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„Wie aufrecht kann ein Mensch gehen?“ – Zum 25. Todestag von Martin Niemöller

von Jürgen Rüttgers

Das Grab Martin Niemöllers in Wersen

Foto: Das Grab Martin Niemöllers in Wersen

Anläßlich des Gedenkgottesdienstes zum 25. Todestag Martin Niemöllers hielt Ministerpräsident Jürgen Rüttgers in der Stadtkirche von Westerkappeln am 25.03.2009 eine mit viel Beifall honorierte Ansprache. Die Predigt hielt Alfred Buß, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen. Wir dokumentieren mit freundlicher Erlaubnis beide Texte. 

Wie aufrecht kann ein Mensch gehen?

I.

Wie aufrecht kann ein Mensch gehen?

Als Martin Niemöller im Kreise weiterer Bischöfe 1934 in der Reichskanzlei empfangen wurde, da sagte Hitler:
„Kümmern Sie sich um die Kirche.Ich kümmere mich um das Volk.“
Das war keine Begrüßung. Das war eine Drohung.
Niemöller hat das sofort verstanden. Das beweist seine Antwort. „Die Sorge um die Kirche ist die Sorge um das Volk“ hat er sinngemäß darauf erwidert.

Wie aufrecht kann ein Mensch gehen?

Ich weiß um die Schwere dieser Frage. Vor allem mit Blick auf den Nationalsozialismus. Auf das Leben in der Diktatur. Da verbietet sich jedes schnelle Urteil. Aber zugleich darf da auch nie ein Zweifel sein an dem, was Recht und was Unrecht ist.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir heute hier sind. Martin Niemöller hat gezeigt, dass der Mensch aufrecht gehen kann. Dass Obrigkeit Widerstand erfordert, wenn sie das missachtet, was den Menschen ausmacht.

Dass Unrecht widersprochen wird, wenn es sich Raum zu schaffen versucht!

II.

Was für eine unglaubliche Kraft erwächst uns heute daraus! Was für eine Hoffnung!

Dass da Menschen waren, die sich dem Unrecht entgegen gestellt haben, die sich dem nationalsozialistischen Regime widersetzt, die ihm widerstanden haben.

Was für ein Fundament hat Martin Niemöller unserem Land mit seinem Leben gegeben! Was für einen Boden hat er bereitet, auf dem das andere, das gewissenhafte, das gute Deutschland wieder wachsen konnte!

Unermüdlich war Niemöller unterwegs in England, in den USA, in Australien als Gesicht dieses anderen Deutschlands.

Und das war nie Symbolpolitik. Niemöller hat sich für deutsche Kriegsgefangene eingesetzt. Dass sie zurückkehren konnten. Zu ihren Frauen. Zu ihren Kindern, die groß geworden waren in den vielen Jahren und die mancher von ihnen noch nie gesehen hatte.

Wenn wir in diesem Jahr 60 Jahre Bundesrepublik feiern, dann ist es auch Menschen wie Martin Niemöller zu verdanken, dass wir Grund zum Feiern haben; dass wir nicht nur auf ein historisches Datum blicken; sondern dass da wahrhaft Größe war.

Menschlichkeit! Gradlinigkeit! Rückgrat! Darauf konnte unser Land aufbauen!

Das hat uns Mut gegeben, Kraft und Richtung!

III.

Lassen Sie mich noch einmal auf die Zeit damals blicken. „Kampf gegen den Nationalsozialismus“ – das sagt sich ja so leicht. Und wir bekommen nur eine vage Vorstellung von einem Leben im Schatten des Todes, wenn wir uns vorstellen, wie Martin Niemöller in den Akten der Nazis geführt wurde. Als „persönlicher Gefangener des Führers“.

Wir können nicht ermessen, was das heißt. Wir, die wir in der großen Mehrzahl uns nicht in dieser Zeit zu bewähren hatten.

Aber Gott sei Dank gibt es ja Zeugen, die diese Zeit erlebt und beobachtet haben. Und ich zitiere einen von ihnen, der durch sein mutiges Wort das Überleben Martin Niemöllers mit erwirkt hat und der damals geschrieben hat:

„Es ist schrecklich in die Hände der Menschen zu fallen, aber in die Hände der Nazis zu fallen, das ist denn doch noch etwas ganz anderes. Niemand weiß, ob Martin Niemöller heute noch lebt, ob das, was von ihm übrig ist, noch irgendwelche Ähnlichkeit hat mit seinem früheren Selbst. Vielleicht ist er nur noch eine menschliche Ruine, mit zitterndem Kopf, zitternden Händen, den Rücken voller Prügelnarben, ein von verblödenden Drogen, zum speichelnden Idioten gemachtes Gespenst seiner Selbst. Ich kann es nicht sagen; aber so lieben die Nazis ihre Feinde zu sehen, und darum ist es wahrscheinlich.“

Hier, in diesen Worten Thomas Manns, wird das Wesen der Tyrannei offenbar. Dass es nicht nur um einen Sieg geht. Nicht einmal ausschließlich um Vernichtung. Es geht darum, dem Menschen auch das letzte noch zu nehmen. Die Freiheit, den Willen, die Würde.

Hitlers Schergen haben Niemöller nicht brechen können. Das kommt einem Wunder gleich!

IV.

Und es gibt noch etwas, das mich stolz macht.

Wir alle wissen, dass Niemöller auch nach 1945 ein Mensch der klaren Worte war. Gewiss auch der verletzenden Worte. Wir müssen da nichts verschweigen! Aber das sage ich nicht anklagend. Ich sage das dankbar!

Es ist Menschen wie Martin Niemöller zu verdanken, dass auf deutschem Boden politische Kultur, politische Streitkultur wachsen konnte. Eine Kultur, die nicht nur das Wort stehen ließ – sondern vor allem den, der es aussprach!

Das zeugt von Reife! Das zeugt von Respekt! Das ist demokratisch! Das ist Demokratie!

V.

2009 ist ja nicht nur der 25. Todestag Martin Niemöllers. 2009 ist auch nicht nur der 60. Geburtstag unseres Landes. 2009 erinnert die Evangelische Kirche in Deutschland noch an etwas anderes.

Vor 75 Jahren – auch daran war Martin Niemöller beteiligt – gab es in Wuppertal eine Konferenz, die historisch geworden ist. Ich spreche von der „Barmer Synode“ und der „Barmer Theologischen Erklärung“. Ich möchte die Erinnerung daran nicht vorwegnehmen. Es wird ja noch von offizieller kirchlicher Seite daran erinnert werden. Aber wer 2009 an Niemöller erinnert, der muss auch von Barmen sprechen.

Gerade angesichts unserer Zeit, angesichts der Fragen, vor die wir gestellt sind und in und mit denen wir uns zu bewähren haben. Gerade angesichts einer solchen Zeit, brauchen wir auch die Erinnerung an dieses Bekenntnis. Nicht rückwärts gewandt, nicht selbstsicher, sondern zukunftsweisend.

Sehen Sie, ich frage mich beispielsweise, wie ein Wort aus Barmen ausgesehen hätte, wenn es zum wirtschaftlichen Handeln, zum globalen, verantwortlichen wirtschaftlichen Handeln formuliert worden wäre.

Und ich frage mich weiter, ob wir da stünden, wo wir jetzt zum Stehen, hoffentlich endlich zum Stehen gekommen sind, ob wir hier stünden, wenn wir uns, wenn sich noch mehr in Wirtschaft und Unternehmen auch an ein solches Wort gehalten und daran orientiert, wenn sie es sich zu Herzen genommen hätten.

Martin Niemöller und die Barmer Erklärung verweisen darauf: Dass die Krise heute auch einem Mangel an Haltung geschuldet ist. Dass es immer wieder an aufrechtem Gang fehlte. Und dass vielfach nicht eingestanden wurde, wann aufzuhören war, wann unternehmerischer und politischer Ehrgeiz sich nicht mehr vertragen – mit der Vernunft nicht und mit dem Humanum nicht.

Martin Niemöller hatte deshalb in seiner Zeit , in der Zeit der Weimarer Republik schon versucht, ein sichtbares Zeichen des Vertrauens gegen die wachsende Inflation und wirtschaftliche Destabilität zu setzen: Er ist einer der Mitbegründer der Evangelischen Darlehns-Genossenschaft in Münster, einer Vorläuferin der KD-Bank, die sicherstellen wollte, dass den Kirchengemeinden und Hilfswerken genügend Geld für Investitionen zur Verfügung stand.

VI.

Es gäbe noch viel zu sagen heute Nachmittag. Nicht nur zu Barmen, zu Niemöller und Deutschland. Auch zu Westfalen und dem Tecklenburger Land. Als ich mir auf diesen Tag vorbereitet habe,musste ich häufig innehalten. Etwa als ich von Pfarrer Thiemann las, den die Nazis nach Buchenwald deportiert haben; und der Gott sei Dank überlebt hat.

Oder beim „Tecklenburger Bekenntnis“. Auch das war damals ein mutiges Wort der Kirche.

Die Bedeutung des heutigen Tages speist sich aber nicht allein aus dem Blick zurück.

Gewiss, wir haben den dunklen Teil unserer Geschichte zu tragen. Aber wir dürfen und sollen gerade auch die hellen Teile tragen. Sie geben uns Kraft und Orientierung.

Uns soll und muss nicht bange sein. Nicht vor der Zukunft.Und nicht vor der Wirklichkeit, in die wir gestellt sind. Einer Wirklichkeit, in die wir bei aller Trennung der Aufgaben gemeinsam gestellt sind. Gemeinsam nicht nur als Kirche und Staat. Sondern gemeinsam vor allem als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes.

Einer Wirklichkeit, in der wir auch achthaben wollen auf das Erbe derjenigen, die zu ihrer Zeit ebenfalls nicht resigniert haben. Die Hoffnung bezeugt haben – trotz allem.

Für sie bin ich dankbar.
Ich verneige mich vor Martin Niemöller.

 

Was würde Jesus dazu sagen?
von Präses Alfred Buß

Was würde Jesus dazu sagen? Unter diesem Titel zeichnete 1986 ein Film-Bilder-Lesebuch ein Porträt Martin Niemöllers, zwei Jahre nach seinem Tod.

Was würde Jesus dazu sagen? Das war die Frage Niemöllers, seit er sie als 9jähriger in der Stube eines Webers – gestickt und gerahmt -gelesen hatte. Damals begleitete er seinen Vater Heinrich, Pfarrer in Lippstadt und dann in Elberfeld, gern bei Hausbesuchen. Was würde Jesus dazu sagen? Auf den ersten Blick erscheint es allzu wohlfeil, diese kindlich anmutende Frage als Markenzeichen des großen Martin Niemöller zu verstehen. Und doch wurde diese Frage zum Kompass seines Lebens.

Wer die Biografie Martin Niemöllers verfolgt, wird bald gewahr, welche Kraftanstrengung es für ihn bedeutete, vom preußischen Offizier und U-Boot-Kommandanten, vom gehorsamen Untertanen in völkischem Geist, vom überzeugten Wähler Adolf Hitlers – zum protestierenden Kirchenkämpfer und schließlich zum widersprechenden Kritiker der nationalsozialistischen Weltanschauung zu werden. Was ihn trieb und veränderte, das war nicht politische Einsicht. Den politischen Acker hat er im Lauf seines Lebens ja nun wirklich gründlich von rechts bis links gepflügt. Und doch war das jeweils Entscheidende nicht die politische Ansicht, sondern die Glaubenseinsicht. In seinem Buch Vom U-Boot zur Kanzel formulierte er dies 1934 so: … dass das Hören auf die Christusbotschaft und der Glaube an Christus als den Herrn und Heiland neue, freie und starke Menschen macht, dafür hatte ich in meinem Leben Beispiele gesehen, und das hatte ich aus meinem Elternhaus als Erbe mitgenommen und im Auf und Ab, im Hin und Her meines Lebens festgehalten (S.163).

Entscheidend war das Hören auf die Christusbotschaft. Genau an diesem Punkt, an der Frage nämlich, ob der Herr der Kirche Jesus Christus ist oder eine – wie auch immer geartete – völkische Weltanschauung, entzündete sich der Kampf Niemöllers um die Kirche – genau an diesem Punkt. Der 1933 immer noch politisch völkisch-national und antidemokratisch gesinnte Martin Niemöller hielt gegen die Deutschen Christen fest am reformatorischen Sola sciptura, allein die Schrift! Und er hielt fest am Solus Christus, allein Jesus Christus! Theologie war für ihn kein filigranes Florettfechten. Für die Theologie als Wissenschaft, schrieb er, hatte ich von Hause aus keine Ader (aaO S163). Aber für das Hören auf die Christusbotschaft hatte er zeitlebens ein ganz feines Gespür. So konnte er auch behaupten, die erste These der Theologischen Erklärung von Barmen sei sein einziges theologisches Dogma:

Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.

Ja, gut, mag man einwenden. Hören, Vertrauen, Gehorchen – diese Trias hat wohl dem Preußen, dem Offizier und Monarchisten aus dem Herzen gesprochen. Hören, Vertrauen, Gehorchen – das entspringt dem Obrigkeitsdenken in Forderung und Klarheit. Hören, Vertrauen, Gehorchen – das traf den Nerv des Kommandanten, der später noch all’ seine zündenden Reden für Ostermärsche und gegen Atomrüstung unter der Bordflagge seines U-Bootes aus dem 1. Weltkrieg entwarf.

Doch dieser Einwand springt zu kurz. Unmittelbar vor seiner Verhaftung – die ihn bald zum persönlichen Gefangenen Adolf Hitlers in den KZs Sachsenhausen und Dachau werden ließ – besuchte Niemöller am 29. Juni 1937 Wiesbaden. Dort sagte er u.a.: Mit der bloßen Anrede und Titulatur, dass Jesus Christus der Herr sei, ist uns nicht geholfen, sondern (es kommt darauf an) dass kein anderer Herr in der Kirche etwas zu sagen hat. Man muss Gott mehr gehorchen denn den Menschen.

Niemöller fragt also: Auf wen hören, wem vertrauen, wem gehorchen wir: dem Herrn oder den Herren. Mit der ersten Barmer These liegt ihm daran: Jesus Christus ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir zu vertrauen und zu gehorchen haben.

Damit wird ja gerade nicht bestritten, dass es außer diesem einen Wort noch viele Worte und Stimmen gab und gibt. Wie viele Worte und Stimmen drangen damals auf die Menschen ein; wie viele auf Niemöller?! Es herrschten wahrlich außer dem einen Wort Gottes noch andere Ereignisse, Mächte und Wahrheiten dieser Welt. Und welche! Und wie sie herrschten! Und was umschwirrt uns alles heute?!

Entschieden bestritten wird von Barmen allerdings, dass solche anderen Stimmen, Ereignisse, Mächte und Wahrheiten Quellen dafür sein könnten, was die Kirche in der Welt zu verkündigen hat.

Darum ist die Reihenfolge dieser Trias so wichtig: Hören, vertrauen, gehorchen. Nicht die ethische Forderung, nicht die politische correctness steht an erster Stelle, sondern das Hören. Der Glaube kommt aus dem Hören: Im verwirrenden Stimmergewirr der Zeit gilt es, mit offenen Sinnen die unverwechselbare Stimme Christi zu vernehmen. Wie leicht geschieht es, dass man Gottes Wort an der Zeit misst, statt die Zeit an Gottes Wort zu messen, schrieb Niemöller 1938 aus dem Gefängnis Moabit. Auf das Hören, das genaue Unterscheiden der Stimme Christi, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt ist, von allen anderen lärmenden Stimmen der Zeit – darauf kam und kommt es an.

Der Glaube kommt aus dem Hören. Kein Mensch kann seinen Glauben erzeugen. Glauben kann man nicht machen; nicht über ihn verfügen. Der Glaube kommt! Aus dem Hören. Er wächst einem zu. Denn Glauben ist Vertrauen. Darauf vertrauen, dass ich mit Leib und Seele, beides, im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin (Heidelberger Katechismus; Frage 1) Aus der Gewissheit solchen Vertrauens schließlich erwächst das Gehorchen, das ethisch Gebotene, die Antwort des Glaubens im Tun und im Lassen.

Der Glaube an das eine Wort Gottes in Jesus Christus hat ja erhebliche ethische Konsequenzen: er bestreitet allen anderen Ereignissen, Mächten, Gestalten und Wahrheiten dieser Welt, die es zweifellos gibt und die großen Anspruch und Einfluss auf unser Leben haben wollen und haben, jeden Totalitätsanspruch. Das gilt auch für jeden Absolutheitsanspruch des Staates, der Politik, und heute besonders der globalisierten Wirtschaft – oder wer oder was immer Anspruch auf unser Leben erheben will und erhebt. Sie alle befreien nicht, sondern vergewaltigen das Leben, wenn sie unser ganzes Leben beanspruchen wollen. Unser ganzes Leben darf nur beanspruchen, wer auch unser ganzes Leben befreien kann und befreit. Deshalb verwirft die zweite Barmer These die „falsche Lehre“, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.

Und doch zeigt Barmen eine große Leerstelle. Es fehlt eine wichtige These. Die Synode sagte 1934 kein Wort zur längst erkennbaren Verfolgung der Juden, unserer älteren Geschwister im Glauben. Und auch Niemöller schwieg dazu. Erst sehr viel später, im Konzentrationslager, ist mir dann wirklich überzeugend aufgegangen… dass ich in jedem Menschen…den Menschenbruder zu sehen habe, für den Jesus an seinem Kreuz gehangen hat… sagte er 1963. Eine der Erkenntnisse aus seiner Lebensfrage: Was würde Jesus dazu sagen?

Niemöller hat 1945, wie kaum ein anderer, bekannt, wie sehr andere Ereignisse, Mächte, Gewalten und Wahrheiten – als Jesus Christus – in der Kirche Raum gegriffen hatten. Unsere heutige Situation ist nicht…in erster Linie die Schuld unseres Volkes und der Nazis…sagte er. Nein, die eigentliche Schuld liegt auf der Kirche; denn sie allein wusste, dass der eingeschlagene Weg ins Verderben führte, und sie hat das Volk nicht gewarnt, sie hat das geschehene Unrecht nicht aufgedeckt oder, wenn es zu spät war… Und nahm sich selber nicht aus: Ich bin schuldig, weil ich 1933 noch Hitler gewählt habe…ja auch im KZ bin ich noch schuldig geworden. Vor und in aller Welt wurde er zum glaubwürdigen Anwalt und Botschafter eines Neuanfangs, allen Verleumdungen und Schmähungen hierzulande zum Trotz.

Aber auch jetzt: Nicht sein ethischer Rigorismus, seine Unbeugsamkeit, seine oft verletzende Schroffheit überzeugten, sondern sein Glaube. In aller Schuldverflochtenheit setzte er auf das reformatorische Sola gratia – allein aus Gnade. So auf dem Frankfurter Kirchentag 1956: Seine Hand ist ausgestreckt, und Gott wartet darauf, dass wir sie ergreifen. Nein, Gott wartet ja nicht: er greift nach uns und er zieht seine ausgestreckte Hand auch da nicht zurück, wo wir sie zurückstoßen, auch da nicht, wo wir sie ans Kreuz nageln… Er wirbt und ringt um uns, bis wir uns von ihm überwinden lassen… Und nun sind wir selber Botschafter, neu ins Leben, neu in die Welt hineingestellt, um die gute, frohe Botschaft weiterzusagen, dass die Versöhnung da ist, und dass wir sie miteinander und füreinander leben sollen (Dokumentarband DEKT 1956, S.68).

Die Erinnerung an Martin Niemöller zeigt: Sola gratia, allein aus Gnade lässt sich leben. Aus ihr lässt sich Kraft schöpfen. Von ihr her lassen sich Unrecht und Recht konsequent benennen. Von ihr her lässt sich auch das eigene Versagen getrost bekennen. Nicht vorschnell und nicht achselzuckend, sondern in der Hoffnung auf den vergebenden Gott, der befreit aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.

Darin bewahre euch der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.