Manuskript einer Hörsendung für den Deutschlandfunk
Erstsendung: 8. August 2000 von 19.15 bis 20.00 Uhr
Regie: Musik „Mutterlied“
1. Übersetzerin
Warum ist der Zopf meiner Mutter so früh grau geworden?
Meine Mutter hatte früher einen goldenen Zopf,
Die Schlaflosigkeit meiner Mutter, die Sorgen meiner Mutter.
Ihr Schicksal war schwer.
Sie wartet an der Pforte.
Unter grauen Haaren ist Trauer.
Erzählerin
Die Leiden der ukrainischen Frauen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts stehen den Drittklässlern von Peremoha deutlich vor Augen. Sie wohnen in einem Dorf, 50 Kilometer östlich von Kiew. Es hieß Jadliwka, bevor deutsche Soldaten es im späten August 1943 dem Erdboden gleich machten und seine Einwohner zur Zwangsarbeit verschleppten. Überlebende bauten es nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf und nannten es Peremoha – das bedeutet Sieg.
Regie: O-Ton Kinderstimmen
1. Übersetzerin
Es war einmal eine Familie, ein Vater, eine Mutter und ein Kind. Die Deutschen haben diese Familie in ihr Haus gesperrt, sie wollten sie verbrennen. Der Vater warf das Kind aus dem Fenster, damit es am Leben blieb. Aber die Deutschen standen im Kreis um das Haus herum, und sie haben das Kind wieder ins Feuer geworfen. Der Vater versuchte mehrmals, das Kind zu retten, aber die Deutschen haben es immer wieder ins Feuer geworfen. Das Kind und die ganze Familie sind verbrannt. Und das Haus auch.
Erzählerin
Traurigkeit liegt über Peremoha. Überall stoße ich auf Massengräber aus der Zeit der großen Hungersnot, die der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in den frühen dreißiger Jahren folgte. Gedenktafeln mit den Namen und Photos verbrannter oder erhängter Menschen lassen die Vergangenheit nicht ruhen. Die Kinder pflegen und bepflanzen diese Orte des Erinnerns.
Traurigkeit liegt auch über ihnen, wenn sie von den alten Leuten im Dorf erzählen. Sie haben sich für meinen Besuch feingemacht; ein kleiner Junge trägt einen dunklen Anzug mit Fliege; manche Mädchen haben sich Spitzenkragen umgelegt und Schleifen ins Haar gebunden. Jedes Kind überreicht mir ein paar Bauernrosen. Die Drittklässler sitzen an langen rotgedeckten Tischen in einem abgedunkelten Saal des Untergeschosses der Schule, der in den späten sechziger Jahren zum „Museum“ ausstaffiert wurde. Sie haben Sets aus Pappe mit Kinderzeichnungen aus der Sowjetära vor sich liegen: wehrhafte Rotarmisten, hilfsbereite Jungpioniere, tatkräftige Komsomolzen. Von einer Wand blickt Lenin herab, um ihn herum sind die Konterfeis berühmter Bolschewisten drapiert. Neben der Tür hängt: Stalin. Darunter ein Zitat: „Besser arbeiten, glücklicher leben.“ Das sei Geschichte, erklärt mir der Schuldirektor.
Regie: O-Ton Kinderstimme
1. Übersetzerin
Mein Großvater hat mir sehr viel über den Krieg erzählt. Und er hat auch gesagt, dass die Menschen damals sehr patriotisch waren. Nur deshalb konnten sie den Krieg gewinnen. Ohne diesen Patriotismus wäre das unvorstellbar gewesen. Gäbe es jetzt einen Krieg, wären die jungen Leute nicht mehr so patriotisch. Man könnte sagen, dass sie verdorben sind. Dass sie nicht fähig sind, die Heimat zu verteidigen. Also deshalb habe ich mehr und mehr Respekt vor den alten Menschen, die damals ihr Leben hingegeben haben, um ihre Heimat zu befreien. Sie haben – so kann man sagen – damals unseren heutigen Tag gegründet. Ich denke oft daran, und ich bin den alten Leuten sehr dankbar. Der Zweite Weltkrieg ist schon lange her, aber trotzdem denken die Kriegsopfer sehr oft an diese Zeit zurück. Ich glaube, sie vergessen bis zu ihrem Tod diese Ereignisse nicht, weil sie so fürchterlich waren.
Erzählerin
„Regungslos und begeistert stehen die Wälder da, voll von Dunkel; ungeheure Schatten werfen sie. Die ganze Landschaft schläft. Oben aber atmet alles; alles ist zauberhaft, alles feierlich. Und die Seele fühlt sich unbeschwert und unbegrenzt und wunderbar; und Scharen silberner Visionen tauchen nacheinander auf in ihrer Tiefe. Göttliche Nacht! Bezaubernde Nacht! Und plötzlich ist alles belebt: Wälder und Teiche und Steppen. Es dröhnt das majestätische Schmettern der ukrainischen Nachtigall, und man glaubt, auch der Mond mitten am Himmel lausche ihr.“
Die Natur, wie sie Nikolaj Gogol vor über hundert Jahren bedichtete, gibt es nicht mehr. Die Ukraine ist im großen Stil „kultiviert“ worden und liegt nun wie ausgestorben da. Sümpfe sind trockengelegt, Wälder gerodet worden. Das Dorf, das heute „Sieg“ heißt, wirkt auf den ersten Blick sehr hell mit seinen vielen weiß getünchten Lehmhäuschen. Ihre Fenster und Türen sind einheitlich in jenem leuchtenden Blau gehalten, das sich auch auf der ukrainischen Nationalflagge findet. Aber unter den frischen Farben verbirgt sich Verfall. Die meisten Menschen hier haben kein Geld, das Holz instand zu halten. Zerbrochene Glasscheiben ersetzen sie durch Plastikfolie. Am Ortsende die Ruine der einstigen Kolchose mit ihren barackenartigen, grauen Betonbauten. Ein ausgebrannter Schornstein ragt fingerartig in die Luft. Gerätschaften aus der Ära der industrialisierten Landwirtschaft, für die es keinen Kraftstoff und keine Zugmaschinen mehr gibt, rosten vor sich hin.
Regie: O-Ton Grigorij
1. Übersetzer
Als diese Reformen kamen, ist das Leben sehr schwer geworden. Früher haben wir sehr schön gelebt. Wir haben alles gehabt. In der Kolchose hatten wir alles, was man braucht. Wir haben alles bekommen. Wir hatten alles, was der Mensch braucht. Wir hatten Arbeit. Aber jetzt ist das Leben sehr schwer.
Regie: Dorfatmo
Erzählerin
Die Hauptstraße von Kiew nach Pryluki zerschneidet das Dorf buchstäblich und trennt das Gemeindehaus von der Kirche. Am Ortseingang sitzen alte Frauen mit geblümten oder blau-weiß gemusterten Kopftüchern und ausgebleichten Schürzen auf einfachen Hockern. Sie haben auf der Erde vor sich ausgebreitet, was ihr Garten gerade hergibt: einen Beutel Kartoffeln, ein paar Bund Radieschen und Lauchzwiebeln, Dillsträußchen, weiße und rote Bauernrosen. So verdienen sie ein paar Kopeken, mit denen sie dann etwas Fett, Zucker, Salz, Mehl oder Seife kaufen können.
Regie: O-Ton Maria
4. Übersetzerin
Gestern bekamen wir die Rente, mein Mann und ich. Zu zweit bekamen wir 58 Grivna. Davon sollen wir den ganzen Monat leben. Wie können wir von diesem Geld leben? Wir zu zweit? Und zwei Söhne. Und die Söhne haben keine Arbeit. Bewahre uns Gott, dass wir sterben. Wenn jemand stirbt, mein Mann oder ich – wir haben überhaupt nichts. Wir haben nichts gespart. Wir konnten nichts sparen. Wir haben keine Vorräte. Wir haben nicht einmal das Geld, um einen Sarg zu kaufen. Es gibt kein Geld, weder in der Familie noch im Dorfrat. Das Leben war noch nie so hart wie heute. Es ist ein Glück, dass mein Mann während des Krieges in Deutschland gewesen ist. Deshalb zahlen wir für Gas und für Strom etwas weniger als die anderen.
Erzählerin
Ende der zwanziger Jahre begann die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft im großen Stil und mit ihr die Leidensgeschichte des Dorfs Jadliwka. Die selbständigen Bauern, die meistens nicht mehr als zehn, elf Hektar Boden, ein oder zwei Pferde und ein paar Kühe besaßen, galten als „Kulaken“. Dieser Begriff hatte im Russischen einen ähnlich abwertenden Klang wie das Wort „Juden“. Es brandmarkte die vergleichsweise Wohlhabenden als „Aufkäufer“ und als Geizhälse. Ihre Höfe faßte man zu einem agrarischen Großbetrieb auf genossenschaftlicher Grundlage zusammen: zu einer Kolchose. Menschen, die sich widersetzten, wurden ermordet oder deportiert. Hunderttausende sind Anfang der dreißiger Jahre in Arbeitslagern verschwunden.Maria Awramonka Christolubskaja war fünf Jahre alt, als eine „revolutionäre Brigade“, die sich aus einstigen Dorfarmen und kommunistischen Funktionären zusammensetzte, ihre Familie aus dem Haus trieb und ihren Vater verhaftete.
Regie: O-Ton Maria
4. Übersetzerin
Meinen Eltern ging es ganz gut, aber man hat uns alles weggenommen, weil wir nicht in die Kolchose wollten. Unser Besitz gehörte seitdem der Kolchose. Wir hatten kein Zuhause, wir waren praktisch obdachlos. So saßen wir bis spät in der Nacht in der Kälte, im Frost. Dann kam eine alte Frau, und sie hat uns angeboten, bei ihr zu übernachten. Bei dieser alten Frau haben wir eine Zeitlang gelebt. Dann kamen wir zu anderen Menschen, die uns aufgenommen haben. Aber jede Familie nur für kurze Zeit. So haben wir als Kinder gelebt.
Erzählerin
Maria Awramonka ist eine große, kräftige Frau. Ihr sonnengegerbtes, zerfurchtes Gesicht zeugt von harter Feldarbeit; die braungebrannten Arme und Hände muten schwer und übergroß an. Sie kann sich nur noch mühsam fortbewegen. Ihre Beine sind unterhalb der Knie vom ständigen Bücken nach außen gedrückt. Mit ihrem blauweiß-gemusterten Kopftuch und der buntgeblümten Schürze über dem langen schwarzen Rock sieht sie aus, wie ich mir eine ukrainische Babuschka vorgestellt habe.
Regie: O-Ton Maria
4.Übersetzerin
Wir hatten Angst und haben viel geweint. Wir haben sehr unter dem Hunger gelitten, das war unerträglich. Jemand hat meiner Mutter ein paar Kartoffeln gegeben. Sie hat diese Kartoffeln gesammelt, so in einem kleinen Beutel, und wollte sie unserem Vater ins Gefängnis bringen. Sie kam ins Gefängnis und hat diesen Beutel dem Wächter gegeben und hat den Namen des Vaters gesagt. Der Wächter ist weggegangen, dann hat er diesen Beutel – aber schon leer, ohne Kartoffeln – der Mutter zurückgegeben und hat gesagt: Also, ihr Mann ist schon gestorben. Dann mußten wir richtig betteln. Wir hatten nichts zu essen. Wir haben sehr gelitten an Hunger. Wir sind durch das Dorf gelaufen, und wir haben so richtig gebettelt. Einige Menschen haben uns etwas gegeben: ein bißchen Brot, aber es gab auch Menschen, die uns so richtig beschimpft haben: Sie haben uns Kulakenfratzen genannt und von ihrem Hof gejagt
Regie: Dorfatmo Erzählerin
Maria Awramonka und Iwan Philoppowitisch Christolubskij sitzen mir gegenüber – zu Füßen ihres Ehebetts. Es ist über und über mit folkloristisch-handbestickten Zierkissen bedeckt und thront auf einer himmelblau gestrichenen Empore mitten in einem Zimmer, das gleichzeitig als Wohn- und als Schlafraum dient. Die beiden teilen ihr Haus mit ihren zwei alleinstehenden Söhnen, die wie die meisten Menschen in Peremoha arbeitslos sind. Ihre einstigen Frauen haben dem perspektivlosen Dasein in dem Dorf längst den Rücken gekehrt. Das alte Paar erinnert mich an die Sage von Philemon und Baucis. Es hat aufgetischt, was Stall und Garten hergeben: ein gekochtes Huhn, Borschtsch mit Schweinefleisch und viel frischem Dill, Radieschensalat, Knoblauchpasteten, süße Hefekuchen und Honig. Viele Menschen in Peremoha imkern. Denn das Dorf ist in der Nachkriegszeit über und über mit Akazien bepflanzt worden, die jetzt – im frühen Sommer – in voller Blüte stehen und die Luft mit ihrem Duft erfüllen. Maria Awramowka läßt es sich nicht nehmen, mich zu bedienen, obwohl das Hin- und Herlaufen mühsam für sie ist. Immer neue Speisen holt sie aus der Küche, deren spärliches Mobiliar in einen baufälligen Wintergarten hineingequetscht ist. Seine Sprossenfenster scheinen nur noch durch die kräftige blaue Farbe zusammengehalten zu werden, die Iwan Philippowitsch so liebt: Sie erinnere ihn an das Meer und an den Himmel, sagt er: „Die Augen können sich darauf ausruhen.“
Mit süßem Johannisbeerwein stoßen wir auf unsere neue Freundschaft an. Das Festmahl macht vergessen, wie hart die beiden alten Leute noch immer für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen. Im Hof halten sie ein paar Schweine und Hühner. Hinter dem Haus erstreckt sich ein kleiner Acker, auf dem sie Kartoffeln und Rüben anbauen. Den größten Teil der sieben Hektar Land, die ihnen nach der Auflösung der Kolchose zugeteilt worden waren, haben sie für wenige Grivna an die örtliche Genossenschaft verpachtet. „Ja, wenn wir einen Traktor hätten“, sagt Iwan Phillipowitsch, „dann könnten wir wohl vierzig Hektar bewirtschaften.“ Er besitzt nur einen alten Schimmel und ein Holzwägelchen, mit dem er mich über holundergesäumte Lehmpfade zur Hauptstraße zurückfährt.
Regie: Dorfatmo
Erzähleri
Von ihrer Rente – umgerechnet weniger als 30 Mark – können die Christolubskijs nicht existieren. Sie leben „von der Erde“, wie man in Peremoha zu sagen pflegt. Aber ihre Kräfte lassen nach, und sie haben Angst vor der Zukunft. Der Blick auf die Vergangenheit spendet keinen Trost. Sie ist angefüllt mit Schreckensbildern, die dem Gedächtnis stets präsent sind. Maria Awramowna erinnert sich noch genau an die große Hungersnot, die der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der Ukraine Anfang der dreißiger Jahre folgte.
Regie: O-Ton Maria
4. Übersetzerin
Sehr viele Menschen sind verhungert, sehr viele. Besonders 1933. Oft war es so, dass jemand im Hause saß und nichts zu essen hatte. Dann ist er aus dem Haus gegangen und ist vor dem Zaun gestorben. Einige Menschen haben überlebt. Aber die meisten sind ums Leben gekommen.
Erzählerin
„Was ich sah, ließ sich nicht in Worten ausdrücken. Ich lernte ein so unmenschliches, so schreckliches Elend kennen, das es mir fast abstrakt erschien“,
Regie: O-Ton Maria
4. Übersetzerin
Das Wort Hilfe haben wir damals nicht gekannt. Eigentlich gab es genug Brot, aber es gab keine Hilfe. Das war die Politik von Stalin.
Erzählerin
In Peremoha sprechen die alten Leute heute noch mit Trauer von über achthundert Menschen, die damals gestorben sein sollen. Die Schüler, die sich im Dorfmuseum versammelt haben, erzählen Gruselgeschichten: dass die Leute Mäuse und Ungeziefer aßen; dass ein Vater seine eigenen Kinder fressen wollte; dass bolschewistische Brigaden Verhungernde lebendigen Leibes in die Massengräber versenkten. Mitte der dreißiger Jahre erholte sich die sowjetische Landwirtschaft allmählich. Maria Awramownas Familie konnte sich ein kleines Holzhaus bauen. Die Mutter arbeitete nun für die Kolchose. Aber die Jahre des Friedens waren gezählt. Im Sommer 1941 überfiel das nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion und verwandelte die Ukraine in ein riesiges Schlachtfeld. Etwa viereinhalb Millionen Menschen kamen ums Leben. Den Sachschaden schätzte man nach Kriegsende auf 285 Milliarden Rubel. Jadliwka wurde am 14. September 1941 von einer Luftwaffeneinheit eingenommen. Manche betrachteten die Soldaten als Befreier vom Bolschewismus und begrüßten sie mit Brot und Salz. Die Besatzer versorgten die Dorfbewohner mit Medikamenten, und sie gaben enteigneten Bauern ihren Besitz zurück. So konnte Maria Awranownas Familie wieder ihr altes Haus beziehen, das zwischenzeitlich als Kindergarten gedient hatte.
Regie: O-Ton Maria
4. Übersetzerin
Schlechte Erlebnisse mit den Deutschen hatten wir nicht gehabt. Wir wohnten in der Nähe der Schule. Und da lebten die Deutschen. Sie waren damals zu zwölft, und sie waren sehr gut. Wir hatten schon unseren Gemüsegarten, und die Deutschen haben uns geholfen. Sie sind mit zwei Pferden gekommen und haben geholfen zu pflügen. Während der Arbeit haben sie immer etwas aus den Feldflaschen getrunken. Und wir, meine Schwester und ich, wir waren sehr neugierig. Und wir wollten immer kosten, was sie da tranken. „Ist das süß?“ Und einmal, da lief ich vorsichtig mit meiner Schwester zu dieser Flasche, und wir haben probiert – das war Kaffee.
Erzählerin
Nach der Niederlage vor Moskau und dem Scheitern der Blitzsiegstrategie veränderte sich das Verhalten der deutschen Wehrmachtsangehörigen auch in der Ukraine. Sie gingen zusehends brutaler gegen die Zivilbevölkerung vor. Auch begannen sie, systematisch jugendliche Zwangsarbeiter für die „Heimatfront“ oder für die besetzten Gebiete zu rekrutieren, wo sich deutsche Firmen wie Krupp, Bahlsen, Henkel und Holzmann niedergelassen hatten. Etwa eine halbe Million Frauen und junge Mädchen wurden bereits 1942 verschleppt. In Jadliwka fand Anfang 1942 eine erste Razzia statt, bei der 48 junge Leute rekrutiert und nach Deutschland deportiert wurden. Am 19. Dezember 1942 trieb eine Einsatzgruppe des SS-Sicherheitsdienstes alle Männer des Dorfes in der Schule zusammen. 29 von ihnen wurden unter den Augen ihrer Angehörigen erhängt, sie sollten mit den Partisanen zusammengearbeitet haben. Sophia Kutscher war damals siebzehn Jahre alt. Sie trägt eines jener weinroten Synthetikkleider, wie sie Ende der sechziger Jahre in Mode waren, als die Kolchose von Peremoha ihre Blütezeit erlebte. Auch die zerschlissenen Hausschuhe und das billige Kopftuch scheinen noch aus dieser Zeit zu stammen.
Regie: O-Ton Sophia Kutsche
3. Übersetzerin
Unsere Familie hat in der Nähe von der Schule gelebt. Die Deutschen kamen in das Dorf, und sie haben meinen Vater und meinen jüngeren Bruder – der hieß Wassili – auch in der Schule eingesperrt. Sie wollten sie töten. Wir waren alle zu Hause. Wir hatten soviel Angst. Das kann ich nicht beschreiben. Dann kam ein Deutscher zu uns ins Haus, und er wollte einen Strick haben, um diese Menschen zu erhängen. Als der Deutsche kam, haben wir ihn angefleht, dass er unsere Angehörigen am Leben läßt. Dann kamen die Deutschen, und sie haben uns auch aus dem Haus getrieben, und sie haben immer geschrien: „Los! Zuschauen!“ Das war schrecklich. Und wir haben die Gesichter abgewendet, wir haben die Augen zugemacht. Aber die Deutschen haben immer geschrien: „Zuschauen! Zuschauen!“ Das war ein unerträgliches Bild. Das war vielleicht das schrecklichste Erlebnis in meinem Leben. Dann habe ich hier noch eine Frau gesehen, die die Deutschen auch erschossen haben. Hier, in der Nähe von der Kirche, stand ein Haus. Die Deutschen haben sehr viele Menschen in dieses Haus gesperrt. Sie haben furchtbar geschrien. Die Deutschen haben das Haus angezündet, und viele Menschen sind dort ums Leben gekommen. Meine Schwester hat dabei ihren Mann verloren. Wir kamen dorthin, und wir fanden nur noch die verkohlten Überreste von diesen Menschen. Sie konnte ihren Mann nur deshalb erkennen, weil eine Hand von ihm dalag, mit einem goldenen Ring. Das war das einzige, was von ihm übrig geblieben war. Diese Menschen sind jetzt in der Nähe von der Kirche begraben. Da steht auch ein Kreuz.
Regie: O-Ton Iwan Christolubski
3. Übersetzer
Dann haben die Deutschen das zweite Haus angesteckt. Eine Frau wollte weglaufen, aber die Deutschen haben sie erschossen. Sie hatte ihr Kind an der Hand. Das Kind war am Leben geblieben. Ein Deutscher hat es dann aus nächster Nähe erschossen. Der Vater ist weggelaufen. Und er hat sich irgendwo hinter den Ställen versteckt. Aber da war noch ein Mädchen in der Familie. Das hat immer „Vater! Vater“ gerufen. „Vater! Vater!“ Sie haben zuerst das Mädchen erschossen und dann den Mann.
Erzählerin
Iwan Philippowitisch war noch ein Kind, als er ansehen musste, wie ganze Familien in ihren Häusern verbrannt wurden, weil sie den Partisanen geholfen oder Widerstand geleistet hätten. Sein zerknittertes Gesicht wirkt merkwürdig starr, wenn er davon erzählt, unter dem Tisch ringt er die Hände. Er war dabei, als Männer in SS-Uniform Ende August 1943 die verbliebenen Menschen aus dem Dorf trieben. Den Widerstrebenden legten sie Strohgarben in die Arme, erschossen sie und zündeten sie dann an. Vier Tage brauchten die Brandstifter und ihre ukrainischen Hilfspolizisten, bis Jadliwka vollkommen in Trümmern lag. 1.338 Einwohner wurden nach Deutschland verschleppt.
Regie: Dorfatmo
Erzählerin
Iwan Kalushnyj war damals fünfzehn. Er erwartet mich, über einen Stock gebeugt, auf einer Bank vor dem Rathaus aus den späten sechziger Jahren. Zerbrochene Fensterscheiben sind wie überall durch Plastikfolien ersetzt, der Anstrich müsste dringend erneuert werden. Der alte Mann genießt den allgegenwärtigen Duft der blühenden Akazienbäume. Er liebe die Natur, sagt er. Sie sei das Schönste im Leben. Und er deutet auf eine hochgewachsene Tanne, die er in der Zeit des Wiederaufbaus des Dorfes selbst gepflanzt hat. Iwan Kallushnyi zeigt mir den Dorfpark, in dessen Mitte ein Obelisk mit den Namen jener steht, die während des Zweiten Weltkrieges ihr Leben verloren haben, er deutet auf Holzkreuze und Gedenktafeln, die an die verbrannten und erhängten Menschen erinnern. Den alten Menschen in Peremoha seien diese Orte des Erinnerns wichtig, erklärt mir Iwan Kalushnyj. Sie würdigten die Überlebenden wie die Toten. In einem dunklen Büroraum des Rathauses erzählt er vom Ende von Jadliwka.
Regie: O-Ton Iwan Kalushnyj
2. Übersetzer
Das war früh am Morgen. Wir haben gerade auf dem Feld gearbeitet. Es war Erntezeit. Da kamen die Deutschen. Sie haben uns alle zusammengetrieben, keiner durfte heraus. Sie haben uns befohlen, das Dorf zu verlassen. Wir gingen zu Fuß. Einige konnten mit dem Pferdewagen fahren. Unsere Familie hatte kein Pferd, wir mussten zu Fuß gehen. Der Nachbar hat uns auf seinen Wagen eingeladen. Er und seine Familie wollten fliehen. Dann kam das Gerücht auf, dass die Deutschen uns vernichten wollen. Wir standen da, voller Angst. Es war hier damals ein Sumpfgebiet mit viel Wasser. Wir haben an einem Flussufer gehalten, dort stand ein Maschinengewehr. Wir waren davon überzeugt, dass man uns vernichten wird, wir haben eigentlich auf den Tod gewartet. Aber dann kam ein Offizier geritten, der hatte eine Kosakenuniform an. Er trug ein Paket. Das hat er unserem Kommandeur übergeben. Der hat den Brief in dem Paket gelesen. Dann haben wir noch zwanzig, dreißig Minuten gewartet. Schließlich kam der Befehl, dass wir bis Gogoliew weiter marschieren sollen und dann bis Brovary. Dort war ein alter Flugplatz. Es war schon Abend. Die Deutschen haben uns befohlen, einen Kreis zu bilden. Wir standen da, ohne Wasser, ohne irgendwas. Es war schrecklich. Die Menschen waren müde, sie hatten den ganzen Tag nichts gegessen. Der Durst war unerträglich. Die Kinder haben geschrien. Erst um ein Uhr in der Nacht kamen Fässer voll Wasser.
Regie: O-Ton Iwan Phillipowitsch
3. Übersetzer
Alles stand in Flammen. Und wir mussten zu Fuß nach Brovary gehen. Ich war damals klein, und ich war barfuß, ich hatte keine Schuhe. Ich habe mir die Füße so verletzt, dass sie richtig bluteten. Dann kamen die Deutschen mit ihrem Auto, und sie haben mich mitgenommen und nach Brovary gefahren. So habe ich meine Mutter verloren. In Brovary habe ich meine Mutter dann wiedergefunden. Sie war so aufgeregt. Sie hat immer „Wanja, Wanja“ gerufen. So haben wir uns wiedergefunden. In Brovary standen Waggons, Güterwagen mit Kohle. Die Deutschen ließen die Kohle abladen, und wir wurden in diese Waggons getrieben.
Man hat uns zunächst nach Polen gebracht, in die polnische Stadt Przemysl. Dort gab es eine Kommission, die hat die Menschen selektiert und bestimmt, wer nach Deutschland fährt. Unterwegs hatte ich einen Hautausschlag bekommen, ich hatte so richtige Ekzeme. Und die Kommission hat entschieden, ich sollte zurückfahren. Aber ich war damals so klein, und ich hatte Angst, alleine nach Hause zu fahren. Nachdem ich weggeschickt worden war, bin ich durch den Stacheldraht zurück gekrochen. Ich hatte eine Schwester, die trug einen langen, breiten Rock. Und ich habe mich unter diesem Rock versteckt. So kam ich nach Deutschland.
Erzählerin
Es waren vor allem Kinder und Jugendliche, die aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland verschleppt wurden. Die fensterlosen Waggons waren so überfüllt, dass sie weder liegen noch sitzen konnten. Die Fahrt bis Frankfurt an der Oder erschien ihnen endlos. Dort wurden ihre Fingerabdrücke genommen, sie erhielten Schilder mit ihren Namen und einer Nummer und wurden dann zu verschiedenen Verteilungspunkten transportiert, die Sklavenmärkten glichen. Dahin kamen Bauern, Unternehmer und andere und suchten sich dort ihre Zwangsarbeiter aus. Iwan Philoppowitisch Christolubskij und seine Schwester wurden schließlich von einem Gutsbesitzer mitgenommen.
Regie: O-Ton Iwan Phillipowitsch
3. Übersetzer
Es ging uns nicht gut in Deutschland. Der Hausherr hat uns manchmal geschlagen. Ich kann mich entsinnen, dass der Hausherr uns einmal gesagt hat, dass wir Reisig holen sollen. Aber wir waren ihm zu langsam. Dann hat er uns fürchterlich geschlagen. Und wir sind so richtig von der zweiten Etage heruntergeflogen. Dann haben wir uns eine Zeitlang im Stall versteckt. Der Hausherr war sehr zornig. Wir waren dort, bei diesem Herren, zu sechst. Wir waren sechs Jungen. Und wir hatten nie ein Wochenende oder einen freien Tag. Wir mußten jeden Tag arbeiten. Sonntags kam ein Bekannter, ein Jäger, zu unserem Hausherrn. Und wir kleinen Kinder mussten in den Wald laufen und die Hasen treiben. Und die Jäger haben diese Hasen gejagt. Am schlimmsten war es in Deutschland für die Kinder.
Erzählerin
Arbeitspflicht galt erst ab fünfzehn Jahren. Aber viele wurden schon viel früher eingesetzt, vor allem in der Landwirtschaft. Andere verdingten sich freiwillig, weil sie dann etwas mehr zu essen b
ekamen. Leben in Deutschland, das hieß für sie: Hunger, Kälte, Prügel, Haft, Krankheit und Tod. Stumme Zeugen ihrer Qualen sind heute oftmals namenlose Gräber, wie sie in fast jeder Stadt oder Gemeinde zu finden sind. In der Sowjetunion sollten sie später als Kollaborateure der Nazis klassifiziert werden – weil sie für Deutsche gearbeitet hatten. Deshalb haben sie lange Jahre geschwiegen, und heute finden sie nur noch karge Worte für das durchlebte Martyrium.
Regie: Mutterlie
Erzählerin
Zweieinhalb Millionen ukrainische Zwangsarbeiter haben die deutsche Industrie und Landwirtschaft gegen Ende des Krieges aufrecht erhalten und somit das Wirtschaftswunder der sechziger Jahre mitbegründet. Die meisten waren unter zwanzig Jahre alt, als sie verschleppt wurden. 600.000 sind heute noch am Leben. Etwa 260 von ihnen leben in Peremoha. Viele haben bleibende körperliche und seelische Schäden erlitten.
Erzählerin
Iwan Phillippowitsch Christolubskij gehört zu jenen Hunderttausenden, die nach dem Krieg erneut deportiert wurden. Er war gerade siebzehn Jahre alt, als man ihn in ein sogenanntes Filtrationslager bei Königsberg einlieferte und nach langen Verhören als Kollaborateur der Nazis klassifizierte. So blieb er Zwangsarbeiter, weitere vier Jahre, nun in einem Holzfällerlager im Ural. Er hat noch heute vor Augen, wie ganze Gruppen von Menschen von schweren Baumstämmen erschlagen wurden, die sie mit bloßen Händen verladen sollten.
Regie: O-Ton Iwan
3. Übersetzer
Die Menschen starben, die Menschen starben jeden Tag. Das Essen war sehr schlecht. Jeden Tag bekamen wir einen Teller Suppe, mit einem Blatt Weißkohl und sechshundert Gramm Brot. Das war das ganze Essen für den Tag. Abends sind wir alle ins Bett gegangen und alle eingeschlafen. Wenn wir morgens aufstanden, dann sahen wir, dass zwei, drei Menschen gestorben waren. Wir waren doch Kinder, wir waren noch sehr klein. Aber man hat uns damals Verräter genannt. Man hat uns immer gesagt: Du hast deine Heimat verraten. Wir konnten doch keine Verräter sein. Das ist im Grunde genommen Unsinn. Kleine Kinder können keine Verräter sein. Aber trotzdem hat man uns so genannt.
Erzählerin
Solange die Sowjetunion existierte, wurden die ehemaligen Zwangsarbeiter nicht als NS-Opfer anerkannt und erhielten keinerlei Entschädigung. Erst nachdem die Ukraine unabhängig geworden war, erhielten sie den gleichen Status wie die Kriegsveteranen. Es blieb die Trauer um das verlorene Leben.
Regie: O-Ton Iwan
3. Übersetzer
Ich kam erst im Jahr 1950 aus dem Ural nach Hause. Es ist traurig, die ganze Jugend ist verloren gegangen.
Erzählerin
Der materielle Schaden, den die Deutschen in Jadliwka angerichtet hatten, wurde nach dem Krieg auf 66 Millionen Sowjetrubel geschätzt. Die Heimkehrer fanden außer der Kirche nur noch Trümmer, ein paar Schornsteine, Lehmwände und verbrannte Erde vor. Sie lebten von Kräutern, Beeren und Gemüseresten, die sie in den verwüsteten Gärten vorfanden.
Regie: O-Ton Sophia Kutscher
3. Übersetzerin
Es gab kein Jadliwka mehr. Es war gut, dass die Großeltern vor uns hier waren. Die Deutschen hatten sie nach Vinniza verschleppt, und sie sind vor uns zurückgekehrt. Sie haben hier ein Erdloch gebaut. Und gleich danach sind sie gestorben. Was das Essen anbetrifft: Es gab nichts. Ich bin in die Westukraine gefahren und habe dort gearbeitet. Von da habe ich einen Sack Kartoffeln mitgebracht, sechzehn Kilo. Und Gerste. Hier herrschte damals Hunger.
Erzählerin
Es gab keine Transportmittel und kein Werkzeug. Mit selbst gefertigten Handkarren oder Schlitten holten die Heimkehrer Holz aus dem nahegelegenen Wald und errichteten notdürftige Hütten. Kriegsveteranen bekamen etwas Baumaterial vom Staat. Ehemalige Zwangsarbeiter gingen leer aus. Viele, die ohnehin geschwächt und krank waren, überlebten die neuen Strapazen nicht. Trotzdem betrachten viele alte Menschen diese Pionierjahre heute als eine glückliche Zeit gegenseitiger Hilfsbereitschaft, in der sie voller Hoffnung in die Zukunft blickten.
Regie: O-Ton Grigorij Byschowez
1. Übersetzer
Ich habe gesehen, dass eine Familie zwei Wände gebaut hat. Dazwischen stand ein Ofen. Alle saßen um diesen Ofen und haben gesungen. Die Menschen waren damals sehr fröhlich. Sie waren nicht so betrübt, wie sie es jetzt sind. Sie haben sich gefreut, dass der Krieg zu Ende war, dass hier Frieden herrschte. Dann, 1949, hat die Kolchose ihren Betrieb wieder aufgenommen. Die Menschen bekamen Arbeit, sie bekamen Lohn. Dann ging alles besser.
Regie: O-Ton Sophia Kutscher
3. Übersetzerin
Da kam ein junger Mann aus der Armee. Ich habe ihn geheiratet, weil seine Familie eine Kuh hatte. Da war keine Liebe, wir sind nie spazieren gegangen. Ich hatte eigentlich keinen Menschen im Leben. Ich habe ihn nur geheiratet, weil er eine reiche Familie hatte. Ich war jung, und junge Männer hatten sich für mich interessiert, in Deutschland und hier. Aber trotzdem war ich keusch, als ich geheiratet habe. Darauf bin ich stolz. Wir begannen unser eigenes Haus zu bauen. Es war eigentlich nur eine kleine Hütte mit einem Fenster. Aber jedes Jahr kam ein Kind. Ich habe 1947 geheiratet und 1948 den ersten Sohn geboren. 1950 kam dann der zweite. Und so bekam ich jedes Jahr ein Kind. Wir haben nicht viel, wir haben nur unsere Ziege und sonst nichts.
Regie: Dorf-Atmo
Erzählerin
Zu Sophia Kutschers Lehmhäuschen gelangt man von der Hauptstraße aus über einen holprigen Lehmpfad. Er führt am Dorfteich vorbei, den Enten und Gänse bevölkern. Ein Storchenpaar umkreist ihn auf der Suche nach Fröschen. Die Fünfundsiebzigjährige ist außer sich vor Freude, weil ich sie „nutzlose alte Frau“ besuche. Sofort ergreift sie ein Messer und will Gemüse für eine Suppe holen. Es gelingt mir, sie davon abzubringen. Stattdessen köpft sie einen ganzen Armvoll Bauernrosen und schenkt ihn mir. Dann zeigt sie mir ihr Allerheiligstes: den Schlaf- und Wohnraum. Dort ist ihr über und über mit schlichten Ikonen geschmückter Altar aufgebaut, vor dem sie sich mehrmals am Tag auf die Erde wirft und inbrünstig betet. Ihr Glaube versöhne sie mit ihrem schweren Leben und gebe ihr Zuversicht, sagt sie.
Regie: Kirchenchor
Erzählerin
Die Kirche von Peremoha ist innen wie außen in der Landesfarbe Himmelblau gestrichen und wirkt sehr hell. An den Wänden hängen billige Heiligenbilder, einfach und farbenfroh. Nach alter ukrainischer Tradition bestickte oder bedruckte Tücher und Schals schmücken den Altar und umrahmen manche Ikonen. Der braun gestrichene Fußboden des Gotteshauses ist mit farbenfrohen bunten Flickenteppichen übersät. In dem großen Innenraum verlieren sich während der sonntäglichen Messe an die dreißig alte Frauen. Sie ähneln einander mit ihren krumm gearbeiteten Gestalten. Alles tragen geblümte oder weiß-blau gemusterte Kopftüchern und Sonntagskleider aus der Zeit, als es noch die Kolchose und Arbeitsplätze gab. Die meisten haben Stoffpantinen an den Füßen. Vielleicht fehlt ihnen das Geld für festes Lederschuhwerk, vielleicht können sie es aber auch gar nicht an ihren müden Beinen und geschwollenen Füßen ertragen. Sie gehen schleppenden Schrittes durch den weiten Raum. Manche werfen sich immer wieder auf die Knie oder bäuchlings auf den Boden.
Sophia Kutscher steht an diesem Sonntag vier Stunden in dem kleinen Chor, rechts vom Altar. Sie singt und singt. Ein alter Mann läuft alle paar Minuten zum Altarraum und bringt dem Priester einen frisch gefüllten Weihrauchschwenker. Gegen Ende des Gottesdienstes versammelt sich die Gemeinde zur heiligen Kommunion. Sorgsam verwahren die Menschen die kleinen Teigkugeln. Eine Frau tritt zu mir heran und schenkt mir ersatzweise ein Bonbon.
Regie: Kirchengesang geht zu Ende. Aufblende Altenheimatmo
Erzählerin
Die alte Frau kommt aus dem Altenheim des Dorfes, das in einem Seitenflügel des Dorfkrankenhauses untergebracht ist. Es ist die Endstation für jene, die sich nicht mehr selbst versorgen können. Im Sonnenlicht mutet das einstöckige, weiß getünchte Steingebäude aus den sechziger Jahren mit den himmelblau gestrichenen Fensterläden und folkloristisch bemalten Wänden beinahe idyllisch an. Es liegt inmitten eines kleinen Parks, den die alten Menschen selbst pflegen. Wenige Schritte vom Eingang entfernt hockt eine vergnügte Greisin auf einer Decke und genießt – Heißwasserkessel und Teetasse neben sich – die Sonne. Der lange dunkle Korridor ernüchtert rasch. Die „Mensa“: weiß gedeckte Tische, Plastikstühle, mit ukrainischen Ornamenten verzierte Tapeten. Eine Christusikone blickt auf die Menschen herab. Eine alte Frau presst meine Hand an ihr klopfendes Herz und versucht, sie zu küssen. „Schönen Dank von der Seele“, sagt sie – und hält eine kleine Ansprache.
Regie: O-Ton alte Frau
4. Übersetzerin
Erst einmal guten Tag. Und zum zweiten: Schönen Dank, dass Sie zu uns gekommen sind. Und wir danken Ihnen, dass Sie uns helfen. Auch möchte ich Ihnen sagen, wir haben hier wunderbare Krankenschwestern. Sie sind sehr sensibel. Wir bekommen hier die beste medizinische Pflege. Es ist bei uns gemütlich und sauber. Was mich selbst angeht, möchte ich sagen: Ich bin so gerne hier in diesem Altersheim. Es geht uns gut. Wir sind sehr froh, dass wir hier sind.
Erzählerin
Der Untergang der Sowjetunion bedeutete für die alten Menschen den Verlust all dessen, wofür sie in den Nachkriegsjahrzehnten gearbeitet hatten. Die ukrainische Währungsreform brachte sie um ihr Erspartes; von den Renten können sie nicht leben. Viele sehnen sich zurück nach dem Sozialismus, als die Kolchose noch gearbeitet und das Land nicht brach gelegen hat. Sie „leben von der Erde“. Solange sie können, bewirtschaften sie ihre kleinen Gemüseäcker und halten ein wenig Vieh. Sie fürchten sich vor Krankheiten, denn Geld für Medikamente oder gar eine Operation hat niemand. Und es gibt kein Versicherungssystem in der Ukraine.
Kinder betreuen die alten Menschen in Peremoha. Sie helfen ihnen, den Gemüsegarten zu bestellen und das Vieh zu versorgen. Und sie bringen ihnen Brot, Fett, Mehl, Zucker, ein paar Lebensmittel, die vom Erlös der allwöchentlichen Dorfdisko gekauft werden. Die älteren Kinder verstehen sich aber auch als Seelsorger. Sie haben lange Gespräche mit alten Menschen geführt, um ihre Geschichte zu erfahren.
Regie: O-Ton Kinderstimme
1. Übersetzerin
Ich kann Gewalt überhaupt nicht akzeptieren. Natürlich, als ich diese Umfrage gemacht habe, war mir so unheimlich zumute. Ich bin auch der Meinung der alten Menschen, dass es nie wieder einen Krieg geben darf, dass wir nie wieder so etwas erleben. Ich bin überhaupt sehr beeindruckt, wie diese alten Menschen, die so viel erlitten haben, die so viel durchgemacht haben, dass sie heute leben und arbeiten.
Regie: Kinderlied
Erzählerin
Unsere Heimat ist stark, singen sie, sie verteidigt uns. Ehre sei der Heimat für ihre guten Taten. Wir sind unbesiegt. Unsere Heimat ist stark.
Regie: O-Ton Kinderstimme
2. Übersetzerin
Seit dem großen vaterländischen Krieg sind 55 Jahre vergangen. Aber bei uns lebt die Erinnerung an die Menschen, die während des Krieges gefallen sind, die ihr Leben hingegeben haben. Immer sind lebendig die Worte: Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen.
Regie: O Ton Kinderlied
Absage:
Verlorene Leben
Peremoha – ein Dorf in der Ukraine
Ein Feature von Elke Suhr
Es sprachen: Christiane Bruhn, Ursula Illert, Hans Gerd Kilbinger, Illa Korp, Maria Neumann, Rotraud Rieger, Hans Peter Thielen und Jochen Tovote.
Ton und Technik: Klaus Heieck und Genia Hoppenrath
Regie: Peter Behrendsen
Redaktion: Hermann Theißen