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„Weil das Wort so wichtig dort war“ – Martin Niemöllers Dahlemer Predigten

von Heinz Hermann Niemöller

Dr. Heinz Hermann Niemöller bei der Übergabe von Barbara Loewenbergs Niederschriften an Kirchenpräsident Dr. Peter Steinacker

Foto: Dr. Heinz Hermann Niemöller bei der Übergabe von Barbara Loewenbergs Niederschriften an Kirchenpräsident Dr. Peter Steinacker

Die „Dahlemer Predigten“ Martin Niemöllers haben als mutige, glaubwürdige und theologisch fundierte Zeugnisse der seelsorgerlichen Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur eine weltweite Resonanz gefunden. Damals saß eine junge Frau unter Niemöller Kanzels und stenografierte wie etliche andere auch die Predigten mit. Aus den Stenogrammen und Mitschriften entstanden dann die ausformulierten Predigttexte, die unter dem Namen „Dahlemer Predigten“ bekannt wurden. Die junge Frau, Barbara Loewenberg, musste als Tochter eines evangelischen Christen jüdischer Herkunft emigrieren. Sie nahm die Texte mit und brachte sie ins Ausland in Sicherheit. Die Texte der Dahlemer Predigten übergab die junge Frau nach dem Krieg Dr. Heinz Herrmann Niemöller. Am 13. Oktober 2005 übergab dieser sie im Rahmen einer Gedenkfeier der Kirchenleitung der EKHN zur dauerhaften Verwahrung im Zentralarchiv. Im Rahmen der Gedenkfeier wurde auch eine Ausstellung gezeigt, die sich  dem Leben der mutigen jungen Frau, Barbara Loewenstein, widmet. Wir dokumentieren die Begrüßungsrede von Dr. Heinz Hermann Niemöller: 

Sehr geehrter Herr Kirchenpräsident, sehr geehrter Herr Bogs, meine Damen und Herren,

lassen Sie mich zu allererst meinen herzlichen Dank dafür aussprechen, dass Sie soviel Bereitschaft, soviel Interesse daran gezeigt haben, diese besondere Sammlung von Kanzelreden meines Vaters Martin Niemöller in Ihre Obhut zu übernehmen. Auch wenn alle diese Ansprachen in Dahlem gehalten worden sind, hat die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau mit den Anliegen zu tun, die sich in diesen Reden manifestieren: Dafür sorgt schon der universelle Anspruch des göttlichen Wortes, dazu der schwere und gefährdete Weg der beiden hessischen evangelischen Kirchen in der Nazi-Zeit. Schließlich sei noch erwähnt, dass unser Archiv zahlreiche Zeugnisse und Akten von oder über den späteren Kirchenpräsidenten Niemöller aufbewahrt.

Gerne will ich kurz berichten, wie ich dazu gekommen bin, diese 58 Schrift-Auslegungen, die damals nicht nur in Dahlem, sondern in großen Teilen Berlins und weit darüber hinaus Gehör und Beachtung fanden, in Maschinenschrift zu übertragen. Mir war seit meiner Dahlemer Schulzeit bekannt, dass Barbara Loewenberg, eine Konfirmandin des Vaters, bei verschiedenen Gelegenheiten dessen Predigten stenografisch mitgeschrieben hatte, was mich, der vier Jahre jünger war, mit Bewunderung erfüllte. Als wir 1938 die hektografierte Urfassung der 28 „letzen“ Predigten in die Hände bekamen (eines dieser gehef­teten Exemplare zeige ich Ihnen hier, um es als „Primärquelle“ dem Archiv zu übergeben), da hatte ich sogleich den Verdacht, dass es Barbara Loewenberg gewesen sein könnte, die diese Reden aufgezeichnet hatte.

Nach dem Tode meines Vaters 1984 schickte mir Barbara Loewenberg einige Fotos von meinen Eltern, die sie anlässlich eines Besuches in Wiesbaden 1960 gemacht hatte. Daraus entstand ein brieflicher Austausch mit ihr, wobei wir hofften, uns bei Gelegenheit wieder persönlich begegnen zu können. Leider ist daraus nichts geworden; Barbaras Gesundheit war nicht mehr stabil, und ich selbst habe irgendwie den Weg nach Kempten nicht mehr rechtzeitig gefunden, was ich später sehr bedauert habe. Nach dem unzeitigen Tod von Frau Loewenberg erhielt ich aus ihrem Nachlass das violette Büchlein mit 30 Predigten von Martin Niemöller, wobei es auf der Titelseite heißt: „Nach eigenen Nachschriften“. Bald konnte ich feststellen, dass diese Dahlemer Predigten aus den Jahren 1935-36 offenbar unbekannt waren, da nicht schriftlich überliefert. Natürlich habe ich den Inhalt dieses Bändchens mit Interesse und innerer Bewegung gelesen. Nach einigen Jahren entschloss ich mich, den Inhalt dieser Sammlung, der in sehr engzeiliger Maschinenschrift niedergelegt war, auf Normalformat (A 4) zu übertragen, ebenfalls mit der Schreibmaschine. Mein Ziel dabei war eigentlich recht egoistisch: Ich hoffte dabei, mir die doch immer sehr konzen­trierten Aussagen des Vaters durch das Abschreiben auf intensivere Weise aneignen zu können. Dieses selbstgesteckte Ziel habe ich auch durchaus erreicht.

Über das Auftauchen von Barbara Loewenbergs Nachschriften berichtete ich dem Berliner Kirchengeschichtler Dr. Hartmut Ludwig, mit dem ich schon gelegentlich korrespondiert hatte. Er bestätigte meine Vermutung, dass die 30 Predigten aus Barbaras Nachlass bisher unbekannt waren. Einige Monate später fragte er mich brieflich, ob ich Interesse hätte an einem Exemplar der hektografierten „Urfassung“ der „letzten“ 28 Niemöller – Predigten aus Dahlem, also aus den Jahren 1936-37 (bis zur Verhaftung am 1. Juli 1937). Als ich bejahte, schickte er mir eines dieser heute sicher recht seltenen noch vorhandenen Stücke, was niecht ganz ohne Folgen bleiben sollte. Es stellte sich nämlich beim Vergleich mit Barbara Loewenbergs Niederschrift der „30 Predigten“ heraus, dass die Gliederung dieser Gottesdienst-Protokolle in beiden Sammlungen völlig identisch war: Sie enthielten nämlich nicht nur den Wortlaut der Predigten, sondern dazu auch die liturgischen Texte, wie Epistel des Sonntags, Wochenspruch etc., dazu auch die ver­wendeten Lieder. Verblüffend war ferner, dass das Datum der ersten Predigt in der späteren Sammlung (28 „letzte“ Predigten), 25. Oktober 1936, fast haargenau zu dem Datum der letzten Ansprache aus Barbara Loewenbergs Büchlein passte: 11. Oktober 1936! Die drei Verzeichnisse am Schluss beider Sammlungen (Inhalt, Texte, Lieder) stimmen völlig überein. Ebenso auffällig ist die Kennzeichnung von rhetorischen Betonungen durch Sperrung in den Texten beider Kollektionen. Es konnte somit kein Zweifel bestehen, dass Barbara Loewenberg auch die 28 „letzten“ Predigten stenografisch aufgezeichnet haben muss. Der Vergleich der letzten deutschen Druckfassung (Chr. Kaiser 1981) mit dem hektografierten „Urexemplar“ ergab jedoch auch, dass dieses Buch („Dahlemer Predigten 1936/1937“) nur in Bezug auf die Texte mit der Primärquelle übereinstimmt. Es fehlt das Vorwort, das wohl dem Pfarrer Karl Immer aus Barmen zuzuschrei­ben ist, und der auch, soviel wir wissen, von Barmen aus die Herstellung und die Verteilung der hektografierten „Erstfassung“ betrieben hat. Datum  und Ort der jeweiligen Predigt werden nicht genannt, auch fehlt die wichtige Information, um welchen Sonntag des Kirchenjahres es sich gehandelt hat» Diese Mängel und die Einsicht, dass die zwei Sammlungen zusammengehören, haben mich veranlasst, die 28 „letzten“ Kanzelreden ebenfalls in Maschinenschrift aufzuzeichnen, unter Benutzung der „Primärquelle“, d.h. der vervielfältigten Fassung aus Barmen. Die in dem Buch von 1981 abgedruckten Vorworte des Verlags von Franz Hildebrandt und von Thomas Mann habe ich nicht wieder abgeschrieben, da sie ja erst in den späteren Ausgaben ein­gebracht worden sind. In einem eigenen kurzen Vorwort weise ich u.a. darauf hin, dass wir die stenografische Erstaufzeich­nung der „letzten“ 28 Predigten Barbara Loewenberg zu verdanken haben…. .

Mit meinen Abschriften der beiden Predigtbände wollte ich der Tatsache Rechnung tragen, dass diese Reden, die teils in der Jesus-Christus-Kirche, teils in der alten Annen-Kirche, gelegentlich auch im Saal des Gemeindehauses an der Thielallee gehalten worden sind, eine Einheit, ein Kontinuum darstellen. Dieses „Einheitliche“ zeigt sich in dem durchgehenden sprachlichen Duktus des Pastors, den Thomas Mann mit Recht als „rhetorisch“ empfunden hat. „Weil das Wort so wichtig dort war, weil es ein gesprochen Wort war“, so könnte man mit Goethe sagen, denn schriftliche Auslassungen über den Stand des „Kirchenkampfes“ konnten ja kaum gedruckt werden, sondern wurden rigoros unterbunden. Die zeitliche Kontinuität wird gewahrt durch die chronologische Anordnung der Gottesdienste und ihre jeweilige Stellung im Kirchenjahr. Auffallend ist eine große Lücke zwischen Mai 1935 und dem Oktober desselben Jahres; einige Predigten aus dieser Periode scheinen in die Sammlung „Alles und in allen Christus!“ eingegangen zu sein, die schon 1936 in Berlin publiziert worden ist. Dass die allererste von Barbara Loewenberg aufgezeichnete Kanzelrede vom 19. Mai 1935 (Kantate) nicht in diese Reihe aufgenommen und gedruckt worden ist, hängt vielleicht mit ihrer besonderen Schärfe zusammen, mit der sie sich gegen die Zwangsmaßnahmen des Staates gegenüber der Bekennenden Kirche richtet. Möglicherweise wollte der Verleger kein unnötiges Risiko eingehen. Gerade diese Predigt, bei deren Aufzeichnung Barbara Loewenberg erst knapp 15 Jahre alt war, demonstriert beispielhaft den Zusammenhang von Martin Niemöllers Schriftverständnis mit dem politischen bzw. kirchen­politischen Tagesgeschehen. Er verstand es, die Inhalte, die Weisungen und Glaubensgehalte der Bibel in das Hier und Heute zu übertragen und zu aktualisieren.

Der Hintergrund dieser besonderen Predigt ist folgender: Die 2. Bekenntnissynode der APU in Dahlem hatte Anfang März 1935 ein „Wort an die Gemeinden“ beschlossen, das sich mit deutlichen Protesten gegen die Errichtung einer neuen „Staats-Religion“, gegen den Totalitäts­anspruch des NS-Staates und gegen die Aushöhlung christlicher moralischer und kultureller Werte artikulierte. Diese Erklärung sollte auf Antrag von Heinrich Held von den Kanzeln des APU -Bereiches am 10. März und am 17. März verlesen werden, was auch weitgehend befolgt wurde. Der Staat empfand den Text als ungeheuerliche Provokation und verhaftete insgesamt 715 Pfarrer, darunter allein ca. 4O aus Berlin und Brandenburg. Diese letzteren fanden sich im Polizeigefängnis Alexanderplatz wieder, wo sie sich, zur großen Verwunderung ihrer Wärter, mit gemeinsamem Choralsingen trösteten und erbauten.  An dieses Erlebnis knüpft nun der Text an, den Martin Niemöller der Kantate – Predigt zugrunde gelegt hat (Apg. 16, 25b): „Um die Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und es hörten sie die Gefangenen“. Das klingt nun wahrlich nicht nach konventioneller evangelischer Sangesfreudigkeit, zumal im Text nicht von Gesang, sondern von Gebet und dem Lob Gottes die Rede ist. Martin Niemöller spricht in seiner Auslegung von den Anfechtungen, denen der Glaube in einer Zeit der Verfol­gung ausgesetzt ist. Er nennt die Angst beim Namen, die sich angesichts der staatlichen Repression ausbreitet, und scheut sich nicht, die Situation der gefangenen Missionare Paulus und Silas mit der Lage der verhafteten Pfarrer gleichzusetzen. Was soll man unter derartigen Bedingungen tun? Hier, wie auch an anderen Stellen der beiden Predigtbände, werden wir ermahnt, das Festhalten am „alten Glauben“ eben  nicht nur und nicht einmal in erster Linie als Bewahrung des „Erbes der Väter“ zu verstehen, sondern das Evangelium als einen Ruf zu täglicher Entscheidung zu hören, und dementsprechend auch zu handeln. In der so überzeugend geschilderten Not seiner Kirche sieht der Dahlemer Pfarrer aber auch eine Prüfung, die zu echter Buße und ehrlicher Erneuerung führen kann und soll. So schließt er die Kantate-Predigt dann doch mit dem hoffnungsvollen Psalmwort: „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder“ (Ps.98,1).

Ja, liebe Freunde, es ist auch ein kleines Wunder, dass wir diese Kanzelreden noch heute hören können; ein Wunder allerdings, an dem einige Menschen Anteil gehabt haben. Zuerst nenne ich Barbara Loewenberg, die alle 58 Predigten verbatim stenografiert hat. Dann Karl Immer, den unvergessenen Pfarrer aus Barmen-Gemarke, der die hektografierte Fassung der 28 „letzten“ Predigten besorgt und in ganz Deutschland verteilt hat. Mit Dankbarkeit zu erwähnen ist auch Pfarrer Paul Vogt aus der Schweiz, der die erste gedruckte Fassung der 28 „letzten“ Predigten 1939 herausgegeben hat unter dem Titel „Dennoch getrost“. Franz Hildebrandt hat zu dieser Ausgabe ohne Autoren­angabe das Nachwort verfasst. Von dem Vorwort von Thomas Mann war schon die Rede. Mein eigener Beitrag zu der Überlieferung dieser Reden ist zwar vergleichsweise klein, aber man kann sagen, dass ich mich wenigstens in bester Gesellschaft befinde.

Ich danke Ihnen sehr für Ihr Interesse und Ihre Geduld.