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„Ehre, wem Ehre gebührt“ (2003)

von Reinhard Höppner, Ministerpräsident a.D.

Reinhard Höppner

Rede anlässlich der Verleihung des Julius-Rumpf-Preises an den Verein Miteinander e.V. am 14.11.2003 in Magdeburg 

Heute geht es um die Ehre. Und das in verschiedener Hinsicht. Zunächst: Ein Preis ist zu vergeben. Ein Preisträger zu ehren. Ich habe gelernt: Jemanden ehren heißt, ihm den Platz einzuräumen, der ihm gebührt. Das ist nicht so selbstverständlich in unserer Welt, wie man annehmen möchte. Wie vielen Menschen auf unserer Erde und in unserem Land wird der menschenwürdige Platz nicht eingeräumt, der doch jedem Menschen gebührt. Menschen, abgeschoben an menschenunwürdige Orte, das gibt es überall in unserer Welt. Wir sind alle daran beteiligt, auch mit unserem Denken. Wie viele Menschen packen wir in die Schubfächer unserer Vorurteile, obwohl wir doch alle wissen, dass Menschen nicht  in Schubfächer gehören. Wenn unser Grundgesetz von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen redet, dann geht es genau darum: Jedem Menschen die Ehre zuteil werden zu lassen, die dieser Würde entspricht. Und damit sind wir schon mitten beim Thema, das die engagierten Menschen umtreibt, die den heute zu ehrenden Verein Miteinander tragen und unterstützen. Denn ihnen geht es um Menschen, deren Ehre im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten wird. 

Der Verein Miteinander ist entstanden, nachdem viele in unserem Land aufgeschreckt waren durch zunehmende rechtsradikale Gewalt. Und die 13% für die DVU nach den Landtagswahlen 1998 waren ein deutliches Zeichen: Rechtsradikales Gedankengut breitet sich immer weiter aus bis weit hinein in die Mitte der Gesellschaft. An dieser Erkenntnis konnte keiner mehr vorbei. Und wer das noch klein reden wollte, wurde eines Besseren belehrt, als nicht nur die Ehre des Dessauer Bürgers Alberto Adriano mit Füßen getreten wurde, sondern er selbst die beschlagenen Stiefel in seinem Gesicht spürte und zu Tode getreten wurde. Darauf konnte man, darauf darf man nicht nur mit Worten reagieren. Zivilcourage und Bürgerengagement, Taten waren und sind gefordert, um diesem menschenverachtenden Tun Einhalt zu gebieten. Darum geht es dem Verein. Darum ging es auch der damaligen Landesregierung, die diesen Verein von Anfang an tatkräftig unterstützt hat. Darum geht es auch heute der Martin-Niemöller-Stiftung bei der Verleihung des Julius-Rumpf-Preises. Der Verein Miteinander wird durch diese Preisverleihung an die Stelle gerückt, die ihm gebührt, nämlich in das Blickfeld der öffentlichen Wahrnehmung. Denn was hier geschieht, muss wahrgenommen werden von möglichst vielen. Es muss wahrgenommen werden als lebensnotwendiges Handeln, damit solcherart bürgerschaftliches Engagement ansteckend ist und wachsen kann. Denn wir dürfen es nicht so weit kommen lassen, dass uns immer erst wieder tot getretene Menschen aufschrecken und der Schrecken dann doch nur in Lippenbekenntnissen der Betroffenheit endet. Die Preisverleihung rückt die Arbeit des Vereins an die Stelle, an die sie gehört, nämlich in den Blickpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit. Eine wohlverdiente Ehrung nicht nur wegen des unermüdlichen Engagements – und zu Ermüdung hätte es in den letzten Jahren vielerlei Anlass gegeben – sondern auch wegen der Größe des Problems, das uns umtreiben müsste, und das doch immer wieder hinter einer Mauer des Schweigens zu versinken droht.

Der Verein Miteinander hat auf seiner homepage rechtsradikale Straftaten und Angriffe gegen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger der letzten Jahre aufgelistet. Opfer werden ermutigt, Gedächtnisprotokolle zu schreiben und das ihnen widerfahrene öffentlich zu machen. Das alleine ist eine wichtige Aufgabe in unserer schnelllebigen Zeit ohne Gedächtnis. Die nicht abreißende Kette von Ereignissen macht deutlich, solche Straftaten gehören zum bitteren Alltag unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Aber sie werden hinter einer Mauer des Schweigens versteckt. Diese Mauer des Schweigens zu durchbrechen ist eine lebensnotwendige Aufgabe. Warum, so fragt man sich, fällt uns das so schwer? Ein verständlicher Grund ist Hilflosigkeit. Die Ursachen für die wachsende Gewalt sind so vielfältig, dass es schwer fällt, nicht zu resignieren. Das Gefühl von Ohnmacht führt zu Verdrängung. Der Verein Miteinander ist eine Ermutigung gegen diese Resignation. Seine Arbeit gibt Anregung zum Handeln. Da werden nicht Patentrezepte angeboten, von denen doch alle Kundigen wissen, dass es sie nicht gibt. Die Arbeit des Vereins ist Wegbegleitung auf einem langen Weg.

Wir haben uns im Osten später auf diesen Weg begeben als manche engagierten Gruppen im Westen Deutschlands. Nicht aus eigenem Verschulden. Die Ideologie von der sozialistischen Menschengemeinschaft hat diese Probleme, die es auch zu DDR-Zeiten gab, sehr konsequent verdrängt. Sie hat dafür gesorgt, dass die relativ wenigen Ausländer in der DDR weitgehend unter sich gelebt haben. So konnten die DDR-Bürger nicht lernen, mit ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zusammen zu leben. Hier haben wir nach wie vor einen erheblichen Nachholbedarf. Der Name des Vereins ist in dieser Hinsicht Programm. Es geht um ein Miteinander. Es geht darum, Fremdheit zu überwinden, und andere Kulturen kennen zu lernen. Ohne dass die Mauer zwischen Fremden und Vertrauten abgerissen wird, kann auch die Mauer des Schweigens nicht wirksam durchbrochen werden. Es muss zur Grunderfahrung von Menschen gehören, dass Vielfalt schön ist, eine Bereicherung. Der Verein will Multiplikatoren anregen, gerade in Schulen und unter jungen Menschen diese Erfahrung zu vermitteln und Fremdenfeindlichkeit zu überwinden. Das ist aller Ehren wert. Gute Beispiele sollen zu eigenen Aktivitäten anregen. Auf diesem Gebiet gilt wie auf kaum einem anderen Feld der ermutigende Satz für einen langen Weg: Wenn viele Menschen viele kleine Schritte tun, dann kann sich das Gesicht der Welt verändern. Dass es sich um einen langen Weg handeln wird, darauf hat Hans-Jochen-Tschiche, der den Verein von Anfang an mit Energie und Weisheit geleitet hat, immer wieder beharrlich hingewiesen. Auch diese Ehrung heute ist ein Schritt auf diesem langen Weg. Denn sie ist ja nicht nur eine Ehrung für das bisher Geleistete. Sie soll auch eine Ermutigung sein, weitere Schritte zu gehen. Dafür gebührt den Stiftern dieses Preises, der Martin-Niemöller-Stiftung und hier insbesondere Herrn Professor Stöhr und vor allem der Familie Rumpf, den Nachfahren von Julius Rumpf, die mit ihrer Stiftung diesen Preis möglich gemacht haben, ein besonderer Dank.

Ehren heißt, den Menschen den Platz einzuräumen, der ihnen gebührt. Auch in dieser Hinsicht geht es dem Verein um die Ehre, nämlich die Ehre der Opfer von rechtsradikalen Gewalttaten. Sie zu beraten, ihnen zu helfen ist ein Anliegen des Vereins. Das ist Arbeit gegen die Angst. Und leider haben viele Ausländerinnen und Ausländer in unserem Land Angst. Nur weniges ist in der Öffentlichkeit bekannt geworden. Ich erinnere nur an die Ängste, die chinesische Wissenschaftlerinnen in Gatersleben am international renommierten

Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung formuliert haben. Wenn ich freilich an die Aktion Noteingang denke, die ja nicht nur symbolisch, sondern ganz praktisch angstfreie Räume öffnen sollte, dann wird mir deutlich, wie tief Vorurteile über Ausländer in die Mitte der Gesellschaft eingedrungen sind. Sogar der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende Bergner nannte das Projekt Noteingang – verglichen mit anderen Projekten gegen Gewalt – „aufgesetzt und blauäugig“. Auf einer Internetseite der FDP in Halle wurde die Aktion unter dem Titel „Rechte Schläger – linke Chaoten“ als „unüberlegter Aktionismus“ bezeichnet, der „touristischen Schaden für das ganze Land“ bedeute. Abgesehen von dieser blinden Gleichsetzung von rechts und links, wer die Ehre eines Landes retten will, indem er die tatsächlichen Probleme verschweigt, tritt die Ehre der Opfer mit den Füßen. Darum aber geht es bei der Gerechtigkeit, bei der Arbeit für menschengerechte Verhältnisse, dass wir lernen, die Welt aus der Perspektive der Opfer zu sehen. Ihre Perspektive ist die Leitschnur für das Handeln aller, die im Verein Miteinander engagiert sind. Und das ist aller Ehren wert. Auch dafür zu danken sind wir heute zusammen gekommen.

Es stimmt mich schon traurig, dass sich die anfänglich bereits vorhandene Ablehnung des Vereins durch die Parteien, die heute die Regierungsverantwortung tragen, nun auch in gravierenden Mittelkürzungen niederschlägt. Was nützt es, wenn mit hohem finanziellem Aufwand ausländische Investoren in das Land geholt werden sollen, aber man nicht gleichzeitig konsequent an der Überwindung von Ausländerfeindlichkeit im Lande arbeitet?

Wir Deutschen haben dabei übrigens eine besondere Verantwortung und Verpflichtung. Sie ist in unserer Geschichte begründet. Und da möchte ich an Julius Rumpf erinnern, der diesem Preis seinen Namen gegeben hat. Der Theologe und Wiesbadener Pfarrer hat von Anfang an die Gefahr gesehen, die mit Hitler und seiner nationalsozialistischen Ideologie über Deutschland heraufzog. Er hat sich ihr widersetzt wie nur Wenige, war in der Leitung der Bekennenden Kirche. Er hat den Neuanfang nach 1945 mitgestaltet, soweit er noch konnte. Ein Preis, der seinen Namen trägt, ist in besonderer Weise Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, dass wir aus dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte lernen. Der Preis ist Verpflichtung, immer wieder durchbrechendem nazistischem Gedankengut entschieden entgegenzutreten. Mit ihm soll an den unspektakulären, aber gradlinigen Widerstand von Julius Rumpf erinnert und das Vorbildhafte einer solchen Haltung gewürdigt werden. Mit dieser Preisverleihung wird auch ihm die Ehre zuteil, die ihm gebührt.

Und schließlich lassen Sie mich auch das noch sagen: Es ist ja kein Zufall, dass viele in diesem Feld Engagierte aufrichtige und gradlinige Christenmenschen sind, von Martin Niemöller und Julius Rumpf über Martin Stöhr, die Familie Rumpf bis hin zu Hans-Jochen Tschiche. Und das soll keine Zurücksetzung all der anderen sein. Die Gastfreundlichkeit gegenüber Fremden ist – man kann es in vielen Geschichten des Alten Testamentes nachlesen – geradezu ein Kennzeichen für den gottesfürchtigen Menschen, den in Gottes Augen Gerechten. Frieden wächst aus Gerechtigkeit, die sich erweist an der Offenheit und Freundlichkeit gegenüber Fremden. Auch wir können heute in unserer Gesellschaft nur in Frieden miteinander leben, wenn wir diese Offenheit und Gastfreundschaft gegenüber Fremden leben. Im Guten miteinander leben, dazu will Miteinander e.V. durch viele kleine, unspektakuläre Aktionen beitragen. Das große Wort vom Aufstand der Anständigen bleibt hohl, wenn ihm nicht die vielen kleinen Schritte folgen. Die heutige Preisverleihung ist eine Ermutigung, diese kleinen Schritte unverdrossen zu gehen. Darum gilt mein Dank den Stiftern und der Martin-Niemöller-Stiftung. Und meinen Dank an alle Aktivisten des Vereins Miteinander verbinde ich mit dem tiefen Wunsch: Verlieren sie nicht den Mut zu den vielen Schritten, die auf dem langen Weg noch nötig sind. Jeder Schritt ist ein Schritt auf dem Weg der Gerechtigkeit, der zu einem menschengerechten Miteinander in einer von Vielfalt geprägten Welt führt.

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