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Nachtfahrt ins Wuppertal

von Matthias Schreiber

Dr. Matthias Schreiber, Autor der rowohlt-Bildmonographie über Niemöller, berichtet von einer ungewöhnlichen Begebenheit. 

Die Geheime Staatspolizei hatte strenge Geheimhaltung befohlen. Sein Haus wurde überwacht, das Telefon war gesperrt. Nachbarn ließ man nicht durch. Der alte, im Sterben liegende Wuppertaler Pfarrer war abgeschirmt. Als die SS vorfuhr, brach die Dämmerung bereits herein.

Die Nazis liebten die Dunkelheit. Aber anders als sonst holten sie diesmal niemanden ab. Sie brachten jemanden. Den Sohn des Sterbenden hatten sie Hunderte von Kilometern aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen her transportiert. Sie hatten ihn durch Deutschlands Nacht ins Rheinland gefahren, damit er seinen Vater ein letztes Mal sehen konnte. Pastor Martin Niemöller hieß der Gefangene. Sein damaliger Titel: „Persönlicher Gefangener des Führers“.

Warum durfte ein KZ-Häftling seinen sterbenden Vater besuchen? Hatten sich einzelne SS-Leute über Befehle hinweggesetzt? Gab es unter den Nazis vielleicht doch einen Funken Mitgefühl?

Es gab kein Recht im Willkürregime, erst recht kein Recht für Gefangene. Aber Pastor Niemöller war kein gewöhnlicher Gefangener. Er war so etwas wie der Nelson Mandela seiner Zeit. Sein Protest gegen Hitler war weltbekannt. Niemöller war Vorsitzender des Pfarrernotbundes. Er kämpfte gegen die „Deutschen Christen“ und ihren Versuch, die Kirche gleichzuschalten.

Anfangs hatte Niemöller die völkische Bewegung selbst begrüßt. Er war erfolgreicher U-Bootkommandant im 1. Weltkrieg gewesen und preußischer Offizier. Seine Autobiographie „Vom U-Boot zur Kanzel“ war im selben Verlag erschienen wie die Biographie Carin Görings. Beide Bücher wurden Bestseller.

Doch schnell erkannte Niemöller die diabolische Fratze der braunen Bewegung. Er war in Berlin-Dahlem Gemeindepfarrer. In einem bürgerlichen Umfeld von Offizieren, Wissenschaftlern und Politikern. Alles Menschen mit Einfluss, die zum Teil – wenn auch nur insgeheim – an der nationalsozialistischen Bewegung zweifelten.

So jemand war für die Nazis gefährlich. Hitler ließ Niemöller verhaften und wegen Volksverhetzung anklagen. Die internationale Presse reagierte sofort. Tausende Protestbriefe erreichten die Reichskanzlei. In England wurden Kirchenglocken geläutet. Als der Gefängnispfarrer ihn besuchte und fragte: „Warum sitzen Sie im Gefängnis?“ antwortete Niemöller: „Warum sitzen Sie nicht im Gefängnis?“

Wider Erwarten sprach das Gericht Niemöller frei. Ausländische Zeitungen titelten: „Es gibt noch Richter in Berlin“. Und der im Exil lebende Schriftsteller Thomas Mann kommentierte das Urteil: „Wer eine Vorstellung hat von der Jurisdiktion eines Nazi-Volksgerichtes, versteht, was es heißen will, dass Pastor Niemöller durch ein solches Hitler-Volksgericht frei gesprochen wurde.“

Hitler tobte. Niemöller kam nicht frei. Er wurde auf obersten Befehl hin ins Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin verbracht. Nur mit Mühe ließ Hitler sich von seinen Vertrauten davon abbringen, auch die Richter Niemöllers zu verhaften.

Niemöller war nun „Persönlicher Gefangener des Führers“. Der Titel verunsicherte Wächter und Mitgefangene. Die Lagerleitung musste garantieren, dass Niemöller überlebte. Die Machthaber fürchteten anderenfalls außenpolitische Folgen. Niemöller erhielt die doppelte SS-Ration, Wein und täglich eine Zigarre. Darüber fielen nach dem Krieg die Moralisten aus aller Welt her. „Schlaraffenland hinter Stacheldraht“, sei das gewesen, während andere gefoltert worden seien. Doch Goebbels verrät in seinem Tagebuch die nüchterne Absicht: „Niemöller soll gut essen, dick werden, dass niemand ihn mehr mit einem Märtyrer verwechseln kann. Aber auf die Menschheit wird er nicht mehr losgelassen.“ Ein Todes-urteil in kalter Vollstreckung.

Noch einmal Thomas Mann: „Niemand weiß, ob das, was von Martin Niemöller übrig ist, noch irgendwelche Ähnlichkeit hat mit seinem früheren Selbst. Vielleicht ist er nur noch eine menschliche Ruine, mit zitterndem Kopf, zitternden Händen, den Rücken voller Prügelnarben, ein von verblödenden Drogen zum speichelnden Idioten gemachtes Gespenst seiner Selbst. Ich kann es nicht sagen, aber so lieben die Nazis ihre Feinde zu sehen.“

Die Nachtfahrt nach Wuppertal und der Besuch bei seinem Vater wurden für Niemöller zum Geschenk. Später schrieb er darüber: „Der Gestapobeamte blieb an der Tür innerhalb des Zimmers zurück. Ich selber konnte vor Bewegung kaum sprechen, und dem Sterbenden wurde das Sprechen sichtlich schwer. Aber er kaufte die Zeit aus und ich war fast die ganze Zeit der Hörende. Mein Vater sprach von den Kindern und von meiner Frau, er sprach zu mir von meinem Los und vom Trost des Glaubens. Als der Beamte zum Aufbruch mahnte, lag meine Hand in der seinen.“

Eine halbe Stunde gaben die Nazis Niemöller und seinem Vater. Dann fuhren sie ihn zurück ins KZ – durch Deutschlands Nacht.