von Martin Stöhr
Seit einigen Jahren findet am 1. Mai in Frankfurt ein Ökumenischer Friedensgottesdienst gegen Hass und für ein gewaltfreies Zusammenleben statt. Dieser Gottesdienst wurde vor einigen Jahren im Stadtteil Kalbach initiiert, um durch eine angemeldete Gegenveranstaltung Neonazis daran zu hindern, diesen Ort als Treffpunkt für ihren zentralen Aufmarsch zu benutzen. Zum 1. Mai 2006 predigte Martin Stöhr über Mt 6, 19
Lesung: Lk 12, 16 – 21
Wer über Frieden nachdenkt, darf seine Schwester Gerechtigkeit nicht aus -dem Augen verlieren. „Frieden ist die Frucht der Gerechtigkeit“ (Jes 32,17). Deshalb bin ich froh, dass der heutige Bibeltext uns helfen kann, gründlicher an den Grundlagen des Friedens arbeiten.
I
Im Augenblick findet in der SPD und in der CDU eine Diskussion über neue Grundsatzprogramme statt. Kernpunkt der Auseinandersetzung ist das Wort „GERECHTIGKEIT“. Wer ist der bessere Anwalt für Gerechtigkeit, wer schafft es besser, Unrecht zu überwinden? Wie sind Strukturen der Ungerechtigkeit und ungerechtes Verhalten zu verändern? Was ist Gerechtigkeit?
Kinder haben ein elementares Gerechtigkeitsgefühl, sie passen genau auf, dass z.B. Geschenke gerecht verteilt werden. Aber sie achten auch kräftig darauf, selber nicht zu kurz zu kommen. Bei Erwachsenen nimmt die Wachsamkeit für eine gerechte Verteilung dessen, was es gibt, ab. Gleichzeitig nimmt bei ihnen die Sorge zu, dass vor allem ich zu meinem Recht komme. August von Hajek, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, hat für unsere Art zu wirtschaften, ein eindrucksvolles Bild gefunden: Es spielen mit: Pferde und Spatzen. Werden die Starken, die Pferde, gut gefüttert und gehalten, dann fällt mit ihren Pferdeäpfeln auch genügend für die Spatzen ab. Es gibt eben Starke und Schwache. Unsere Wirtschaftsform, die Art und Weise zu produzieren, Reklame zu machen, zu kaufen und zu verkaufen, verstärken das Habenwollen von Dingen, die ich benötige – aber auch von Überflüssigem, von Sachen, die die Motten und der Rost fressen oder Diebe klauen können. Nichts ist sicher. Auch nicht das menschliche Leben.
Das erfahren die Armen in der Nähe und in der Ferne besonders genau. Sie werden aber zunehmend von denen als Bedrohung empfunden, die etwas haben, erst recht von denen, die zuviel haben – z.B. Vermögen, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz, ein Dach überm Kopf, eine Aufenthaltsgenehmigung, Gesundheit – das Alles ist etwas!
Deshalb verstärkt das reiche Europa (wie die reichen USA) seine Grenzen, seinen Stacheldraht, seine Grenzpolizei, den Einsatz von Nachtsichtgeräten. Den Habenichtsen wird der Eindruck vermittelt: Ihr seid eigentlich überflüssig. Wir brauchen euch nicht. Deshalb fragen die Abschreckungspolitiker und die Einbürgerungsfragebogen mit vielen Zeitgenossen lieber: Wen brauchen wir eigentlich in unserem Land? Wen können wir hier gar nicht gebrauchen? Zuwenig wird gefragt: Wer braucht uns?
In der gegenwärtigen Integrationsdebatte geht es auch darum. Haben wir nicht schon genug „überflüssige Menschen“ in unserer Gesellschaft (wie sie der polnische Soziologe Zigmunt Bauman präzise nennt)? Noch immer gibt es fast 5 Millionen Arbeitslose; 16 % aller Kinder hierzulande leben in Familien unterhalb der Armutsgrenze, ebenso 15 % aller alten Leute. Nicht ganz so schlimm wie in der sog. Dritten Welt geht auch bei uns die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinander. 10 % aller privaten Haushalte verfügen heute über 51 % des Vermögens in Deutschland. Vor 12 Jahren besaßen sie erst 43%.
Fast eine Million Menschen (in Frankfurt/M ca. 25 000) leben, geflohen vor Hunger, Verfolgung und Bürgerkrieg, illegal in Deutschland. Unsere Landesregierung verpflichtet alle Schulen, die Flüchtlings- und Einwandererkinder mit Adresse an die Behörden zu melden. Die Folge ist: Diese Kinder gehen nicht zur Schule. Wir lassen also Kinder ohne Anerkennung als Flüchtlinge im Dunkel der Nichtausbildung heranwachsen. Wir wundern uns dann, dass sie schwer oder nicht zu integrieren sind. Ärzte, Krankenhäuser, Sozialstationen und Solidaritätsgruppen sollen eigentlich auch amtlich Meldung machen – sie tun es aber nicht. Gott sei Dank. Sie helfen, kostenlos, ehrenamtlich. Europa ist immer in aller Munde. Vielleicht sollte europäisch von uns auch gelernt und getan werden, was andere Länder (Italien, Portugal, Frankreich, Niederlande z.B.) von Zeit zu Zeit tun: Den „sans papiers“, den papierlosen „Illegalen“, Papiere zu geben und damit ihnen eine legalen Status zu verleihen, statt sie in die Rechtlosigkeit der Ungerechtigkeit einzusperren.
Leider gibt es eine Haltung, die zur Selbstberuhigung sagt: Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie diese oder jene in ihrem Elend! Was ich habe, das habe ich. Ich bin, was ich habe, was ich vorweisen kann – an Leistung, an Besitz, an Schönheit, an Jugendlichkeit, an Kaufkraft, an Einkommen, an Urlaub, an Nationalgefühl. Das bläut uns die Werbung ein. Sie dressiert uns zum Kaufen, sie verfolgt uns in allen Medien um uns aufschwätzen, was wir zu unserem Glück des Lebens unbedingt benötigen.
Die ausufernden Aktienkurse in den Nachrichten sind eine halbe Wahrheit, weil nicht in derselben Sendung über die wachsende Zahl der Armen informiert wird. Die Reportagen vom internationalen Sport stabilisieren – wenn Deutsche siegen! – bei vielen Menschen einen Nationalstolz. Gern stärkt sich mein Nationalgefühl an deutschen Medaillen.
II
Was ist Gerechtigkeit? Die Bibel erzählt Geschichten von Unrecht und Gewalt, die sich nicht ausbreiten sollen, sondern zurückgedrängt und abgebaut werden sollen. Es sind Geschichten vom Misslingen und vom Gelingen.
Die Antwort auf die Frage, was denn Gerechtigkeit sei, beginnt mit einem Sehtest. Jesus spricht im Zusammenhang unseres Bibeltextes von zwei Sorten von Augen, von zwei Arten sich umzusehen. Er sagt: Die Augen sind – wörtlich übersetzt – die „Lampen des Körpers“. Das können finstere, trübe Funzeln sein, mit denen wir die Wirklichkeit nicht sehen. Das können aber auch helle und hellsichtige Lampen sein, die genau wahrnehmen, was los ist, wem was fehlt, was falsch läuft. „Lauter“ werden solche Augen genannt, ehrliche Augen, die sich weder rosarote Brillen noch Scheuklappen aufsetzen lassen. Wie klar ich die Wirklichkeit sehe, hängt weder an irgendeiner Wattzahl noch an einer Dioptrieziffer, hängt nicht von meinem Intelligenzquotienten oder von meiner Ausbildung ab.
Klares Sehen hängt daran, wo diese Lampen angeschlossen sind, es hängt daran, woher die Augen, diese Lampen, ihre Leuchtkraft und Energie bekommen. Bibeltexte schulen das Sehen. Sie trainieren Aufmerksamkeit: Will ich sehen, was ich sehen kann? Will ich wahrnehmen, wie andere Leute dran sind? Interessiert es mich, wo Unrecht sich eingenistet hat? In einem einfachen Bild antwortet Jesus auf diese Fragen: „Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz!“ Und damit das deutlich wird, was er meint, fügt er hinzu: Es gibt nicht nur zwei Möglichkeiten die Wirklichkeit zu sehen, trübe oder klar. Es gibt auch zwei Energiespender dafür, zwei Antriebskräfte: „Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird an dem einen hängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon dienen!“
Mammon ist in der Bibel die angehäufte Macht, die von der ungerechten Verteilung der Lebenschancen zugunsten der einen Menschengruppe und zu Ungunsten anderer Menschen lebt. Ich werde also vor die Entscheidung gestellt: Für wen entscheide ich mich – für Gott oder für den Mammon? Orientiere ich mich an Gott, heisst das nicht, dass ich in Sack und Asche, als Bettelmönch rumlaufen muss. Entscheide ich mich für Gott bin ich keine frömmelnde Type, sondern ein Lehrling und Praktikant der Gerechtigkeit. Oder orientiert sich mein Lebenssinn nur an Messbarem, an Greifbaren, an Barem, an Geld, an Prominenz (oder was man mir als solche verkauft)?
Die Worte Schatz im Himmel und der Mammon nennen zwei mögliche Lebensmittelpunkte, zwei Anschlüsse, die ungeheure Energien freisetzen können – auch kriminelle. Missbrauchbar ist alles. Aber es geht hier um zwei nicht vereinbare Orientierungen. Himmel ist in der Bibel ein Ausdruck für Gott. Seinen Namen soll man bekanntlich nicht unnütz brauchen, deswegen wird der Gottesname umschrieben mit „Himmel“: Himmelreich ist Gottes Reich. Das verstehen jedoch viele Menschen so: Das ist weit weg, etwas für alte Leute, jenseits der Todesgrenze, gut für eine Rückversicherung; für alle Fälle. Man kann nie wissen.
Aber mit Gott und seinem Reich geht es um Entscheidungen und klare Sicht hier auf unserer Erde. Was Hölle und dagegen Himmel auf Erden sein kann, erläutere ich an einem Beispiel: Der Präsident des Nazi-Volksgerichtshofes, Roland Freisler, verhört den gefolterten Peter York von Wartenburg. Dieser war z.B. mit Moltke, Bonhoeffer und Pater Delp einer der Verschwörer, die eine von Deutschland angeheizte Hölle auf Erden, beseitigen wollten: Deswegen sollte zuerst Hitler verschwinden. Das geglückte Attentat hätte nicht ein Himmelreich auf Erden herbei geführt, aber Millionen Menschen das Leben gerettet, was – „um Himmels Willen“ – dem Willen Gottes im Blick auf seine Ebenbilder entsprochen hätte.
Wartenburg hatte als Grund seines Widerstandes offen gesagt: „Der Nationalsozialistische Staat zerstört alle religiösen und sittlichen Verpflichtungen gegenüber Gott“. Er macht das deutlich an der Zerstörung des Rechtes und der Gerechtigkeit in Europa sowie an der Ausrottungspolitik gegenüber den europäischen Juden und den besetzten Völkern. Gleichgültigkeit und Gewalt sind immer Verbündete, wenn es darum geht, Gerechtigkeit und Menschen zu vernichten. Kaum hatte Wartenburg den Namen Gottes erwähnt, also vom Himmel gesprochen, da brüllt ihn Freisler an (ehe er ihn bald dem Henker übergibt): „Was die Religion angeht, so ist der Nationalsozialismus sehr bescheiden: Er sagt: Bitte, mache das doch ab, wie du willst. Nur bleibe mir im Jenseits mit deinen Ansprüchen, Kirche; denn die Seelen sollen ja im Jenseits herumflattern; hier auf der Erde gilt unser jetzigen Leben!“
Diese Einstellung Roland Freislers zum christlichen Glauben ist weit verbreitet – bei ganz Frommen wie bei Atheisten: Man muss kein Nazi sein, um so zu denken: Der Glaube hat doch nichts mit dem irdischen Leben zu tun, nichts mit Gewalt, nichts mit Rassismus, nichts mit Ungerechtigkeit, nichts mit Hunger, nichts mit Fremden. Ist er nicht nur wichtig fürs Leben nach dem Tod? Eine Wellnes-Religion fürs Jenseits oder für meine private Seele ein paar Streicheleinheiten – diese Sehnsucht ist weit verbreitet. Wo diese sich ausbreitet, werden die Opfer von Gewalt und Unrecht übersehen. Eine solche Religion ist genauso gefährlich, wie eine Politik, die die Religion zur Rechtfertigung von Gewalt und Eroberung benutzt oder wie eine Religion, die sich von Politik gebrauchen lässt.
An dieser Geschichte von Wartenburg und Freisler aus dem August 1944 wird deutlich, was Schatz im Himmel, was Schatz auf der Erde heisst. Schatz im Himmel bedeutet, einen Bezugspunkt in Gott, einen Anschluss an den einmalig beispielhaften Mitmenschen Jesus von Nazaret zu haben. Ihn zu hören und zu ihm zu gehören, macht trübe Augen hellsichtig und ehrlich. Dann machen wir uns nichts vor. Dann sehen wir, wie es zugeht und wir sehen zugleich, dass uns zugetraut wird, der Gerechtigkeit zu helfen.
Dann drehe ich mich nicht bloß um mich selber wie der reiche Kornbauer, von dem wir in der Lesung hörten. Seine Produktion war sehr erfolgreich. Wachstum! Wachstum! Seine Erfolgsbilanz kann sich sehen lassen. Was sollte er sich kümmern um die, die keine Lebensmittel haben, die mit ihrem Leben nicht zurecht kommen? „Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre. Habe nun Ruhe, iss und trink und habe guten Mut!“ – vermutlich hätte er heute sich noch zugeredet: „Hab’ Spaß und vergnügte Unterhaltung!“ Was gehen dich jene an, deren Unterhalt hierzulande gefährdet oder anderswo nicht gesichert ist?
Was gehen die Habenichtse die an, die was haben, die wer sind? Wir sind Papst, du bist Deutschland, wir sind Exportweltmeister, bald vielleicht Fußballweltmeister, wir gehören zur „zivilisierten“ Welt – Sprüche, durch die manche Leute sich aufblasen und vom Wesentlichen ablenken lassen.
III
Seit wir zum ersten Mal diesen Parkplatz an der U 2 mit einem ökumenischen Gottesdienst belegten, haben wir verhindert, dass ausländerfeindliche, rassistische und nationale Gruppen sich von hier aus nach Frankfurt einschleusten. Nehmen wir das bloß nicht als Erfolg zum Ausruhen. Die braune Gefahr ist so wenig gebannt wie die schreiende Ungerechtigkeit in der Verteilung der Lebenschancen und Lebensmittel auf unserer Erde. Wir kommen heute hellwach und hellsichtig hier zusammen, um uns zu einem klaren Blick und zu ehrlicher Wachsamkeit stärken zu lassen. Es kommt auf mich an. Jede und jeder kann etwas tun. Viele maulen über die Parteien. Ich will das nicht fortsetzen, ich müsste sonst auch über mich maulen. Im Grundgesetz steht: „Die Parteien wirken mit bei der politischen Willensbildung des Volkes. „Sie wirken mit!“ Wer da außerdem noch mitwirkt, das sind wir, das sind Gruppen und Gemeinden, die nicht abwinken, wenn Kirchenasyl zu besorgen ist, wenn Flüchtlinge abgeschoben werden sollen, wenn ausländische Kinder Schulaufgabenhilfe brauchen, wenn Amnesty International oder Friedensgruppen Mitglieder suchen, wenn Hilfsprojekte in Afrika oder in Lateinamerika Unterstützer benötigen, wenn rassistischen und ausländerfeindlichen Parolen widersprochen werden muss. Mut kostet das, auch Zeit und manchmal auch Geld.
Wir feiern diesen Gottesdienst am 1. Mai. Als dieser Tag von der Arbeiterbewegung vor weit über hundert Jahren illegal eingeführt wurde, da musste die Ungerechtigkeit in der Verteilung der Löhne und der Arbeitszeit, da mussten Kinderarbeit und Entlassungswillkür abgebaut werden. Da mussten Frauenwahlrecht und Sozialgesetzgebung erstritten werden. Weltweit ist das alles noch nicht Wirklichkeit. Aber wir lassen uns ermutigen, vor großen Zielen nicht zu resignieren.
IV
Jesus meint, wer sich nur um sich selber dreht, verhält sich wie ein Narr. Er sieht die Wirklichkeit nicht und auch nicht die Ermutigung, Lehrling und Praktikant der Gerechtigkeit sein zu können. Es gibt die Möglichkeit, „reich in Gott“ zu sein. Wer seine Botschaft ernst nimmt, sieht die doppelte Wirklichkeit: Die Welt, wie sie ist und die Welt, wie sie sein sollte im Vertrauen auf Gott, auf seine Vorstellung von einem menschlichem Leben und Zusammenleben sowie auf die Kraft der Gerechtigkeit.
Zur ganzen Wirklichkeit unserer Welt gehört die biblische Botschaft, die uns befreien will und kann vom hoffnungslosen oder vergnügten „Um-uns-selber-drehen“. Und ebenso die Wirklichkeit der Anderen, vor allem, wenn sie von Unrecht und Gewalt geprägt ist. Diese doppelte Wahrnehmung der Gegenwart macht bei manchen Mitmenschen und bei einigen Institutionen nicht beliebt. Der Bundesverband der deutschen Industrie hat vor Jahren evangelische und katholische Religionsbücher untersuchen lassen. Das Ergebnis stellt fest, die Kirchen redeten und unterrichteten dort zuviel von „Verteilungsgerechtigkeit“ und zu wenig von „Leistungsgerechtigkeit“. Gut beobachtet.
Die biblische Gerechtigkeit ist nicht gegen Leistung, nur gegen die Anhäufung der damit geschaffenen Werte bei wenigen Menschen, bei immer weniger Staaten, bei immer weniger Firmen. Ein UNO-Bericht sagt, dass 500 internationale Firmen 52% des Reichtums auf der Erde kontrollieren. Sie sind stärker als die meisten Mitgliedsstaaten der UNO. Die Welternährungsorganisation der UNO hat jüngst bestätigt, was „Brot für die Welt“ und „Misereor“ schon immer sagen: Der Reichtum der Erde reicht aus, um 12 Milliarden Menschen zu ernähren. Wir können zum Mond fliegen sowie zum Mars fliegen und gleichzeitig jährlich 35 Millionen Menschen verhungern lassen. Wir – nicht nur die Warlords im Sudan oder im Kongo, in Afghanistan oder Guatemala, nicht nur die Herren Bush, Putin, Hu – wir auch führen Krieg. Es gibt vier Sorten Massenvernichtungsmittel: Atomwaffen, biologische Waffen, Chemiewaffen und Kleinwaffen wie Gewehre, Maschinenpistolen und Landminen“. Unser Bruttosozialprodukt wächst auch durch die Herstellung von Vorprodukten und Rüstungsgütern für diese Mordinstrumente. Wir verdienen mit am Töten von unschuldigen Zivilisten. Auf jeden getöteten Soldaten kommen heute mehr als 10 tote Zivilisten.
V
Weil das mit der Gerechtigkeit keine einfache Sache ist, muss sie immer wieder gelernt werden. Zu den Lehrbüchern für Juden und Christen gehört ganz prominent die Bibel. Die Muslime haben deren Gehalt, was Gerechtigkeit angeht, auch in ihre Heilige Schrift, den Koran, übernommen. In den drei Religionen und ihren heiligen Schriften taucht Gerechtigkeit immer zusammen mit „Liebe“ oder „Barmherzigkeit“ auf. Gemeint ist damit keine Sentimentalität, sondern die Tatsache, dass die biblische Gerechtigkeit eine sehr tendenziöse Gerechtigkeit ist. Sie sieht zuerst auf die, denen Gerechtigkeit fehlt, auf die Mühseligen und Beladenen, auf die Ausgebeuteten und Armen, die Fremden und die Flüchtlinge, die Schwachen und die Kranken. Die Bibel ist voll von solchen Geschichten.
Andere, nichtreligiöse Konzepte begründen ihre Gerechtigkeitsforderungen anders – weltlich oder religiös. Niemand hat ein Monopol auf die allein richtige Auffassung von Gerechtigkeit. „Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der anders Denkenden oder Andersgläubigen“ sagt Jesus in der Bergpredigt in der Auseinandersetzung unterschiedlicher Glaubensverständnisse, „dann werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen!“ – d.h. den eigentlichen Sinn des menschlichen Lebens und der Menschlichkeit werdet ihr verpassen. Viele haben, Dank sei Gott, klare Augen, helfende Hände, weder ein verfettetes noch ein gekauftes noch ein schlafendes Gewissen. Es gibt Wegweiser und Wege, die zu Gerechtigkeit, Frieden und Barmherzigkeit führen und damit zu Mitmenschen und zur Mitmenschlichkeit.
Einer der frühen Wirtschaftsweisen, der Chef des Kieler Weltwirtschaftsinstitutes und SPD-Bundestagsabgeordnete Fritz Baade hat vor fast fünfzig Jahren ein Buch über „Weltenergiewirtschaft“ geschrieben, ein nüchternes, wissenschaftliches Buch über ein noch immer aktuelles Problem. Das Buch hat ein kurzes Schlusskapitel über die Bergpredigt. Dort schreibt Baade:
„Die christlichen Völker müssen mit den Lehren Christi ernst machen….Eines der schönsten Worte der Bergpredigt lautet: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen! Weder Wirtschaftsunternehmer noch Politiker haben bisher allzu viel Geneigtheit gezeigt, diese Lehre Christi ernst zu nehmen. Sie haben es für Realpolitik gehalten, dass sie, wenn sie etwas besitzen wollen, einen Geist des Besitzwillens haben müssen einen Geist des Machtwillens und eine Bereitwilligkeit zur Gewaltanwendung. Nun, was die Nichtsanftmütigen und die Gewalttätigen uns an Trümmern hinterlassen haben, das wissen wir. Wenn es im Jahr 2000 überhaupt noch ein Erdreich geben soll, dann…muss die Bergpredigt das Vademecum (das Handbuch) der Realpolitik in der Tasche des Staatsmanns werden.“ Dazu sage ich: Amen, auf Deutsch: Das werde wahr!