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Am Vorabend von Glasnost

Dr. Horst-Eberhard Richter

Die friedenspolitischen Aktivitäten der Niemöller-Stiftung führten im Oktober 1982 zu einer bemerkenswerten zweitägigen Gesprächsrunde in Moskau. Auf Einladung des sowjetischen Komitees zum Schutze des Friedens traf sich in der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, vermittelt durch den ehemaligen UdSSR-Botschafter in Bonn, Valentin Falin, die Delegation der Stiftung mit zahlreichen hochrangigen Sicherheitsexperten, Militärs, Politikern, Kirchenvertretern und Publizisten.

Der deutschen Gruppe gehörten unter anderem Eugen Kogon und Gunnar Matthiessen für die Niemöller-Stiftung, Volkmar Deile von der Aktion Sühnezeichen, Martin Stöhr, damals Leiter der Evangelischen Akademie Arnoldshain, Oberkirchenrat Helmut Spengler, damals stellvertretender Kirchenpräsident in Hessen-Nassau, Gerd Ruge vom WDR, Werner Lutz, Bundesvorsitzender der Jungdemokraten, Horst Eberhard Richter und General a.D. Günter Vollmer an.

Die Einladung nach Moskau kam zu Stande, nachdem Valentin Falin im Januar und Mai 1982 an zwei Gesprächsrunden der Niemöller-Stiftung im Frankfurter Dominikanerkloster teilgenommen hatte. Stiftungsvorsitzender Kogon und Geschäftsführer Matthiessen hatten die wichtigsten Themenfelder abgesteckt: Welche konkreten, für beide Seiten zumutbaren Möglichkeiten gibt es, die gegenseitige Rüstung einzufrieren und letztendlich abzuschaffen? Wie können der Öffentlichkeit in der BRD die Entspannungsmöglichkeiten und -bereitschaften der UdSSR glaubhaft gemacht werden? Welche Haupthindernisse stehen der Abrüstung entgegen?

Zum Auftakt der Gespräche am Runden Tisch wies der stellvertretende Prawda-Chefredakteur auf die besorgnis erregende Eigendynamik der zunehmend von der USA wieder aufgenommenen Konfrontation hin. Angesichts der angehäuften Nuklearpotenziale sei ein Atomkrieg, ob begrenzt oder lang andauernd, unverantwortbar. Als denkbare Entspannungsschritte nannte er eine Verzichtserkärung der USA auf den Erstschlag, eine Reduzierung der Nuklearpotenziale auf der Basis der Genfer Verhandlungen in jenen Bereichen, die unstrittig seien, und für Europa eine Reduzierung jener Mittelstreckenraketen, die auf den Kontinent zielen oder dort stationiert sind.

Sofortige Abrüstungsschritte wären z.B. durch ein umfassendes Verbot aller Atomwaffentests, ein Verbot der chemischen Waffen, eine Erklärung beider Militärbündnisse, dass sie ihre Tätigkeit nicht auf außerhalb ihres Paktgebietes liegende Bereiche etwa in Afrika oder Lateinamerika ausdehnen und die Einberufung einer Konferenz über Abrüstung in Europa denkbar. Voraussetzung für rasche Vereinbarungen sei vor allem der ausdrückliche politische Wille und die Anerkennung des Prinzips der Gleichheit und gleichen Sicherheit für beide Seiten.

Für die deutschen Gesprächsteilnehmer erklärte Eugen Kogon, man wolle in erster Linie herausfinden, in welchen Bereichen etwas bewirkt werden könne. Das Hitler-Regime habe mit der Ausrufung des totalen Kriegs mit dem Prinzip gebrochen, die Zivilbevölkerung von Kriegshandlungen auszunehmen. Die Alliierten hätten das Prinzip der Städtebombardierungen übernommen und weiterentwickelt, bis hin zu den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Kogon forderte, die Atomwaffen als verbrecherisch zu ächten und sie international abzuschaffen. Die Christen in der Welt könnten einen Atomkrieg verhüten, wenn sie dieser Einsicht bis in die obersten Etagen der Politik Geltung verschafften.

Im weiteren Verlauf der Gesprächsrunden wurde unter anderem mehr Offenheit auf beiden Seiten eingefordert. Professor Semeiko vom USA-Institut benannte eine Reihe einseitiger Vorleistungen der UdSSR wie den Verzicht auf die Stationierung weiterer SS-20-Raketen und den Teilabzug von Truppen und Panzern aus der DDR. Horst Eberhard Richter sah im gegenseitigen Misstrauen das Haupthindernis weiterer Entspannungsschritte. Valentin Falin nannte es eine erschreckend Veränderung, dass die Gegenseite offenbar wieder davon ausgehe, ein Krieg sei möglich und könne politisch notwendig sein.

Eugen Kogon fasste zum Schluss des zweitägigen Gesprächsmarathons mehrere Punkte zusammen, denen besonderes Gewicht zukomme: der Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen und auf „Abschreckung“ -  die Begrenzung der nuklearen Arsenale -  die Begrenzung von Mittelstreckenraketen, besonders in Europa -  das Ziel, alle Atomwaffen in der Welt zu verbieten -  keine weitere Ausweitung der Machtblöcke -  die europäische Konferenz über Sicherheit und Abrüstung -  die Befriedung und Beseitigung internationaler Konfliktherde. Sein Resümee: kein Konflikt kann heute mehr mit militärischer Gewalt gelöst werden: wenn sich diese Einsicht nicht durchsetzt, kann es schon in den nächsten Jahren zur Katastrophe kommen. Entscheidend sei, dass nicht nur die Öffentlichkeit umdenke, sondern dies auch auf die Regierungsebene durchschlage.

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Zwei Wochen nach dem Besuch deutschen Delegation verstarb das Staatsoberhaupt der UdSSR, Leonid Breschnew. Sein Nachfolger Jurij W. Andropow verstarb ebenfalls, nach nur kurzer Amtszeit. Sein Nachfolger hieß Michail Gorbatschow. Die weitere Entwicklung ist bekannt.