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Christliches Gewissen im Widerstand Am Beispiel von Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer

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von Martin Stöhr

Vortrag von Martin Stöhr auf der Tagung „Widerstand gegen den Nationalsozialismus – Perspektiven der Vermittlung“ des „ Studienkreis Deutscher Widerstand 1933 – 1945“ in Frankfurt/M am 17./18. März 2007  

I

Das Beispiel Martin Niemöller

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Lernen gegen Tradition und Erziehung

 Geboren wird Martin Niemöller am 14. 1. 1892 im westfälischen Lippstadt – am selben Tag wie Albert Schweitzer. Den Urwaldarzt und Pazifisten hätte er 1917 beinahe versenkt, als Niemöllers U-Boot einem französischen Evakuierungsdampfer mit Albert Schweitzer an Bord vor dem Hafen von Dakar auflauerte. Wären Niemöllers Torpedos erfolgreich gewesen, dann „hätten Sie jetzt einen braven Kumpanen weniger im Anti-Atomkampf“ schreibt Schweitzer[1][1] dem seit 1958 am Ostermarsch in Großbritannien und Deutschland beteiligten Martin Niemöller.

Niemöller wächst in einem Pfarrhaus auf, das durch tiefe persönliche Frömmigkeit und eine nationalprotestantische Vaterlandsliebe geprägt war. Man hält die beiden Bereiche säuberlich getrennt und doch vermischen sie sich im bürgerlichen Alltag allzu oft. 1910 erfüllt sich der Abiturient seinen Lebenswunsch und tritt als Kadett in die kaiserliche Marine ein. Den ersten Weltkrieg bestreitet er als Seeoffizier und als einer der erfolgreichsten U-Bootkapitäne.

Skrupel am kriegerischen Tun kommen ihm kaum, wenn er feindliche Truppentransporter und Munitionsschiffe versenkt. Er sagt sich, dass die dabei Ertrunkenen seine Kameraden getötet hätten, wenn sie überlebten. Die selbstverständliche Auffassung, den Anderen als Feind zu sehen und ihn – natürlich nur zur eigenen Verteidigung – töten zu müssen, vereint die ganze deutsche Gesellschaft in einer Ethik nationalen Stolzes. internationaler Konkurrenz, selbstverständlicher Machtpolitik und deshalb der fraglosen Rechtfertigung des Krieges. Die Impulse der Deutschen Friedensgesellschaft, ein Jahr vor Niemöllers Geburt durch Berta von Suttner gegründet, sind die einer verspotteten Minderheit. Ihr Präsident aber wird ab 1954 bis zu seinem Tod 1992 Martin Niemöller heissen.

Mit dem Ende des ersten Weltkrieges endet die militärische Laufbahn – mit einer typischen Entscheidung Niemöllerscher Unabhängigkeit: Er verweigert den Befehl, die deutschen U-Boote an England auszuliefern. Der Weimarer Republik will der Demokratieskeptiker weder als Beamter noch als Offizier dienen. Das verbindet ihn mit grossen Teilen der deutschen Gesellschaft, deren obrigkeitliche Erziehung die Verantwortung für politisches Handeln „denen da oben“ oder starken Männern überlassen will. Ein erschreckender Mangel an DemokratInnen beendet die Weimarer Republik.

Niemöller wird Bauernknecht. Sein Wunsch dabei bleibt: „Dem Volk zu dienen“, eine Verantwortung jenseits der eigenen Interessen zu übernehmen. Als ihm klar wird, dass seine gesamten Ersparnisse, weil Kriegsanleihen, verloren sind, dass er folglich nie einen Bauernhof wird kaufen können, entscheidet er sich für den Pfarrerberuf. Er meint, den gewünschten  Dienst am Volk am freisten in der protestantischen Kirche tun zu können. Diese hatte in Deutschland zwar ihre Tradition des Protestierens für Gewissensfreiheit und Gerechtigkeit allzu häufig vergessen; aber Niemöller gehört zu denen, die ihr diese Lektion wieder beizubringen helfen. Der Lernprozess wird schmerzhaft und langwierig.

Er studiert von 1919 bis 1923 evangelische Theologie in Münster. Nach den Examen wird er Pfarrer der Innern Mission. Er hat entscheidenden Anteil an der Sicherung und Ausweitung diakonischer Arbeit in Westfalen – auch durch Gründung einer Bank, einer „Kredit- und Darlehensgenossenschaft“, die ihre Zinsen der Diakonie und nicht den Banken oder ihren Aktionären zukommen lässt.

Dann wählt ihn die Evangelische Kirchengemeinde Berlin-Dahlem zum 1. Juli 1931 als einen ihrer Gemeindepfarrer. Noch wählt er NSDAP. Aber das elterliche Erbe einer Gewissensbindung und Verantwortung für das Volk bewährt sich nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, als Niemöller sofort für Recht und Freiheit der Kirche protestiert, die er durch den totalen Anspruch der Nazis bedroht sieht. Er bleibt sich treu, indem er sein Leben lang die Reichweite von Gewissen und Verantwortung immer wieder neu zu bestimmen lernt. „Wenn ich nicht mehr lernen kann, werde ich den lieben Gott bitten, meinem Leben ein Ende zu machen“, sagt er im Alter.[2][2] Er wäre gewiss nicht „erbleicht“, wie Bertolt Brecht es von seinem Herrn Keuner notiert, als dessen Bekannter ihm sagen muss: „O, Sie haben sich aber gar nicht verändert!“. Niemöller hat sich lernend verändert. „Ich bitte Sie, mir zu glauben, dass ich 1945 als ein völlig anderer nach meiner achtjährigen Gefangenschaft nach Hause zurückgekehrt bin“, schreibt er 1956 an Alfred Wiener, den Gründer des nach London geretteten Archivs des deutschen Judentums, der „Wiener Library.“[3][3]

Bei Niemöller wirkt das nationale Erbe einerseits noch in den Anfängen des „Dritten Reiches“. Das ist nachzulesen in seinem autobiographischen Buch „Vom U-Boot zur Kanzel“ 1934, das – weil ein Bestseller – später verboten wird. Andererseits überwindet er diese Prägung Schritt für Schritt in dieser oft „Kirchenkampf“[4][4] genannten Auseinandersetzung mit Staatspartei und Staatsideologie und der daraus folgenden Haft. Er lernt gegen Tradition und Erziehung, international und ökumenisch zu denken. So wird er, seit 1947 Kirchenpräsident der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, einer der Mitgründer des Ökumenischen Rates der Kirchen (gegr. in Amsterdam 1948) und später einer ihrer Präsidenten. Erst im KZ entdeckt er in vielen Mitgefangenen aus vielen Ländern die nichtkirchlichen Kräfte des Widerstandes. Die Unrechts- und Gewalterfahrung einer ebenso rassistischen wie nationalistischen Diktatur führen ihn im Konzentrationslager zu einer weltweiten Genossenschaft verantwortungsvoller Nonkonformisten. Ein Anlass, nach 1945 zum leidenschaftlichen Anwalt für Frieden und Völkerverständigung sowie für deren Voraussetzung, eine internationale Gerechtigkeit („Eine Welt oder keine!“), zu werden. Gerechtigkeit, nicht Krieg und Waffengewalt sind für ihn Mittel der Politik; erst Recht – so nach einem Treffen mit Otto Hahn, Werner Heisenberg und C.F. von Weizsäcker 1954 – seit der Existenz der Massenvernichtungsmittel. „Waffendienst leistet der Weltzerstörung Vorschub“; Ausbildung zum Soldaten ist für ihn „eine Hohe Schule für Berufsverbrecher.“[5][5]

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Anfänge des Widerstandes

Staat und Partei versuchen ab 1933 sofort auch die Kirche – wie alle gesellschaftlichen Gruppen – gleichzuschalten. Sie wollen in der zersplitterten Evangelischen Kirche den Arierparagraphen und das autoritäre Führerprinzip einführen. Sie fördern die ebenso völkisch wie antisemitisch gegen alles „Artfremde“ und „Andersrassige“ eingestellten „Deutschen Christen“ (DC). Für sie spricht Hitler im Rundfunk einen Wahlaufruf (23.7.1933). Die NSDAP schickt die SA und andere ihr hörige Organisationen truppweise einen Tag später zu den Kirchenwahlen. Diese enden in den meisten der 22 protestantischen Landeskirchen mit einem Sieg der „Deutschen Christen“. Sie gewinnen die Mehrheiten in vielen Landesynoden. Die Römisch-Katholische Kirche hat Hitler durch ein der Weimarer Republik verweigertes  Reichskonkordat am 20. Juli 1933 ruhig gestellt. Evangelisch wie katholisch ist die Opposition eine Sache von Minderheiten und Einzelnen. In Niemöllers Dahlemer Gemeinde bekommen die „Deutschen Christen“ allerdings keine Mehrheit.

Die Reichstagswahlen bringen der NSDAP mit Hilfe des Koalitionspartners, der konservativen Deutschnationalen Volkspartei, eine Mehrheit von 52%. Niemöller kämpft zunächst mit Freunden im Vorstand der „Jungreformatorischen Bewegung“ gegen die Staatshörigkeit der DC und ihrer Mitläufer. Die Gesetze und Erlasse der neugewählten Regierung zur Zerschlagung der demokratischen Verfassung und jeder Rechtsstaatlichkeit folgen sofort, Schlag auf Schlag: Am Tag nach dem Reichstagsbrand (28.2.1933) werden alle Grundrechte abgeschafft. Kommunisten und Sozialdemokraten gilt die erste Verhaftungswelle. Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März setzt bis 1945 die demokratische Verfassung außer Kraft. Am 1. April verordnet die Regierung den Boykott jüdischer Geschäfte und am 7. April das „Gesetz zur Wiedereinführung des Berufsbeamtentums“. Damit sind für Juden Berufsverbote im öffentlichen Dienst verhängt. All das geschieht öffentlich wie auch die Einrichtung der Konzentrationslager. Die Medien, die sich fast widerstandslos gleichschalten lassen, berichten offen und oft beifällig über den regierenden Rassismus.

Möglichst rasch sollen die antijüdischen Gesetze auch in der Kirche wirksam werden. Niemöller wird zu einem Wortführer des Protestes. Sein Grund: „Wenn die Welt fordert, was Gottes ist, dann müssen wir mannhaft Widerstand leisten!“ Für ihn sind Menschen mit ihrer Würde – in jedem Menschen ein einzigartiges Ebenbild Gottes – weder Eigentum noch Verfügungsmasse des Staates oder irgendeiner sonstigen Macht. Verbindlich ist ihm die Bibel. Orientierung gibt ihm das Erbe der Reformation von der „Freiheit eines Christenmenschen“ (M. Luther 1520), worin seine Verantwortung für den Nächsten und gegen jeden Gewissenszwang verankert ist.

Der Arierparagraph grenzt mit seiner Herrenmenschenideologie durch zahllose Erlasse, die ihren „Höhepunkt“ in den Nürnberger Gesetzen (1935) finden, alle Juden sowie alle als Juden Definierten aus der Gesellschaft aus. Wer Jude ist, definiert der Staat mitsamt servil zuarbeitenden Wissenschaftlern, Verwaltungen und Publizisten. Gewalt beginnt hier wie immer mit Definitionsgewalt. Rechtlosigkeit, Enteignung, Vertreibung und schließlich Massenmord sind die Folge. Die ca. 300 000 Christen jüdischer Herkunft[6][6] in Deutschland, von denen nicht wenige in Berlin lebten, werden davon genau so getroffen wie die etwa 500 000 Juden, die damals BürgerInnen des Deutschen Reiches in vielfältigen religiösen und politischen Strömungen sind. Zum ersten Mal wird Niemöller von der DC-gelenkten Kirchenleitung im November entlassen, weil er sich weigert, Ariernachweise aufgrund der Kirchenbücher auszustellen. Souverän  ignoriert er die für ihn ungesetzliche Entlassung.[7][7]

Die konkrete Bedrohung seiner Gemeindeglieder sowie die Übergriffe des Staates in Recht und Freiheit kirchlicher Verkündigung und Personalpolitik veranlassen den Gemeindepfarrer Niemöller zu handeln. Er erklärt: Wir haben die sog. Judenchristen als „vollberechtigte Glieder“ der Kirche anzuerkennen. Sein zunächst innerkirchliches Handeln wird zum politischen Engagement, zur „ersten contra-antisemitischen Stellungnahme“, wie er später sagt – ungewollt, da zu seiner Tradition noch eine Trennung von politischem und kirchlichem  Leben gehört, die nicht „politisch“ werden will.

Die protestantische Opposition sammelt sich zunächst in einem „Pfarrernotbund“, dessen Vorsitzender Niemöller wird. Ihm treten etwa 7000 der 18000 evangelischen Pfarrer bei. Es gilt, für verhaftete  Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter einzutreten sowie ihre Namen bekannt zu machen – nicht zuletzt durch öffentliche Fürbittenlisten in den sonntäglichen Gottesdiensten. Theologisch und praktisch ist zu klären, wie mit einer heidnischen Ideologie und einem totalen Staat umzugehen sei. Ein verkürztes Verständnis von „Seid untertan der Obrigkeit“ (Römer 13) weicht langsam der apostolischen Maxime „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5,29).

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Widerspruch ins Gesicht

Am 25.1.1934 kommt es zu einem Empfang protestantischer Kirchenvertreter – Niemöller ist der einzige Gemeindepfarrer – bei Hitler. Göring platzt in dramatischer Pose in Runde. Er verliest ein frisiertes Abhörprotokoll eines Niemöllerschen Telefongespräches, in dem dieser ganz unfrisiert seine Meinung geäußert hatte: Die „Minen“ seien schon gelegt, Hindenburg werde Hitler am selben Tag die „letzte Ölung“ geben. Der „Führer“ tobt, die Kirchenkollegen verstummen indigniert. Niemöller tritt geistesgegenwärtig vor und sagt zu Hitler: „Sie haben gesagt: Die Sorge um das deutsche Volk überlassen Sie mir. Dazu muss ich erklären, dass weder Sie noch sonst eine Macht in der Welt in der Lage sind, uns als Christen die uns von Gott auferlegte Verantwortung für unser Volk abzunehmen.“[8][8] Hitler ist noch 1942 wütend, wenn er sich an diesen Freimut eines Einzelnen in seinen Tischgesprächen erinnert und zugleich voller Verachtung für die evangelischen Kirchenführer. Göring habe bei der Verlesung dagestanden „wie weiland Bismarck bei der Kaiserproklamation in Versaillles, mit breitgestellten Beinen.“[9][9]

Die „Bekennende Kirche“ (BK) entsteht im selben Jahr 1934, als eine frei gewählte Synode Vertreter der verschiedenen Landeskirchen und protestantischen Strömungen zusammenführt. Eine Theologische Erklärung wird weitgehend von Karl Barth, Niemöllers Freund und bald ausgewiesenen Hochschullehrer in Bonn, formuliert. Sie gewinnt Bekenntnischarakter, besonders durch die deutlichen Verwerfungssätze, z.B.: „wir verwerfen die falsche Lehre, als könne…die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung…neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Wahrheiten anerkennen…als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft…dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen oder politischen Überzeugung überlassen,…als dürfe sich die Kirche…mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer…geben lassen.“ Zentrale Orientierung geben allein Christus und die Bibel.

Was streng theologisch gegen die Apotheose des „Führers“, der „Deutschen Stunde“ und des „Blutes und der Rasse“ geredet wird, wird zu Recht als politische Kampfansage verstanden. Dietrich Bonhoeffers Freund und Biograph berichtet aus einem seiner Verhöre, dass ihm der Gestapobeamte gesagt habe, „Ihr redet von Nero und seiner Christenverfolgung und meint uns!“ Ein politisches Verständnis liegt umso näher, als diese Erklärung den Staat überaus demokratisch an die „gemeinsame Verantwortung der Regierenden und der Regierten“ erinnert, „für Recht und Frieden zu sorgen“ – ein Affront gegen den „Führerstaat“ und seine offen betriebene Unrechts- und Kriegspolitik.[10][10] Die Juden werden in dieser Erklärung zum Bedauern vieler, besonders auch von Dietrich Bonhoeffer, nicht ausdrücklich erwähnt.

Aber Niemöller verschweigt nicht, dass der Mensch, der für die Christen den einen Gott der Juden und aller Völker verkörpert, Jesus von Nazaret, selber Jude ist, dass das Alte Testament nicht ein Buch von „Zuhältern und Gaunern“ ist, wie der Chefideologe der NSDAP, Alfred Rosenberg schreibt, sondern Gottes Wort und Lebensorientierung, dass nicht nur Jesus, sondern die Verfasser der Bibel wie die Apostel Juden sind. In der öffentlichen Wiederholung einer historischen und biblischen Realität wird eine politische Position bezogen. Niemöller hat nie Teil am völkischen oder ökonomischen Antisemitismus, wohl aber an jener traditionellen christlichen Judenverachtung, die den Juden vorwirft, was Pontius Pilatus tat, nämlich Jesus gekreuzigt zu haben. Beeindruckend ist dass Niemöller von einem „Arierproblem“ und nicht von der Judenfrage spricht: Er macht also die „Arier“, die Mehrheitsgesellschaft, zum Problem, nicht die Minderheit der Juden.

Wichtige Mitstreiter sind neben vielen, die Stellenverlust oder Haft erlitten, die Juristen Friedrich Weißler (ermordet 1936), der junge Theologe Dietrich Bonhoeffer und der Justitiar der BK Friedrich Justus Perels, wie Bonhoeffer noch im April 1945 ermordet. Den als „Nichtarier“ bei der Stellensuche als Pfarrer chancenlosen Franz Hildebrand stellt Niemöller in seiner Gemeinde ein, bis jener er emigrieren kann. In der Dahlemer Gemeinde arbeiten Helene Jacobs als Passfälscherin (zusammen mit Cioma Schönhaus[11][11]), bis sie – wie die Slawistin Hildegard Schaeder, die ihn 1952 auf seiner Moskaureise auf Einladung der Orthodoxen Kirche begleitet – ins Frauen-KZ Ravensbrück eingeliefert werden. Pässe von „Ariern“ werden in einem speziellen Opferstock in der Dahlemer Kirche gesammelt; sie werden mit neuen Bildern und Stempeln zu „arischen“ Pässen transformiert. Dienstvorgesetzter ist Niemöller auch für die beiden Sozialarbeiterinnen Marga Meusel und Charlotte Friedenthal, die in der Hilfe und Rettung von Juden sich exponierten.

Die Bekennende Kirche gibt sich eigene Strukturen, die basisdemokratisch (als „Bruderräte“) organisiert sind. Niemöller wird ihr bekanntester Sprecher – auch im Ausland. Eigene illegale Ausbildungsstätten und Kollekten werden eingerichtet. Die Evangelische Kirche ist gespalten. Die „illegalen“ Studenten, Vikare und Pfarrer, die in den DC-dominierten Fakultäten und Gemeinden keinen Platz fanden, müssen versorgt werden. Dazu unterschreiben die Mitglieder der BK schon seit 1934 eine „Selbstverpflichtung“, deren 4. Punkt, von Niemöller formuliert, heißt: „In solcher Verpflichtung bezeuge ich, dass eine Verletzung des (christlichen) Bekenntnisses mit der Anwendung des Arierparagraphen im Raum der Kirche geschaffen ist.“ Spitzel, gelegentlich von ihm ironisch begrüßt, schreiben seine Predigten und Vorträge in überfüllten Kirchen und Sälen mit.

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Zwischen Widerstand und Scheitern

Die Geschichte der Bekennenden Kirche endet nicht mit einem Sieg. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs schon ist sie sehr geschwächt. Sie bleibt eine Minderheit, die immerhin zeigt, dass persönlicher und struktureller Widerstand gegen eine totale Gleichschaltung möglich ist – unter Verfolgung und Blutopfern. (Ich stelle mir manchmal vor, was geschehen wäre, wenn der Deutsche Turnerbund, die Universitäten, die Industrieverbände oder Ärztekammern, der Deutsche Sängerbund aus sich heraus nonkonformistische, vernehmbare Organisationen oder Gruppen des Widerspruchs, ja des Widerstands gebildet hätten).

Ein Höhepunkt des Widerspruchs findet sich 1936 – im Jahr der für Nazideutschland im In- und Ausland triumphalen Olympiade. Der Reichsbruderrat der BK schreibt einen Brief an Hitler, der verkürzt auch von vielen Kanzeln verlesen wurde.[12][12] Darin heißt es: „Wenn hier Blut, Volkstum, Rasse und Ehre den Rang von Ewigkeitswerten erhalten, wird der evangelische Christ durch das erste Gebot gezwungen, diese Bewertung abzulehnen. Wenn der arische Mensch verherrlicht wird, so bezeugt Gottes Wort die Sündhaftigkeit aller Menschen, wenn dem Christen im Rahmen der nationalsozialistischen Weltanschauung ein Antisemitismus aufgedrängt wird, der zum Judenhass verpflichtet, so steht für ihn dagegen das Gebot der Nächstenliebe.“ Weiter wird von der „schweren Gewissensbelastung“ gesprochen, die in der „Tatsache“ besteht, „dass es in Deutschland, das sich selbst als Rechtsstaat versteht, immer noch Konzentrationslager gibt und dass die Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei jeder richterlichen Nachprüfung entzogen sind.“ Kritisiert wird der Personenkult um Hitler, die Verführung der Jugend sowie die „Wahl“ vom März 1936, die Hitler 99% Zustimmung brachte. Niemöllers Name steht unter diesem Brief.[13][13]

Bis zu seiner Verhaftung am 1. Juli 1937, von Hitler persönlich angeordnet, liefen 40 Prozesse gegen ihn. Das einigermaßen faire Gericht hört Entlastungszeugen aus seiner gottesdienstlichen Gemeinde, darunter Professor Sauerbruch, Staatssekretär von Bismarck; Botschafter von Hassell, Generaloberst von Hammerstein-Equord und Görings Schwester Olga Rigele. Er wird am 2.3.1938 (als ehemaliger Offizier!) „nur“ zu 7 Monaten Festungshaft verurteilt. Sie ist durch die Untersuchungshaft verbüßt. Familie und Gemeinde warten am Haupteingang des Moabiter Gerichtes, während die Gestapo auf Anordnung des wieder tobenden Hitler („Der Pfaffe soll sitzen bis er schwarz wird“) ihn am Hinterausgang ins KZ Sachsenhausen, später nach Dachau abtransportiert. Für die christliche Welt, und weit darüber hinaus, war er die Stimme eines anderen Deutschland. Von Jamaika bis Norwegen werden regelmäßige Fürbittgottesdienste abgehalten, in denen auch über die kirchliche und politische Lage in Deutschland informiert wird. Thomas Mann veröffentlicht 1941 in den USA Niemöllers Predigten unter dem Titel „God is my Fuehrer“. Der Titel bezeichnet den Grund seiner Freiheit zur Autoritätskritik. Er weigert sich, hinter dem weit verbreiteten „elenden Fetzen der Neutralität zu verstecken“ und zuzusehen, „wie andere ans Kreuz geschlagen werden.“[14][14]

Nach der KZ-Haft bis 1945 als „persönlicher Gefangener des Führers“ erkennt und bekennt Niemöller seine und die kirchliche Schuld. Wütende Abwehr und Abrechnungen („Wer spricht von der Schuld der Anderen?“) schlägt ihm entgegen, als das Stuttgarter Schuldbekenntnis der Ev. Kirche im Oktober 1945 veröffentlicht wird. Es trägt auch die Unterschriften Gustav Heinemanns, W. Niesels, der Bischöfe Th. Wurm und H. Lilje. Niemöller bringt sein Versagen auf die biblische Formel, er habe in den ermordeten Juden und Polen, Griechen und Russen, Kommunisten und anderen Widerstandskämpfern nicht den leidenden Christus gesehen und ihm nicht beigestanden.[15][15] In vielen Varianten formuliert er, zu sehr nur für Recht und Freiheit der Kirche gekämpft zu haben: „Als sie die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen. Ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen. Ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“[16][16]

Im Blick auf den Ausgangspunkt seines Lernprozesses sagt er 1976: „Wir haben uns nicht verpflichtet gefühlt, für Leute außerhalb der Kirche irgendetwas zu sagen…Soweit waren wir noch nicht, dass wir uns für unser Volk verantwortlich wussten.“ Sein Eintreten für Völkerverständigung, Frieden, Menschenwürde und internationale Gerechtigkeit nach 1945 begründet er auf dem ersten Treffen der EKD im August 1945 so: „Wir haben deshalb eine andere Stellung zu unseren Mitmenschen; wir wissen, dass sie gleich uns einen Anspruch auf Recht und Freiheit haben und dass sie darum niemals für uns und für andere zum Gegenstand der Ausbeutung werden sollten…Deshalb ist uns aber die Staatsform und deshalb sind uns die Grundsätze, nach denen das öffentliche Leben gestaltet wird, nicht gleichgültig; und deshalb können wir uns Staatsformen und Gesetze nicht einfach als gegebene Tatsachen erscheinen, mit denen wir uns abzufinden haben. Die Demokratie…hat nun einmal mehr mit dem Christentum zu tun als irgendeine autoritäre Staatsform der Staatsführung, die das Recht und die Freiheit für den Einzelnen verneint.“[17][17]

II

Das Beispiel Dietrich Bonhoeffers

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Herkunft und Prägung

Die Mutter ist Lehrerin, der Vater Neurologe, zuerst Professor in Breslau, wo Dietrich Bonhoeffer als sechstes von acht Geschwistern am 4. 2. 1906 geboren wird. Ab 1912 lebt die Familie in Berlin. Es ist eine musisch aufgeschlossene Familie, politisch wach, angesiedelt zwischen der liberalen „Vossischen Zeitung“ und dem sozialdemokratischen „Vorwärts“. Seit 1930 ist sie sicher: „Hitler wählen bedeutet Krieg!“. Geprägt wird sie stark durch die Natur und Rechtswissenschaften, die in der Verwandtschaft wie in der Nachbarschaft Ausbildungs- und Berufgänge in diskussionsfreudigen Runden bestimmen.[18][1]

Dietrich Bonhoeffer studiert von 1923 bis 1927 Evangelische Theologie in Tübingen, Rom und Berlin, promoviert mit 21 Jahren über das Verständnis von Kirche in soziologischer und theologischer Sicht (Sanctorum Communio). Eine Schlüsselthese dieser Arbeit versteht die christliche Gemeinde als eine irdische Existenzform von Jesus Christus („Christus als Gemeinde existierend“). So kümmerlich die Kirche auch ist, sie verkörpert Christus. Sie gibt ihm Realität und Gestalt im Diesseits. In einer anderen Lebensform sind „die Mühseligen und Beladenen“ auf dieser Erde der Christus, in denen er sich finden lässt. „Tu deinen Mund auf für die Stummen!“ – dieses Bibelwort (aus den Sprüchen Salomons 31,8) wird zum Lebensmotto Bonhoeffers. Beide Aspekte seines Kirchenverständnisses lenken seinen äußerst kritischen Blick auf die Wirklichkeit, gerade auch der „stumm Gemachten“ und erwarten ein verantwortliches Handeln, das der anderen Wirklichkeit, der der Christus – Existenz gerecht zu werden versucht.

1930 habilitiert Bonhoeffer sich (Akt und Sein), geht aber erst noch einmal (1930/31) für ein Studienjahr nach New York an das „Union Theological Seminary“. Hier hat er zwei entscheidende Begegnungen: Einmal mit dem aus der französischen Hugenotten – Tradition stammenden Mitstudenten Jean Lasserre, dessen Pazifismus in einer ernst genommenen Bergpredigt wurzelt. Zum anderen schließt er Freundschaft mit Frank Fisher, einem schwarzen Baptistenpfarrer in Harlem, in dessen Gemeinde er mitarbeitet: Dort lernt er die ganze Schärfe der sog „Rassenfrage“ kennen – eine Frage, die nach einem Wort M. L. Kings immer das Problem der Mehrheitsgesellschaft ist: „The Negro-Question is the Problem of the Whites, of the Majority“. Niemöller nennt 1933 die sog Judenfrage eine „Arierfrage“. Die zum Problem definierte Minderheit ist in Wahrheit das Problem der sich oft normativ verstehenden und machtvollen Mehrheitsgesellschaft.

Nach seiner Rückkehr aus den USA, die ihm viele internationale/ökumenische Kontakte einbringt, nimmt er seine Arbeit an der Berliner Universität auf. Die in den USA und Europa geschlossenen ökumenischen Kontakte werden für seine spätere konspirative Arbeit wertvoll. In Cambridge wird er im selben Jahr 1931 zum Jugendsekretär des Internationalen Versöhnungsbundes (1914 am Tag des Kriegsanfangs gegründet!) gewählt. Diese ökumenische Initiative christlicher Friedensarbeit wendet sich gegen jede Theorie eines gerechten Krieges und verlangt Kriegsdienstverweigerung. Zu ihren Vorsitzenden gehören Albert Luthuli (ANC-Gründer) und später Martin Luther King, aber als Mitglieder auch die als Kriegsdienstverweigerer in Deutschland 1940 bzw. 1944 hingerichteten Hermann Stöhr und Max Joseph Metzger.

Als Privatdozent ist er Vorlesungen bzw. Seminaren verpflichtet, eine Stelle ist damit nicht verbunden. Seine Kirchenleitung ordiniert Bonhoeffer zum Pfarrer in einer Kirchengemeinde im Wedding, er richtet eine „Jugendstube“ für arbeitslose Jugendliche ein, wird nebenamtlicher Studentenpfarrer an der TH Berlin. Dies bleibt allerdings erfolglos; die Studentenschaft war schon vor 1933 – wie an den meisten Universitäten – mehrheitlich nationalsozialistisch. Er stößt auf die Abwehr einer stark rechts orientierten akademischen Jugend.

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Vom Nonkonformismus zum Widerstand

Ein erster und letzter Rundfunkvortrag des jungen Pfarrers endet damit, dass man ihm im Februar 1933 das Mikrophon ausschaltet, als er davor warnt, dass aus dem Führer der „Verführer“ werden kann. Dann habe jede Gefolgschaft aufzuhören. Die Abschaltung ist ein früher Beleg dafür, wie rasch die Medien sich hatten gleichschalten lassen. Bonhoeffer bleibt bei seiner Kritik an der Kirche, die sich zwar gern auf Luthers unbeugsames Gewissen beruft „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ und gleichzeitig in ihrer Mehrheit opportunistisch beweist: „Wir können auch anders!“

Die Bewährung seines Weges kommt mit dem Jahr 1933. Das Ermächtigungsgesetz, der staatlich angeordnete Boykott jüdischer Geschäfte sowie das Berufsverbot für Juden im öffentlichen Dienst verlangen eine klare Position. Er trägt sie schon im April 1933 vor. Der Vortrag „Die Kirche vor der Judenfrage“[19][2] formuliert drei Handlungsanweisungen für eine ihrer Aufgaben bewusste Kirche:

1.
Die Kirche hat den Staat nach der „Legitimität“ seines Handelns zu fragen. Nicht alles was er tut, ist legitim – gemessen an den biblischen Hauptworten Recht und Gerechtigkeit. „Legal“ ist fast alles, was der NS-Staat tut, dazu produziert er bis 1945 ca. 2000 Gesetze und Erlasse. Eine servile Rechtswissenschaft und –praxis steht – nach Ausschaltung der Opposition – Partei und Staat zur Verfügung.

2.
Die Kirche hat nicht nur für die Opfer aus den eigenen Reihen einzutreten, sondern für alle Opfer staatlicher Gewalt. Diese Position unterscheidet ihn damals von M. Niemöller. Dieser beschränkt seine „contra-antisemitische“ Aktion im Wesentlichen auf die sog. „Nichtarier“ unter den Kirchenmitgliedern. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass jeder noch so beschränkte Widerstand ebenso politisch wie  exemplarisch wirkt und verstanden wird. Der früh total gewordene Staat ahndet den Nonkonformismus – wenn sie allein bleiben. Aber es gibt in allen Berufsgruppen zu wenig Menschen, die ein solches „exemplarisches Lernen“ im eigenen Berufsfeld  riskieren.

3.
Damit nicht immer neue Opfer entstehen, ist „dem Rad in die Speichen zu fallen“. Damit greift Bonhoeffer (übrigens später noch häufiger) das Bild vom rasenden Fahrer auf, den man nur mit Gewalt vom Steuer wegreißen muss, damit er die Mitreisenden nicht in die Katastrophe steuert. Es ist ein Bild, das z.B. der Herborner Theologe und Jurist Johann Althusius (1612 natürlich im Bild von Schiff, Kapitän und Steuerrad) benutzt, um den Tyrannenmord christlich zu legitimieren.[20][3] Die Frage wird im Kreisauer Kreis wie in anderen Widerstandsgruppen heiß und kontrovers diskutiert werden.

Das Kriterium für ein solches christliches Eingreifen liefert das Recht: Gibt es eine Gruppe, die durch Ordnung und Recht so eingeschnürt ist, dass ihr die Luft zum Leben ausgeht, oder ist sie so rechtlos, dass sie vogelfrei ist, dann ist dieses christliche Handeln geboten. D. Bonhoeffer ist über seinen Schwager Gerhard Leibholz mit dem Gedankengut von Gustav Radbruch vertraut, der – als religiöser Sozialist – „ein übergesetzliches Recht“, also Werte wie Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit. vertritt.[21][4]

Damit das nicht zu abstrakt klingt, seien die wegweisenden Werte mit Bonhoeffer eigenen Worten aus der von ihm aufmerksam und kritisch wahrgenommenen Wirklichkeit zitiert: „Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, dass wir die grossen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, der Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden sehen gelernt haben.“ So schreibt er an seine Freunde und Familie 1943, als er zehn Jahre NS-Regime bilanziert.[22][5] Diese knappen Seiten, kurz vor seiner Verhaftung geschrieben, sind eine glänzende Analyse der Zeit durch einen Menschen, der die Zeit nicht passiv als Schicksal, als Zu- oder Wegschauer hinnehmen kann. Daran hindert ihn Wirklichkeit der Leidenden wie die Wirklichkeit des Christus.

Er fragt sich – um nur einige Gedanken aus diesem sehr dichten Text zu nennen – warum „die Vernünftigen“ versagen. Vernunft, Pflichtbewusstsein, Prinzipienethik, Gewissen und Freiheit, Tugenden lassen sich missbrauchen. Er fragt, was es bedeutet, dass „Dummheit“ keine intellektuelles Defizit ist, sondern ein moralisches. So viele kluge Leute sind Aktivisten und Mitläufer einer bösen Macht in Deutschland. „Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen!“ Warum gibt es in Deutschland so viel Tapferkeit und so wenig Civilcourage?  „Die letzte, verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll.“[23][6]

 

3

Schuldübernahme

Die Einsicht in die Irrwege der Kirche und seines Volkes ist bei ihm früh da. Er formuliert sie 1941 in einem Schuldbekenntnis seiner eigenen Kirche, in dem es heisst, „Die Kirche war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie…Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Hass, Mord, gesehen zu haben, ohne ihre Stimme zu erheben…Sie ist schuldig geworden am Leben der Schwächsten und Wehrlosesten Brüder Jesu Christi.“[24][7] Ich zitiere dieses Wort, weil es den konkreten Grund für den Widerstand nennt: Bedrohung und Vernichtung des Lebens Unschuldiger. Es geht um die Existenz derer, die keine andere „Schuld“ haben als jüdisch geboren zu sein bzw. als jüdisch durch staatliche Gesetze definiert zu sein. Dietrich Bonhoeffer solidarisiert sich mit allen Juden. Sie alle sind leibliche Geschwister Jesu. Jesus selbst war Jude, seine Geschwister zu vertreiben bedeutet die Vertreibung Christi aus Europa, schreibt er in seiner (Fragment gebliebenen) Ethik 1941. Im Einzelnen geht es um Willkür, um die Verursachung von körperlichem und seelischem Leiden, um unmenschliche Unterdrückung, um Hass und schließlich um Mord.

Im Oktober 1941 gelingt die mit seinem Schwager Hans von Dohnanyi geplante und durchgeführte Rettung von 15 Juden über die grüne Grenze in die Schweiz. Alle 15 waren mit falschen Pässen ausgestattet und als Mitarbeiter des Amtes Canaris (Amt Ausland / Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht) angeblich zur Spionageabwehr ins neutrale Ausland gesandt. In diesem Amt arbeitet seit 1938 auch Bonhoeffer. Er steht zu seiner Entscheidung, den Kriegsdienst zu verweigern, eine Entscheidung, die seit seinem Studienaufenthalt in den USA, seit seinen (brieflichen) Kontakten mit Mahatma Gandhi und seit seiner Auslegung der Bergpredigt vor seinen Studenten und Vikaren (1937 noch unter dem Titel „Nachfolge“ erschienen) feststeht. Diese Entscheidung wird in ständiger Prüfung der politischen Konzepte und Praxis eines verbrecherischen Regimes bekräftigt.

In der schon genannten „Ethik“ findet auch eine Auseinandersetzung mit Kants Pflichtenethik statt. Dessen Regel, dass jeder so handeln soll, dass „die Maxime seines Handelns zum Prinzip einer allgemeingültigen Gesetzgebung“ werden könnte (I. Kant) wird von Bonhoeffer in Frage gestellt, dass gerade das biblische Gebot um des Menschen und der Menschlichkeit Jesu Christi willen nicht „Prinzip“, nicht „Allgemeingültigkeit“ sei. Es müsste im konkreten Fall, dass z.B. im Hause I. Kants ein Jude verborgen sei, von Kant gelogen werden, um den dort versteckten Freund zu retten. Dieselbe Frage handelt er in dem Aufsatz ab „Was heißt die Wahrheit sagen?“ . In seinem Beispiel lügt der Lehrer, der den Schüler fragt, ob sein Vater gestern wieder betrunken gewesen sei, obwohl der Vater tatsächlich betrunken war. Das verneint, ethisch legitim in diesem Fall, der Schüler, weil die Intimsphäre des Kindes und der Familie nicht so verletzt werden dürfe. Die Lüge liegt in der Frage, nicht in der Antwort. Die Beispiele Bonhoeffers machen klar, dass es „Regelverstösse“ geben darf, die die Gebote zur Wahrheit oder das Verbot des Tötens nicht außer Kraft setzen, aber unter Schuldübernahme Menschenleben und Menschenwürde retten müssen.

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Der Weg in die Konspiration

Sein Freund und Vorgesetzter ist der Potsdamer Pastorensohn General Hans Oster, ein Konfirmand Martin Niemöllers. Dieser weiht ihn 1938 in die ersten Umsturzpläne ein. Er wird UK (unabkömmlich) gestellt. Er arbeitet als V-Mann der Abwehr und zugleich als illegaler Mitarbeiter in der Ausbildung der Bekennenden Kirche.[25][8]

Er bekommt Aufenthaltsverbot für Berlin. Sein illegales Predigerseminar, seit dem ersten Verbot 1937, konnte er bis 1940 getarnt in Pfarr- und Gutshäusern Pommerns fortführen. In der Abwehr ist er ein Fachmann für breite internationale Kontakte, die er nutzt, um über die Vorgänge in Deutschland, konkret über Judenverfolgung und Widerstandsbewegung zu informieren. So reist er im März 1939 nach England. Im Juni versuchen us-amerikanische Freunde ihn in die Emigration zu retten. Er fährt tatsächlich nach New York, enttäuscht seine Freunde, die einen Lehrstuhl für ihn vorgesehen hatten. Kurz vor Kriegsausbruch kehrt er zurück. An Reinhold Niebuhr schreibt er: „Es war ein Fehler von mir, nach Amerika zu kommen. Ich muss diese schwierige Periode unserer nationalen Geschichte mit den Christen in Deutschland durchleben!“ Das Mitleiden mit den Leidenden ist für ihn zugleich ein Mitleiden mit dem in seinen Ebenbildern leidenden Gott oder Christus. Es ist alles andere als passiv. Immer ist „die verantwortliche Tat“, die allein die glaubwürdige Sprache des Glaubens ist.

Mit dem Justitiar der Bekennenden Kirche, Friedrich Justus Perels, gemeinsam stellt Bonhoeffer im Oktober 1941 zwei große Berichte über die in Berlin begonnenen Massendeportationen zusammen. Einmal waren sie für jenen Teil des Militärs bestimmt, das – immer wieder zögerlich und in gespaltenen Loyalitäten – zum Attentat gedrängt werden sollte. Zum anderen macht er die Informationen auf seinen Reisen 1941 und 1942 den Schweizer Freunden im Ökumenischen Rat der Kirchen bekannt. Bei einer Reise im April 1942 mit Helmuth James Graf von Moltke nach Norwegen, wo er mit seinem Freund Bischof Bell von Chichester zusammentrifft, informiert er wie über die Genfer Freunde die Londoner und Washingtoner Regierung. Ähnliche Informationen, auch über den deutschen Widerstand, transportiert er im Juli 1942 mit seinem Schwager Hans von Dohnanyi in den Vatikan. Die Alliierten haben sich aber auf eine bedingungslose Kapitulation Deutschlands festgelegt. Sie misstrauen der Stärke und dem Personal des Widerstands.

Bonhoeffer geht seinen Weg vom Pazifisten zum Verschwörer in intellektueller Auseinadersetzung mit den weit verbreiteten Theorien vom „gerechten Krieg“ gegen den mainstream in Gesellschaft und Kirche. Und er geht ihn zunehmend in der Praxis. Schon 1931 spricht er als Jugendsekretär des Internationalen Versöhnungsbundes in Cernohorske Kupele (CSR) auf einer internationalen Jugendfriedenskonferenz. „Es ist nun aber ein heute sehr verbreiteter Irrtum, zu meinen, die Rechtfertigung des Kampfes sei bereits die Rechtfertigung des Krieges.“ Ein heutiger Krieg bedeutet die „sichere Selbstvernichtung beider Kämpfender“…darum muss der heutige Krieg, also der nächste Krieg der Ächtung durch die Kirche verfallen….Wir sollten uns nicht vor dem Wort Pazifismus scheuen.“[26][9] Kampf ist etwas anderes: Es bedeutet für ihn ab 1938 die Teilnahme an Versuchen, Hitler und damit ein Unrechtsregime zu beseitigen – auch mit Gewalt.

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Die Ächtung des Krieges

!934 auf einer ähnlichen Tagung in Dänemark (Fanö) verlangt er von den Christen, sie sollten die Teilnahme am Krieg verweigern. Der deutschen Regierung mache ein Boykott des Kriegsdienstes durch Millionen Christen seine Aggressionspläne zunichte. Ein Konzil aller christlichen Kirchen solle dazu aufrufen. Bei seiner Reise nach Norwegen 1942 trifft er sich mit Repräsentanten der Evangelischen Kirche, die die deutschen Besatzer mit passivem Widerstand massiv behindern.

1934 fragt er in Fanö (Dänemark) auf einer Jugendtagung: „Wie wird Friede? Durch ein System von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals in den verschiedenen Ländern? D.h. durch die Großbanken, durch das Geld? Oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens?…Die Kriegsfanfare kann morgen geblasen werden – worauf warten wir noch? Wollen wir selbst mitschuldig werden wie nie zuvor?“[27][10] Bonhoeffer plädiert in der Zeit deutscher Hochrüstung (1934!) und Arbeitsplatzbeschaffung für eine eindeutige Haltung der Christen und Kirche: Nein! Nicht mitmachen sollen Christen bei Rüstung und Kriegsvorbereitung. Gehör findet er kaum. Gandhi, zu dem er bereits Kontakt geknüpft hat, lädt ihn ein, aber seine Arbeit in der illegalen Theologenausbildung lässt ihm keine Zeit mehr für ein Treffen mit ihm..

Seine Absage an Soldatenausbildung und Kriegsdienst bedeutet nicht, auf den Kampf gegen das NS-Regime zu verzichten. Die alte christliche Tradition des Tyrannenmordes wird heftig diskutiert. Den Kreisauer Kreis zerreißt diese Frage fast. Bonhoeffers Gewissensentscheidung ist bereit, schuldig zu werden, um durch die Ermordung eines Mörders nicht größere Schuld sich aufzuladen. Bei einem der misslungenen Attentatsversuche wird seine Haltung praktisch. Im Januar 1943 wird eine Bombe in Hitlers Flugzeug nach Smolensk geschmuggelt (Henning von Treskow): Sie wird von Bonhoeffer im Auto seines Vaters zum Flughafen gefahren, aber sie explodiert nicht.

Im April 1943 wird er verhaftet, zunächst wegen Kriegsdienstverweigerung (Zersetzung der Wehrkraft). Nach dem Zossener Aktenfund (der vom Amt Canaris versteckten Widerstandsunterlagen) kommt seine Beteiligung am Widerstand in der Bekennenden Kirche und im Umfeld des 20. Juli heraus. Über Buchenwald wird er im Frühjahr 1945 ins KZ Flossenbürg gebracht und dort mit Canaris und Hans Oster gehängt. Sein Bruder Klaus, Chefsyndikus der Lufthansa, darum bemüht, Kontakt zu den Widerstandsgruppen der Arbeiterschaft, des Militärs und der Wirtschaft zu halten, wird – wie seine Schwäger Hans von Dohnanyi, Rüdiger Schleicher und der Justitiar der Bekennenden Kirche Perels – mit anderen zur gleichen Zeit in einem Berliner Bombenkrater erschossen. Zum Bonhoeffer – Dohnanyi – Kreis gehörten auch Ernst von Harnack, Sohn des berühmten Kirchenhistorikers und Gründers der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft“, später „Max-Planck-Gesellschaft“ und SPD-Mitglied, ein Verbindungsmann zu Wilhelm Leuschner, die alle im Frühjahr 1945 ermordet wurden.


III

Christliches Gewissen im Widerstand –

am Beispiel von Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller

Thesen zum Diskussionseinstieg 

1. Das Gewissen Martin Niemöllers ist geprägt durch einen in der NS-Diktatur von Militärcourage (als U-Bootkapitän) auf Zivilcourage transformierten Mut, gegenüber jedem staatlichen oder ideologischen Anspruch frei zu sein, verantwortlich für die unverletzliche und gleiche Würde bedrohter Menschen sowie nonkonformistisch für die Freiheit der christlichen Verkündigung (er bezeichnet dies später als schuldhafte Einschränkung) einzutreten.

2. Er wird seine Konsequenz aus der dem sog „Kirchenkampf“ derart ziehen, dass Recht und Freiheit der Einzelnen keiner Macht der Welt geopfert werden dürfen. „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Ap.Gesch. 5,29). Dazu kommt, dass nach einem Vernichtungskrieg (1939 – 45) und angesichts von Massenvernichtungsmittel Gewalt und Krieg für ihn nach 1945 keine Mittel der Politik mehr sein können. „Eine Welt oder keine“ – markiert sein „globales“ Gewissen, das an den Aufgaben des Friedens und der internationalen Gerechtigkeit arbeitet.

3. Das Gewissen Dietrich Bonhoeffers ist durch eine Parteinahme geprägt, für Recht und Wahrheit gegen Gewalt und Lüge, besonders in der Gestalt von Krieg und Propaganda einzutreten – zugunsten der Menschen „unten“, der „Leidenden“, der „Unterdrückten“. Sein verantwortliches Handeln schließt seine Bereitschaft zur Schuldübernahme, z.B. zum Lügen oder zum Tyrannenmord, ein. Das bearbeitet er in kritischer Auseinadersetzung mit der Kant’schen Ethik. Die biblische Wahrheit verlangt aber auch, die Schuld klar zu benennen und zu bekennen.

4. Niemöller wie Bonhoeffer gewinnen ihre Freiheit zum widerständigen Denken und Handeln in der Rückbeziehung auf eine einzige Instanz, die als der biblische Gott oder Christus alle anderen Autoritäten mitsamt ihren totalen Ansprüchen relativiert. Thomas Mann veröffentlicht in den USA Niemöllers Predigten (vor der Verhaftung) und sieht seinen Freimut in der Haltung begründet „God is my Fuehrer“.

5. Beide lehnen Gleichgültigkeit oder Neutralität gegenüber staatlichen Maßnahmen ab.

6. Beide beginnen ihre Verantwortung öffentlich wahrzunehmen im direkten beruflichen Umfeld der christlichen Gemeinde, der Universität sowie des Freundes- und Familienkreises. Beide bauen mit Gleichgesinnten eigene Widerstandsstrukturen auf (Bekennende Kirche, Spionageabwehr), um ihre Institutionen auch strukturell zum Widerstand herauszufordern.

7. Was sie zunächst innerkirchlich tun, wird von der gegnerischen Seite zu Recht als politischer Widerstand empfunden und als solcher auch bestraft (Niemöller hat bei seiner Verhaftung 1937 schon 40 Strafverfahren am Hals), weil Staat und Parteien keine Sektoren außerhalb ihrer totalen Kontrolle nicht dulden – vor allem nicht, wenn die völkische und rassistische Grundlage der deutschen Staatsdoktrin in Frage gestellt wurde.

 

[1][1] Hannes Karnick/Wolfgang Richter, Niemöller – Was würde Jesus dazu sagen? Ein Film-Bilder-Lesebuch, Frankfurt/M 1986, S.33.

[2][2] In einer ARD-Sendung am 9.1.1982 zum 90. Geburtstag.

[3][3] Zitiert nach J. Bentley, Martin Niemöller. Eine Biographie. München 1985, S. 203.

[4][4] K. Herbert, Der Kirchenkampf. Historie oder bleibendes Erbe? Frankfurt am Main 1985; A. Doering-Manteuffel/J. Mehlhausen (Hg), Christliches Ethos und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Europa.. Stuttgart 1995.

[5][5] So in seiner Kasseler Rede 1959. In: M. Niemöller, Reden 1958-1961. Frankfurt/M 1961, S. 71-85.

[6][6] Ursula Büttner/Martin Greschat, Die verlassenen Kinder der Kirche. Der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im „Dritten Reich“. Göttingen 1998.

[7][7] L. Siegele-Wenschkewitz, Die Judenfrage im Leben Martin Niemöllers. In: Ursula Büttner (Hg), Die Deutschen und die Judenverfolgung im „Dritten Reich“. Hamburg 1992, S. 304.

[8][8] Zitiert nach Jürgen Schmidt, Martin Niemöller im Kirchenkampf, Hamburg 1971, S.173.

[9][9] Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Stuttgart 1977, S.204.

[10][10] Zum Ganzen Jürgen Moltmann (Hg), Bekennende Kirche wagen. München 1934

[11][11] Cioma Schönhaus, Der Passfälscher, Frankfurt am Main 2004.

[12][12] M. Greschat (Hg), Zwischen Widerspruch und Widerstand. Texte zur Denkschrift der Bekennenden Kirche an Hitler (1936). München 1987.

[13][13]  Thomas Mann: „Warum musste der tapfere Bekenner Gottes und der Freiheit des Christenmenschen im Konzentrationslager verschwinden? Weil das Hitler-Regime nur…nur das eine Ziel hatte, das deutsche Volk mit allen Mitteln…für den totalen Krieg in Form zu bringen…Dieser Geistliche aber störte es wirksam darin.“ So im Vorwort zu den gesammelten Predigten ; abgedruckt in: Martin Niemöller, Dahlemer Predigten. München 1981.

 

[15][15] Die Texte und Reaktionen sind gesammelt in: M. Greschat (Hg), Die Schuld der Kirche. München 1982.

[16][16] Was würde Jesus dazu sagen? (An. 1) S 69.

[17][17] Greschat  S.81f.

[18][1] An Biographien sind zu nennen: Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe-Christ-Zeitgenosse. Gütersloh 2004, 8.Aufl.; Ders., Dietrich Bonhoeffer. rororo Bildmonogrphieen.50684, Reinbek bei Hamburg 2006; Renate Wind, Dem Rad in die Speichen fallen. Die Lebensgeschichte des Dietrich Bonhoeffer. Gütersloh 2006. 3. Aufl.

[19][2] D. Bonhoeffer, Ges. Schriften, (Hg E. Bethge),Bd II. München 1959, S. 44ff.

[20][3] Vgl. Fritz Bauer, Widerstand gegen die Staatsgewalt. Dokumente der Jahrtausende. Frankfurt am Main 1965, hier S. 108ff.

[21][4] Christoph Strohm, Theologische Ethik im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Der Weg Dietrich Bonhoeffers mit dem Juristen Hans von Dohnanyi und Gerhard Leibholz in den Widerstand. München 1989.

[22][5] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. DBW Bd. 8. München 1998, S. 19 bis 39.

[23][6] A.a.O. S.25.

[24][7] D. Bonhoeffer, Ethik, DBW Bd 6, S. 130.

[25][8] Chr. Gremmels/H. W. Grosse, Dietrich Bonhoeffers Weg in den Widerstand. Gütersloh 1996: S. Dramm, V-Mann Gottes und der Abwehr? Dietrich Bonhoeffer und der Widerstand. Gütersloh 2005.

[26][9] D. Bonhoeffer, GS Bd 1, S.154f = DBW Bd 11, S. 340.

[27][10] DBW Bd13. S. 300f.