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Das Dorf heißt „Sieg“ …

peremoha11peremoha6neuPeremoha – so stellt man sich ein ukrainisches Dorf vor. Die Lehmhäuser sind weiß getüncht, es wirkt sehr hell im Sommer. Enten, Hühner und Gänse bevölkern die Lehmpfade, über die ab und zu auch einspännige Pferdefuhrwerke holpern. Auf den flachen Wagen Männer und Frauen mit  Gesichtern, in denen sich Geschichte eingeschrieben hat.

Jadliwka – so hieß dieses ukrainische Dorf früher. Bis vor 60 Jahren, im Sommer 1941, die Truppen Nazi-Deutschlands hier einfielen. Beim Überfall auf die Sowjetunion verwandelten sie zu aller erst die Ukraine in ein riesiges Schlachtfeld. Jadliwka wurde am 14. September 1941 von einer Luftwaffeneinheit besetzt. Nach der Zwangskollektivierung und in ihrer Folge der verheerenden Hungersnot 1932/33 begrüßten viele die Deutschen als Befreier, empfingen sie mit Brot und Salz, den traditionellen Gaben der Gastfreundschaft. Nach der Niederlage vor Moskau und dem Scheitern der Blitzkriegstrategie veränderte sich das Verhalten der deutschen Wehrmachtsangehörigen auch in der Ukraine. Sie gingen zusehends brutaler gegen die Zivilbevölkerung vor. Systematisch begannen sie, Jugendliche als Zwangsarbeiter für die „Heimatfront“ in Deutschland und für die besetzten Gebiete zu rekrutieren, wo sich inzwischen deutsche Firmen niedergelassen hatten. Krupp, Holzmann, Bahlsen und Henkel sind bekannte Firmennamen in der Liste derer, die sich auf diese Weise billige Arbeitskräfte verschafften. 

Anfang 1942 fand in Jadliwka eine erste Razzia statt, bei der 48 junge Leute zum „Arbeitseinsatz“ nach Deutschland deportiert wurden. Am 19. Dezember 1942 trieb eine Einsatzgruppe des SS-Sicherheitsdienstes alle Männer des Dorfes zusammen. 29 von ihnen wurden unter den Augen ihrer Angehörigen erhängt, weil sie der Zusammenarbeit mit Partisanen beschuldigt wurden. Ende August 1943 vertrieben Deutsche in SS-Uniformen die restlichen Einwohner des Dorfes. Wer sich widersetzte, bekam Strohgarben in die Arme gelegt und wurde erschossen. Dann wurde das Stroh angezündet.

Vier Tage brauchten die Mörder und Brandschatzer, bis sie ganz Jadliwka in Schutt und Asche gelegt hatten. 1.338 Einwohner des Dorfes wurden nach Deutschland verschleppt. Jadliwka/Peremoha ist nur eines von mehr als dreihundert ukrainischen Dörfern, denen das gleiche Schicksal widerfuhr.

Vor allem Kinder und Jugendliche wurden von den Deutschen verschleppt. In fensterlosen Eisenbahnwagen, in denen sie weder liegen noch sitzen konnten, ging die Fahrt zunächst nach Frankfurt/Oder. Dort wurden ihre Fingerabdrücke erfasst, sie erhielten Schilder mit ihren Namen und einer Nummer und wurden dann zu Verteilungspunkten weitertransportiert. Zu diesen neuzeitlichen Sklavenmärkten kamen dann Bauern, Unternehmer und andere und suchten sich „ihre“ Zwangsarbeiter aus.

Zweieinhalb Millionen ukrainische Zwangsarbeiter haben bis zum Kriegsende die deutsche Industrie und Landwirtschaft mit aufrecht erhalten und so auch mit den Grundstein für das sog. „Wirtschaftswunder“ der 60er Jahren gelegt. Die meisten dieser Menschen waren nicht einmal 20 Jahre, als sie verschleppt wurden. Als die Martin-Niemöller-Stiftung begann, einen regelmäßigen Kontakt nach Peremoha aufzubauen, wohnten dort  noch an die 400 ehemalige Zwangsarbeiter und verschleppte Kinder.

Auf rund 66 Millionen Sowjetrubel wird der Schaden geschätzt, den die Deutschen während der Besetzung in Jadliwka angerichtet haben. Die Heimkehrer fanden 1945 außer der Kirche nur noch Trümmer, Lehmwände und verbrannte Erde vor. Sie überlebten fürs erste dank Kräutern, Beeren und Gemüsen, die sie in den verwüsteten Gärten fanden. Es gab weder Transportmittel noch Werkzeug, kein Dach über dem Kopf – es gab nur die Hoffnung, deren Sieg dem neuen Dorf, das nun entstand, seinen Namen gab: Peremoha – Wir haben überwunden.

Aus dem nahen Wald besorgten die Rückkehrer sich Holz, um notdürftige Hütten zu errichten. Kriegsveteranen erhielten vom Staat kleinere Mengen Baumaterial zugeteilt; Zwangsarbeiter gingen leer aus – hatten sie doch, wenn auch gegen ihren Willen, dem besiegten Feind zugearbeitet. Viele der ehemaligen Arbeitssklaven überlebten diese erneuten Strapazen nicht.

Heute ist Peremoha ein Ort, der mit all den Problemen und Schwierigkeiten zu kämpfen hat, die das Land zu bewältigen hat. Viele der alten Menschen, die wir noch kennenlernen durften und die uns so eindrucksvoll ihre persönlichen Geschichten erzählten, leben nicht mehr. In Peremoha bleibt die Geschichte dennoch lebendig, im Gedächtnis des Dorfes, im neuen Museum und in den vielen Berichten und Dokumenten, die auch durch unsere Begegnung mit Peremoha entstanden sind.

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