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Er besuchte seinen Vater im KZ Dachau
Mit 96 Jahren starb Heinz Hermann Niemöller

Dr. Heinz Hermann Niemöller in Dachau Foto: Björn Mensing
Dr. Heinz Hermann Niemöller in Dachau
Foto: Björn Mensing

Dr. Heinz Hermann Niemöller war von 1998 bis 2008 stellvertretender Vorsitzender der Martin-Niemöller-Stiftung. 
Wir dokumentieren den Nachruf von Dr. Björn Mensing,
Ev. Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau

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Am 26. März 2020 entschlief nach mehrwöchigem Leiden Dr. med. Heinz Hermann Niemöller im Kreis seiner Familie in Gauting. Wegen der Corona-Krise können an der Bestattung nur die engsten Angehörigen teilnehmen. Der Termin darf nicht veröffentlicht werden. Später soll eine öffentliche Gedenkfeier folgen.

Heinz Hermann Niemöller kommt am 6. Januar 1924 als drittes Kind von Martin Niemöller und Else, geborene Bremer, in Elberfeld (heute ein Stadtteil von Wuppertal) zur Welt. Sein Vater, der 1919 als Kapitänleutnant aus dem Militärdienst ausgeschieden ist, hat nach Abschluss des Theologiestudiums gerade seine erste Stelle als Geschäftsführer der westfälischen Diakonie in Münster angetreten. Seine Mutter ist vor der Ehe als Lehrerin tätig und hat einige Semester an den Universitäten in Bonn und Berlin Germanistik, Anglistik und Geschichte studiert, um Gymnasiallehrerin zu werden. Hermanns Taufe nimmt der Vater am Tag seiner Ordination zum Pfarrer in der Privatwohnung vor. Dort hängt die Flagge des U-Bootes UC 67, dessen Kommandant Martin Niemöller im Ersten Weltkrieg gewesen ist.

Hermann wächst im nationalprotestantischen Elternhaus mit sechs Geschwistern in Münster und seit 1931 in Berlin-Dahlem auf, wo sein Vater eine Gemeindepfarrstelle antritt. In der Volks- schule in Dahlem hat er zwei jüdische Mitschüler in der Klasse, die ihm imponierten. Sie lernen Hebräisch und können das Alte Testament im Urtext lesen. Hermann hat im Kindergottesdienst gelernt, dass die Juden diesen Teil der Bibel überliefert haben. Der Junge liebt die biblischen Geschichten. So ist der Neunjährige am 1. April 1933 empört, als er in Dahlem an Geschäften Schilder sieht mit der Aufschrift „Kauft nicht bei Juden!“.

1934 wechselt er auf das Gymnasium und wird dort von Mitschülern für das Deutsche Jungvolk angeworben, die Eingangsstufe der Hitlerjugend. In seiner Jungvolkuniform begegnet er in Dahlem einem seiner früheren jüdischen Mitschüler. Dessen Worte „Zu denen gehörst du doch nicht!“ geben Hermann zu denken. Die judenfeindliche Hetze bei den „Heimabenden“ stört ihn ohnehin. Sein Vater ist zunächst gegen seinen Austritt aus der Hitlerjugend – da er freiwillig eingetreten sei, solle er jetzt auch dabeibleiben –, stimmt nach einiger Zeit aber doch zu. 1935 ist Martin Niemöller erstmals kurzzeitig inhaftiert. Im Gymnasium muss Hermann erleben, wie ein älterer Schüler in der Pause demonstrativ auf einer Bibel herumtritt. Mit der Vorwarnung „Ick hol Keule!“ ruft er seinen älteren und stärkeren Bruder Jochen, der dem blasphemischen Treiben handgreiflich Einhalt gebietet. Beim Erzählen der Geschichte muss Hermann noch Jahrzehnte später spitzbübisch lachen.

Martin Niemöller, der selbst als Student in rechtsradikalen Organisationen aktiv war und als Gegner der Weimarer Republik die NSDAP gewählt hat, ist seit Herbst 1933 als Mitbegründer des Pfarrernotbundes einer der Protagonisten des Kirchenkampfes. Dabei geht es ihm zunächst um die Abwehr der innerkirchlichen Machtübernahme durch die von Hitler protegierten Deutschen Christen (DC), die Kirche und Theologie ideologisch völlig gleichschalten wollen. So sollen analog zum staatlichen „Arierparagraphen“, gegen den Niemöller nicht protestiert hat, nun auch Pfarrer mit jüdischen Vorfahren aus dem Dienst entfernt werden. Als die DC in der Reichskirche und in den meisten Landeskirchen, auch in Preußen, die Macht übernehmen, ist Niemöller führend in den oppositionellen Leitungsgremien der Bekennenden Kirche (BK) tätig und in ganz Deutsch-land als Redner und Prediger unterwegs. 1936 ist er Mitunterzeichner einer Denkschrift an Hitler. Die Leitung des entschiedenen BK-Flügels fordert darin ein Ende von antisemitischer Hetze, die „zum Judenhass verpflichtet“, weil das gegen das Gebot der Nächstenliebe verstoße. Zudem werden die antichristliche Propaganda und der religiös überhöhte Führerkult kritisiert. Als mit dem Rechtsstaat unvereinbar soll es ein Ende haben mit den Konzentrationslagern und der gesamten Verfolgungspraxis der Gestapo. Die gleichgeschaltete Kirchenleitung und das NS- Regime reagieren mit zunehmenden Repressionen.

Als der Vater am 1. Juli 1937 verhaftet wird, ist Hermann gerade mit seinem Bruder Jochen in den Ferien bei einer befreundeten Familie in Ostpreußen. „Das musste ja kommen“, heißt es im Umfeld. Im Familienalltag verändert sich aus der Sicht des Dreizehnjährigen nicht so viel, weil der Vater auch in den Jahren zuvor durch seinen BK-Einsatz oft nicht zu Hause war.

Hermann verbringt viel Zeit in der benachbarten Familie Schmitt. Deren Sohn Klaus, den er vom Kindergottesdienst kennt, ist in etwa in seinem Alter. Der Familienvater Dr. Kurt Schmitt, den Hermann rückblickend als seinen „Vizevater“ bezeichnet, ist Jurist und führend in der Versicherungswirtschaft tätig. Seit Mitte 1933 amtiert der frühe Förderer der NSDAP als Reichswirtschaftsminister. Schmitt ist seit Amtsantritt NSDAP-Mitglied und wird zudem SS-Ehrenmitglied, seit 1935 im Generalsrang eines Brigadeführers. Er gehört zu den Deutschnationalen, die Hitler an die Macht gebracht haben und dann erkennen müssen, dass ihre Strategie der „Zähmung“ der Nationalsozialisten nicht aufgeht. Ernste gesundheitliche Probleme Mitte 1934 nimmt Schmitt zum Anlass, um sich aus der Regierung zurückzuziehen. Er übernimmt den Vorsitz im Aufsichtsrat der AEG AG. 1937 zieht die Familie nach München, wo Schmitt Vorstandsvor- sitzender der Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft wird. Südwestlich der Stadt gehört ihm schon länger das Gut Tiefenbrunn. Seine zunehmende Kritik an den NS-Verbrechen äußert er nur gegenüber engsten Vertrauten. Einzelne NS-Verfolgte, unter ihnen auch jüdische Bekannte, unterstützt er unauffällig. Aber er geht nicht den Weg in den Widerstand, sondern bleibt nach außen der überzeugte Nationalsozialist, der in SS-Uniform an Treffen des „Freundeskreises Reichsführer SS“ teilnimmt und für Heinrich Himmler spendet.

Um die Mutter zu entlasten, zieht Hermann bald nach der Verhaftung seines Vaters zur Familie Schmitt nach Bayern. Gemeinsam mit Klaus hat er in München Privatunterricht bei der Hauslehrerin Dr. Hahn, die wegen ihrer teilweise jüdischen Herkunft nicht mehr im Schuldienst arbeiten kann, und besucht den Konfirmandenunterricht an der Christuskirche in Gauting, unweit von Tiefenbrunn, bei Vikar Walter Hildmann.

In einem Gottesdienst im März 1938 erfährt Hermann aus dem Fürbittengebet von Vikar Hildmann von der Inhaftierung seines Vaters im KZ Sachsenhausen, unmittelbar nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft. Da der Sohn ein dramatisches Telefongespräch seiner Gasteltern mit seiner Mutter kurz vor diesem Sonntag so deutet, dass sein Vater umgebracht worden sei, ist er erleichtert. Zumindest lebt der Vater noch.

Obwohl Hermann von Vikar Hildmann begeistert ist, bleibt er nicht bis zur Konfirmation in Bayern. Er will in dieser Situation doch näher bei seiner Familie sein und zieht zurück nach Berlin. Der weitere Kontakt zur Familie Schmitt ist ihm aber wichtig, mehrfach ist er in den folgenden Jahren zu Besuch in Tiefenbrunn. Obgleich sein Vater im KZ ist, verhalten sich die meisten Lehrer am humanistischen Gymnasium in Berlin weiterhin relativ korrekt.

In Dahlem erlebt er die antisemitische Ausgrenzung und Verfolgung aus nächster Nähe. Zur Bekenntnisgemeinde und zum Freundeskreis der Familie gehören mehrere Christen jüdischer Herkunft. Im Umfeld der Gemeinde existieren Helferkreise, die auch mit illegalen Mitteln bedrohte Menschen retten. Als seine Mutter ihn im Januar 1942 mit dem Fahrrad zu Gemeindemitgliedern jüdischer Herkunft mit Lebensmitteln schickt, öffnen diese auf sein Klingeln hin bleich die Tür. Sie rechnen mit der Abholung durch die Gestapo.

Hermann würde dieses Deutschland am liebsten verlassen. Aber er bleibt. Zumindest kann er so einige Male seinen inhaftierten Vater sehen und sprechen, eine große Ausnahme bei KZ-Häftlingen. Aus der Haft bittet ihn sein Vater, den Orgelunterricht weiter zu besuchen. Das wäre wohl nicht nötig gewesen. Der musikalische Junge, der auch gut Klavier spielt, ist ohnehin von dem Instrument fasziniert.

Nach dem Abitur im Frühjahr 1942 möchte Hermann Medizin studieren. Seine Motivation schildert er rückblickend: „Du kannst mit deiner Ausstattung an Wissen, Intelligenz und Engagement im Dienste anderer viel abtragen, was vielleicht deine Leute, sogar nächste Verwandte, verbockt haben. Ich wollte eigentlich immer, auch im Sinne eines gewissen humanistischen Eifers, meinen Mitmenschen irgendwie von Nutzen sein. Deswegen bin ich gerne Arzt geworden.“ Aber der Weg dahin ist weit. Freunde des Vaters aus der Bekennenden Kirche raten ihm zu einer Bewerbung als Offiziersanwärter im Heeressanitätsdienst. Trotz gut absolvierter Eingangsprüfung wird seine Bewerbung abgelehnt, vermutlich aus politischen Gründen.

Hermann wird im Oktober 1942 als Infanterist eingezogen. Bei aller Enttäuschung sieht er darin auch etwas Gutes. So wird er dem verhassten Regime nicht als Offizier dienen. In dieser Zeit darf er als Soldat seinen Vater im KZ Dachau besuchen. Der „ordnungsliebende Vater“ habe sich einen exakten Plan für das Gespräch mit dem Sohn aufgeschrieben, erinnert sich Hermann später schmunzelnd. Wegen des anwesenden SS-Manns können sie nicht offen sprechen. Der Besuch hinterlässt bei ihm ein bedrückendes Gefühl.

Dann kommt Hermann in die westliche Ukraine und ist anschließend in Sewastopol auf der Krim stationiert. Dort nimmt er in seiner Freizeit Kontakt zum hochgebildeten Museumsdirektor auf und lernt Russisch. Jahrzehnte später tauscht er sich mit einer jungen Freiwilligen von „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ aus der Ukraine in der Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau über seine Eindrücke aus.

Im Frühherbst 1943 kommt sein erster Fronteinsatz am Kuban-Brückenkopf. Nach einer Verwundung wird er in ein Lazarett in Deutschland verlegt. 1944 muss er erneut in ein Lazarett, weil er sich mit Malaria infiziert hat. Im Januar 1945 folgt ein letzter Fronteinsatz in Schlesien. Kurz vor Kriegsende wird er aus einem Lazarett in der besetzten Tschechoslowakei entlassen. In ziviler Kleidung kann er der Kriegsgefangenschaft entgehen und gelangt auf abenteuerlichen Wegen zu Fuß über die Grenze ins schlesische Bad Warmbrunn (heute Cieplice in Polen) und findet dort Unterkunft und eine Anstellung als Aushilfsorganist in einer BK-Gemeinde.

Einige Wochen später kann Hermann zu seiner Familie zurückkehren, die in Leoni am Starnberger See lebt. Die Mutter war mit den jüngeren Kindern 1943 in das Ferienhaus von BK-Freunden gezogen. Von dort war der Weg nicht weit nach Dachau, wo sie ihren Mann regelmäßig im KZ besuchen durfte.

Martin Niemöller trifft ebenfalls im Sommer 1945 in Leoni ein – die SS hat ihn Ende April 1945 noch als Geisel nach Südtirol transportiert, wo er befreit wurde. In den nächsten Monaten verbringt Hermann, nach den Jahren der Trennung, viel Zeit mit seiner Familie. Mitunter kann er seinen Vater auf Dienstreisen begleiten. In Erinnerung bleibt ihm besonders ein erschütternder Besuch mit seinen Eltern im früheren KZ Dachau.

Martin Niemöller engagiert sich im Aufbau der Evangelischen Kirche in Deutschland, wird in deren Leitung gewählt und hat viele internationale ökumenische Kontakte. Im Ausland gilt er Leitfigur des christlichen Widerstands gegen das NS-Regime. In Deutschland wird er bald angefeindet, weil er seine Landsleute auf die schuldhafte Verstrickung so vieler Deutscher – auch seine eigene – in der NS-Zeit aufmerksam macht und zu Buße und Umkehr aufruft. 1946 zieht die Familie ins hessische Büdingen, 1948 nach Wiesbaden, nachdem Martin Niemöller zum Kirchenpräsidenten von Hessen und Nassau gewählt war.

Hermann kann in Marburg sein Medizinstudium einschließlich Promotion absolvieren. Im Anschluss geht er 1952 für neun Jahre in die USA. Die Zeit ist für ihn prägend. Er hat intensive Kontakte zu Deutschen, die vor den Nazis dorthin geflohen sind. Als Sohn von Martin Niemöller wird er überall freundlich aufgenommen. Beruflich kommt es zu einer wichtigen Weichenstellung. Wollte er zunächst die Facharztausbildung zum Internisten machen, so wendet er sich in den USA der Pathologie zu. An der Yale University in New Haven (Connecticut) ist er Schüler des international renommierten Professors Dr. Averill Abraham Liebow (1911-1978), dessen jüdische Familie aus Galizien in die USA emigrierte, als er noch ein kleines Kind war. Hermann genießt es, dass er an der Universität und in den Krankenhäusern ein „Teamwork“ erlebt, das nicht so hierarchisch ist wie in Deutschland.

1961 hat sein Heimaturlaub einen traurigen Anlass, die Beerdigung seiner Mutter, die bei einem Autounfall auf einer Urlaubsreise in Dänemark tödlich verunglückte. Bald darauf kehrt er endgültig nach Deutschland zurück. Nach kurzen Stationen an Krankenhäusern in Wiesbaden und Mainz kommt er ans Universitätsklinikum Erlangen.

1962 verlobt er sich mit Sylvia Pape. Die beiden haben sich bei Besuchen in Tiefenbrunn kennengelernt. Als Enkeltochter von Kurt Schmitt ist auch Sylvia dort oft zu Gast. Ihr Großvater und Hermanns „Vizevater“ erlebt dies nicht mehr mit. Er ist bereits 1950 verstorben, kurz nach Abschluss seines Entnazifizierungsverfahrens mit der Einstufung als „Mitläufer“ und der Rückkehr in seine berufliche Position. Aber Sylvias Großmutter freut sich sehr über diese Verbindung. 1963 wird Hochzeit gefeiert.

Das Paar zieht 1964 nach München, wo Hermann eine Stelle als Oberarzt im Klinikum rechts der Isar antritt. 1964 kommt die Tochter zur Welt, 1965 und 1967 die Söhne. 1969 wird der Familienvater Chefarzt und Leiter des Instituts für Pathologie am Klinikum München Pasing. Die junge Familie zieht 1970 übergangsweise nach Tiefenbrunn zur Großmutter und 1971 nach Gauting ins eigene Haus.

Beruflich versteht sich Hermann als „internistischer Pathologe“, der mit seinen Befunden zur angemessenen Behandlung so vieler Patienten beitragen kann. Zudem ist es ihm eine Freude, seine Expertise an die jungen Kollegen in der Facharztausbildung weiterzugeben. Auch nach der Pensionierung 1989 übernimmt er über mehrere Jahre noch gerne Vertretungen in Pasing.

Seine Freizeit verbringt er mit der Familie. „Bildungsspaziergänge“ nennen die Kinder rückblickend die häufigen Exkursionen, bei denen er in Gauting oder im Karwendelgebirge der Familie unaufdringlich Botanik und Geologie näherbringt. Er kann sich und andere auch für Musik, Kunstgeschichte und Fotografie begeistern. Sein Vater, der zu den erwachsenen Kindern und ihren Familien ein gutes Verhältnis hat – auch wenn diese sich kritisch zu manchen seiner umstrittenen politischen Aktionen äußern –, nennt ihn den Tausendsassa unter seinen Kindern.

Nach der Rückkehr aus den USA war Hermann in die SPD eingetreten. In Gauting engagiert er sich in der Kommunalpolitik. 1972 wird er in den Gemeinderat und in den Kreistag gewählt, mit Wiederwahl 1978 und 1984.

Im Ruhestand ist es ihm eine große Freude, dass er den im Haus aufwachsenden beiden Enkelsöhnen eine so nahe Bezugsperson sein kann.

Mit 75 Jahren kommt eine neue Aufgabe hinzu. Nach dem Tod seines Bruders Jan (1925-1998) wird er in dessen Nachfolge Vizevorsitzender der Martin-Niemöller-Stiftung. Immer häufiger ist er nun als Zeitzeuge im Blick auf seinen 1984 verstorbenen Vater gefragt: Bei Schulveranstaltungen, Akademietagungen, Gedenkfeiern, Medienproduktionen, Kunstaktionen (z. B. Widmung der Martin-Niemöller-Friedenstaube, vgl. Foto oben), Forschungs- und Publikationsprojekten.

In Dachau, wo er seinen Vater in der Haft besuchte, kann er etwa 70 Jahre später für einige Jahre zwei seiner Lebensthemen zusammenführen. Wöchentlich kommt er mit öffentlichen Verkehrs- mitteln von Gauting zum Orgelspiel in die Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte, in der sein Vater 1967 zur Einweihung gepredigt hat. Er nennt es in der ihm eigenen Bescheidenheit „Üben“, für das Team der Versöhnungskirche und viele Besucher der Gedenkstätte aus aller Welt sind es bewegende Konzerte, oft mit Werken von Johann Sebastian Bach. Wie 1945 in Bad Warmbrunn stellt er sein Können mehrfach in den Dienst der Gestaltung von Gottesdiensten und Andachten – auch wenn er in Gauting nicht gerade ein eifriger Kirchgänger ist, wie er leicht verlegen schmunzelnd eingesteht. Und dann ergeben sich immer wieder intensive Gespräche über die Zeitgeschichte, in denen wir über sein minutiöses Gedächtnis und sein fundiertes Fachwissen, aber auch über sein Interesse an neuen Forschungsergebnissen nur staunen können.

In den letzten Jahren muss er leider sein „Üben“ an der Dachauer Orgel einstellen. Aber daheim erfreut er die Hausgemeinschaft jeden Morgen mit Improvisationen über einen Choral auf dem Klavier oder auf dem Cembalo.

Am 31. Januar 2019 stellt er sich mit 95 Jahren auf Bitten der Versöhnungskirche noch einmal für ein Zeitzeugengespräch zum Thema „Kirche und Konzentrationslager“ zu Verfügung. Gebannt lauscht das Publikum seinen Erinnerungen. Aus dem SZ-Bericht über den Abend:
„Im Oktober 1945 fuhr der damals 21-Jährige mit seinen Eltern noch einmal ins KZ Dachau und musste schockiert feststellen, dass sich im Keller des Krematoriums die Asche verbrannter Leichen meterhoch türmte. Das Erlebnis war für ihn nachdrücklich: ‚Ich habe den Zorn auf mein Heimatland kultiviert. Dazu gehörte auch mein Entschluss, für ein Jahr in die USA zu gehen. Daraus wurden dann neun.‘“

Letztlich versöhnliche Worte von Hermann Niemöller werden auf Wunsch der Familie bei seiner Bestattung in Starnberg verlesen. Das Gedicht „Die zerschossene Kathedrale“, das er im Alter von 20 Jahren im Mai 1944 geschrieben hat:

Einst standest du
noch nicht der Kraft beraubt
Einst recktest du
noch stolz das Kuppelhaupt
Einst dientest du
als man noch Gott geglaubt.

Du stehest noch –
wenn auch dein Helm zerbrach
und reckst dich noch
trägst der Verwüstung Schmach.
Du dienest noch –
den Dohlen zwar zum Dach.

Du schlummerst schon –
der Wind seufzt in den Gängen.
Du träumest schon
von neuen Orgelklängen
und sehnst dich schon
nach ewigen Gesängen.

Wer ruft dich wieder?
Wer erweckt den Stein?
Golden, ewig rein
strahlt tröstend nieder
Gottes Sonnenschein.

Kirchenrat Dr. Björn Mensing, Pfarrer und Historiker Landeskirchlicher Beauftragter für evangelische Gedenkstättenarbeit Evangelische Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau www.versoehnungskirche-dachau.de

Ich danke Frau Sylvia Niemöller herzlich für die Informationen zur Biographie ihres verstorbenen Mannes (ich hoffe, dass ich mir beim langen Telefongespräch am 29.3.2020 alles richtig notiert habe – die Corona-Krise überschattet in mehrfacher Hinsicht den Abschied von Dr. Heinz Hermann Niemöller) und für die Zustimmung zur Erstveröffentlichung seines Gedichtes „Die zerschossene Kathedrale“.

Die weiteren Quellen sind meine zahlreichen Gespräche mit Herrn Niemöller in Gauting und Dachau zwischen 2005 und 2019 und veröffentlichte Interviews mit dem Zeitzeugen sowie Sekundärliteratur. Die Einzelnachweise können bei mir angefordert werden: bjoern.mensing@elkb.de

Dachau, 31.3.2020