir wird erzählt, sein Blockführer, der jüngste frühere kommunistische Reichtstagsabgeordnete, hätte es bei Paul bewußt übersehen. Aber da es das System des Lagers ist, daß diese Häflinge einander zu überwachen und zu denunzieren haben, habe ein Kommunist, der in Pauls Block war, dem Blockführer keine Ruhe gelassen, daß er Paul meldete. Wahrscheinlich dachte er: Werden wir gezwungen zu diesem uns auch verhaßten Tun, so muß es der Pfarrer auch tun. Demnach ist Paul dann gemeldet worden und hat – wahrscheinlich – vor den anderen Häftlingen seine Prügelstrafe bekommen.“

(Margarete Schneider: Der Prediger von Buchenwald in Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hrsg): Widerstand im Dritten Reich 1933 – 1945; Beck Verlag München, 1994, S. 113)

 

Sollte man sich nun für eine Version entscheiden, ohne zu wissen, was wirklich passiert ist? Ich habe bei Führungen oft beide geschildert und darauf hingewiesen, dass die zweite weniger klare Verhältnisse benennt, dafür jedoch realistisch aufzeigt, wie die SS die Häftlinge mit Angst und Hoffnung gegeneinander ausspielen und so Tausende mit relativ wenigen Aufsehern unter Kontrolle halten konnte.

Wie Paul Schneider ist Dietrich Bonhoeffer in der „Bekennenden Kirche“ engagiert und anders mit der Frage beschäftigt, wie offen Widerstand gezeigt werden sollte. Als im Mai Frankreich kapituliert und in einem Café an der Ostsee aufgrund dieser Radiomeldung alle aufspringen, den rechten Arm recken und „Heil Hitler“ rufen, macht Bonhoeffer mit, zum Entsetzen seines Freundes und späteren Biographen Eberhard Bethge. „Nimm den Arm hoch“ raunt ihm Bonhoeffer zu, „wir werden unser Leben noch für ganz andere Dinge riskieren müssen“. 1943 schreibt Bonhoeffer in dem Text „Nach zehn Jahren“: „Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung, der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden und mußten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden – sind wir noch brauchbar? Nicht Genies, nicht Zyniker, nicht Menschenverächter, nicht raffinierte Taktiker, sondern schlichte, einfache, gerade Menschen werden wir brauchen. Wird unsere innere Widerstandskraft gegen das uns Aufgezwungene stark genug und unsere Aufrichtigkeit gegen uns selbst schonungslos genug geblieben sein, dass wir den Weg zur Schlichtheit und Geradheit wiederfinden?“

Aus Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. https://www.boensel-ess-darmstadt.de/files//Rel_12/Nach%20Zehn%20Jahren%20-%20Bonhoeffer.pdf S.13)

Paul Schneider und Dietrich Bonhoeffer wurden ermordet, Martin Niemöller überlebt: Protestantisch und deutschnational geprägt, U-Boot-Kommandant im 1. Weltkrieg ist er nach 1933 einer der führenden Köpfe der „Bekennenden Kirche“. Am 25. Januar 1934 steht Niemölller in der Reichskanzlei anlässlich einer Besprechung von Kirchenführern dem Reichsführer direkt gegenüber. „Beim Abschied“, berichtet Martin Stöhr in dem Band „Martin Niemöller. Gewissen vor Staatsräson“, sagt Niemöller zu Hitler: ´Sie haben gesagt: Die Sorge für das deutsche Volk überlassen sie mir. Dazu muß ich Ihnen erklären, dass weder Sie noch sonst eine Macht in der Welt in der Lage sind, uns als Christen die uns von Gott auferlegte Verantwortung abzunehmen.´ Die Kirchenführer schweigen, von so einem Widerspruch peinlich berührt. Hitlers Entscheidung, Niemöller als seinen ´persönlichen Gefangenen´ aus der Öffentlichkeit zu entfernen und später in ein Konzentrationslager einzuweisen, hängt mit diesem niemals vergessenen Widerspruch Niemöllers gegen den ´Führer´ zusammen. ´Der Pfaffe soll sitzen, bis er schwarz wird.´“

(Martin Stöhr in Joachim Perels (Hrsg.): Martin Niemöller. Gewissen vor Staatsräson, Ausgewählte Schriften. Göttingen, 2016, S. 291)

 

Niemöller überlebt und besucht mit seiner Frau im Sommer 1945 das ehemalige KZ Dachau, wo er lange inhaftiert war: „Er liest, was Überlebende geschrieben haben: ´Hier wurden in den Jahren 1933 – 1945 238.756 Menschen verbrannt.´Seine Frau wird ohnmächtig, ihn überkommt ein kalter Schauer: Die Zahlen sind für ihn der ´Steckbrief des lebendigen Gottes: (…) Mein Alibi reicht vom 1. Juli 1937 bis Mitte 1945.´ Aber vorher, bis 1937? Er hat kein Alibi: Ádam, wo bist du? `Mensch, Martin Niemöller, wo bist du gewesen? Ich habe ´an der Versklavung meines Volkes mitgearbeitet.´wirft er sich selbst vor.

(zitiert nach Martin Söhr, a.a.O., S. 302)

Dieses Schuldbekenntnis hat viele Folgen für Niemöllers kirchliches und pazifistisches Engagement in der Nachkriegszeit, er wird respektiert, geehrt und zugleich massiv angefeindet. Auch seine Biographie ist bestens für die Arbeit mit Widersprüchen geeignet – das gemeinsame Eintreten mit Albert Schweitzer in den 1950er Jahren gegen Atomwaffen hätte er Jahrzehnte zuvor selbst fast – ganz wörtlich – torpediert: Als U-Boot-Kommandant wollte er im November 1917 vor Dakar ein französisches Schiff versenken. Der Dampfer entkam unerkannt in der Nacht, unter den deutschen Internierten waren auch Albert und Helene Schweitzer. (vgl. Stöhr, a.a.O., S. 279)

Und Albert Schweitzer? Gab es in seinem Leben Krisen und Brüche? Da sind Sie die Spezialisten und ich vermute, dass es lohnt, darüber nicht glättend zu sprechen, sondern diese Krisen so zu beschreiben, wie es mit chinesischen Schriftzeichen ausgedrückt wird: Der Begriff „Krise“ besteht da aus zwei Schriftzeichen危机, die für sich genommen危 „Gefahr“ und 机 „Chance“ bedeuten – je nachdem, wie man sich entscheidet, wird es unterschiedlich weitergehen. In Lebensläufen auf solche Weggabelungen zu schauen, gerade wenn wir im Rückblick die Konsequenzen besser wahrnehmen können, kann mehr vermitteln als in sich geschlossene Erzählungen.  Ich hoffe, dass diese Momentaufnahmen und unterschiedlichen Perspektiven verdeutlichen konnten, welche reichen Möglichkeiten zur Auseinandersetzung in diesen Lebensläufen stecken – wie auch in den Berichten über jenen Mann, auf den sich Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller, Paul Schneider und Albert Schweitzer in je eigener Weise immer wieder bezogen haben: Jesus.,

Doch wie können Biographien nun Jugendlichen helfen, sich besser in der aktuellen Welt zu orientiere

III              Jugendliche

Was wissen wir über die Altersgruppe der 12- bis 25jährigen in diesem Land? Die 17. Shell-Jugendstudie von 2015

(https://www.shell.de/ueber-uns/die-shell-jugendstudie/multimediale-inhalte/_jcr_content/par/expandablelist_643445253/expandablesection.stream/1456210165334/d0f5d09f09c6142df03cc804f0fb389c2d39e167115aa86c57276d240cca4f5f/flyer-zur-shell-jugendstudie-2015-auf-deutsch.pdf )

beschreibt, dass für eine deutliche Mehrheit die Familie und der Freundeskreis als Rückhalt das höchste Gut darstellen. Bildung ist für diese Altersgruppe, wenig überraschend, das zentrale Thema, wobei vielen bewusst ist, dass beim Wechsel in´s Berufsleben Flexibilität verlangt wird und die erhoffte Sicherheit im Stellenmarkt nur bedingt zu realisieren ist. Auf Freundschaft, Partnerschaft und Familie folgen als wichtige Werte „Respekt vor Gesetz und Ordnung“, zugenommen hat die Bereitschaft zum umweltbewussten Verhalten. Dagegen verloren materielle Dinge wie Macht oder ein hoher Lebensstandard eher an Bedeutung. Die Mehrheit findet den erstmals erfragten Wert „Die Vielfalt der Menschen anerkennen und respektieren“ wichtig.2015 war der Anteil derer, die sich als „politisch interessiert“ einschätzten, auf 41 % angestiegen, doch das Misstrauen gegenüber den etablierten Parteien, großen Unternehemen, Kirchen und Banken überwiegt; Vertrauen genießen lt. der Umfrage eher die Polizei, Gerichte, sowie Menschenrechts und Umweltschutzgruppen. In der globalen Politik soll Deutschland aus dieser Perspektive eine vermittelnde und keine eingreifende Rolle spielen. Doch diese Umfrage ist nun mehr als zwei Jahre alt, morgen werden wir mehr wissen, wozu Jung- und Erstwähler tendieren.

IV             Schlussfolgerungen

 

Doch hilft uns diese allgemeine Einschätzung wirklich weiter? Am Ende ist es mit den Jugendlichen wie mit jenen, über die uns Biographien vorliegen: Ihr Leben lief und läuft anders herum und jene, die meinten, man müsse die nächste Generation möglichst komplett in Kinder- und Jugendorganisationen fassen und auf den für sie vorgesehenen Platz in der Gesellschaft hin orientieren, hatten in der Regel wenig mit befreiender, die individuelle Persönlichkeit fördernde Pädagogik im Sinn. Also müssen wir umdenken, von den Jugendlichen her, ihren Wünschen, Hoffnungen, Unsicherheiten und Krisen, mit denen sie konfrontiert sind: Wie lassen sich da Gefahren rechtzeitig erkennen und Chancen sinnvoll nutzen? Heute, wo dank der digitalen Welt Kommunikation enorm schnell läuft, ist es notwendig und sinnvoll, die zeitliche, räumliche und ethische Orientierung durch Wissen und verlässliche Informationsquellen abzusichern, ohne aufkeimendes Interesse gleich mit Material zu überschütten. In der pädagogischen Arbeit der Gedenkstätte, die ich lange verantwortet habe, spielen Biographien eine zentrale Rolle zum Verständnis nicht nur der Lagerbedingungen, sondern auch bei der Frage, wie einzelne mit diesen extremen Erfahrungen nach ihrer Befreiung umgehen konnten. Von den bald 260.000 Menschen, die im Lauf der Jahre in Buchenwald waren, haben wir vielleicht von 300 ausführliche Informationen zur ihrem Leben vor, während und nach der Haft vorliegen – und wenn sich in einer Klasse Jugendliche mit nur 10 ausführlicher beschäftigt haben, ist dies schon viel. Und wir haben nicht gefragt: „Welche Biographie wollt Ihr bearbeiten?“ , sondern „Über welches Thema, Ereignis, welchen Ort, Gegenstand oder welche Person wollt Ihr Euch einen Zugang zur Geschichte des Lagers verschaffen?“ So sind sie gefragt, entsprechend ihrer Interessen und Fähigkeiten etwas zu erschließen, was ihnen später auch als Orientierung dienen kann. Bei einer Gruppe, die für drei Tage bei uns war, hatte ich nach zehn Jahren die seltene Chance die Lehrerin zu fragen, was von diesem Besuch bei den Jugendlichen noch hängen geblieben ist. „Von der Geschichte her eher wenig“, sagte sie, „sehr viel mehr aber ein Bewusstsein dafür, dass das eigene Handeln den gesellschaftlich postulierten Werten wie Menschenwürde und Respekt für die Umwelt auch entsprechen muss.“

 

Organisationen, die sich nach früher bekannten Persönlichkeiten benannt haben (ich arbeite ja mit im Vorstand der Martin-Niemöller-Stiftung), stehen heute vor der Frage, was genau sie weiter geben und anregen möchten. Ich sehe zwei Aufgaben: Durch Webseiten gut sortiere Informationen und in begrenztem Umfang Arbeitsmaterialien zu Entscheidungssituationen anzubieten. Zum anderen durch persönliche Gespräche Programme mit Menschen realisieren, denen unser Wissen und unsere Erfahrungen weiterhelfen können. Die Vorstellung von Schülerprojekten zu Schweitzer, die ich gestern zum zweiten Mal mitbekommen habe, sind dafür ein gutes Beispiel – und mit einem Projekthinweis möchte ich auch schließen: Der Verkauf von Schokolade im Rahmen des 2007 vom damals neunjährigen Felix Finkbeiner gestarteten Projekts, weltweit Bäume zu pflanzen. Was es damit auf sich hat, steht innen in der Verpackung und ein Schwung Tafeln liegt hinten auf dem Büchertisch. Mit dem Kauf einer Tafel ist ein erster Schritt gegangen, wenn sie mehr tun möchten, finden Sie die nötigen Informationen im Netz:

https://www.plant-for-the-planet.org/de/mitmachen/so-kannst-du-mitmachen/die-gute-schokolade

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Kontakt: Daniel.Gaede@t-online.de