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„Die leise Hoffnung….“ – Predigt über Mt. 12,38 – 42

von Martin Stöhr

Am 7. März 2004 predigte Martin Stöhr anlässlich des 20. Todestags Martin Niemöllers in der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau 

„Da fingen einige von den Schriftgelehrten und Pharisäern an und sprachen zu Jesus: Meister (Rabbi), wir möchten gern ein Zeichen von dir sehen. Und er antwortete und sprach zu ihnen: Ein böses und abtrünniges Geschlecht fordert ein Zeichen, aber es wird ihm kein Zeichen gegeben werden, es sei denn das Zeichen des Propheten Jona. Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein. Die Leute von Ninive werden auftreten beim Jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen; denn sie taten Buße nach der Predigt des Jona. Und siehe, hier ist mehr als Jona. Die Königin von Saba wird auftreten beim Jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und wird es verdammen; denn sie kam vom Ende der Erde, um Salomos Weisheit zu hören. Und siehe, hier ist mehr als Salomo.“

Die Geschichte, die Matthäus erzählt, ist eine der unzähligen Geschichten im NT, die von einer heftigen Debatte berichten – hier: zwischen Jesus und den Pharisäern und Schriftgelehrten. Sie reden ihn an  mit „Rabbi“. Er ist einer der ihren, erörtert die alte Schrift  als Gottes Wort, das für heute etwas zu sagen hat. Gemeinsam ist den Streitenden: Man hat eine gemeinsame Quelle, aus der man schöpft. Man nimmt die Tradition ernst als gesammelte Weisheit vergangener Generationen – nicht um sie konservativ zu konservieren, sondern um die darin steckende Weisheit progressiv für eine menschlichere Zukunft in unserer Gegenwart zu servieren und damit den jeweils heute lebenden Menschen zu dienen. 

In der Generation Martin Niemöllers haben wir diesen produktiven und notwendigen Streit auch gehabt. Er ist zugunsten ängstlicher Einheitsbemühungen heute fast eingeschlafen. Nach dem Zweiten Weltkrieg diskutierten Martin Niemöller mit Otto Dibelius, Gustav Heinemann mit Helmut Simon, Hermann Ehlers und Johannes Rau, Dieter Posser und Helmut Thielicke und viele andere innerhalb und außerhalb der Gemeinden. Öffentliche Stellungnahmen zu entscheidenden Fragen in Kirche und Gesellschaft sind notwendig, Unterschiede müssen argumentativ ausgetragen werden. Es muss gefragt werden, wieso unser Volk solche unmenschlichen Irrwege einschlug und wie eine menschlichere Zukunft aussehen kann.

Jesus und seine Zeitgenossen hat das mit und in den unterschiedlichen Strömungen in seiner damaligen Gemeinde auch gemacht. Zu dieser kreativen Auseinandersetzung gehören historische Beispiele wie aktuelle Analysen. Die scharfe Kritik am Zustand der Gesellschaft darf nicht durch irgendwelche rosaroten Brillen geschönt werden. Die Worte „böse“ im Umgang von Menschen und Gesellschaften sowie „abtrünnig“ von Maßstäben der Ethik und Humanität sind Beispiele solcher analytischer Ehrlichkeit. Beispiele aus der gemeinsamen Geschichte können helfen, Wege für die Gegenwart zu klären.

So tauchen hier der Prophet Jona auf und die Stadt Ninive. So wird an die Königin von Saba erinnert. Sie kam zum König Salomo, nicht nur um Handel zu treiben, Bündnisse zu schließen oder gar um einen märchenhaften Stoff zur Verfilmung einer antiken Love-Story zu liefern. Weise Entscheidungen sind zugunsten der Völker zu suchen und zu finden. Weisheit, so berichtet die Bibel, ist Lebens-Weisheit als Rechtsfindung zur Vermeidung und Überwindung von Unrecht; ist Weisheit, den Frieden zwischen den Völkern und Menschen zu sichern – wie es das Sprichwort von der salomonischen Weisheit festhält und wie sein Name Salomo (in dem das Wort Schalom = Frieden steckt) sagt.

Jona steht für die Tradition der Prophetie, die keine Wahrsagerei betreibt, sondern kritisch die Wahrheit sagt – z.B. den Machthabern, koste es auch das eigene Leben. Jesus weiß, wovon redet. Er ist auf dem Weg nach Golgatha, zum Galgen. Hier, in seiner Person, im Menschensohn, d.h. dem geglückten Ebenbild Gottes für alle anderen Ebenbilder Gottes, ist mehr als Jona, mehr als Salomo, mehr als Königin von Saba, mehr – ja auch das – mehr als Martin Niemöller. Hier ist die Quelle für Zivilcourage und Freiheit, sich nicht gleichgültig wegzuducken, wenn Mitmenschen gefährdet sind.

Als Thomas Mann in den USA Niemöllers Predigten veröffentlichte, da kennzeichnete er im Vorwort Niemöller als einen Menschen, der sich nicht wie jeder Staat und jeder andere Mensch „versteckt hinter dem Fetzen seiner Neutralität, der zusieht, wie der andere (Mitmensch) ans Kreuz geschlagen wird!“ Er tut den Mund für die Stummen und Stummgemachten auf. Weder Religion noch Gewissen sind Privatsache, so persönlich sie vertreten werden. Sie verbinden wache Menschen mit den „Gebundenen“, schlagen sensibel für die Geschlagenen in unserer Welt.

Die Schriftgelehrten und Pharisäer gehen zu Jesus als ihrem Zeit- und Glaubensgenossen. Sie fragen ihn, was er zu diesem oder jenem Problem sagt, z.B. zur Glaubwürdigkeit, die sich doch durch Zeichen erkennbarer machen könnte. Niemöller geht zu diesem Jesus hin wie zu einem Zeitgenossen. Er spricht ihn auf aktuelle Probleme an.

Vor genau 60 Jahren predigte Niemöller hier in Dachau – endlich war es ihm erlaubt – vor einer kleinen Gemeinde von norwegischen, englischen, jugoslawischen, mazedonischen und holländischen Mitgefangenen. Er legt die Geschichte der syrischen Frau, einer kulturell und religiös Fremden aus. Er versteht sich wie sie und „sie steht zugleich für die leise Hoffnung, dass der Mann, hinter dem sie so herschreit, ihr helfen könne und auch helfen werde!“…“Die leise Hoffnung“ auf situationsverändernde Hoffnung und Hilfe, besteht „gerade in unserer Lage mit ihrem eintönigen Allerlei…mit ihrer Riesennot…mit ihrer scheinbaren Aussichtslosigkeit“ auch mit dem „Schweigen Gottes“. Diese „leise Hoffnung“ bringt ihn immer wieder in Jesu Hörweite und in die Reichweite seiner Sendung. Er hält damals wie wir heute seine Predigt am Sonntag „Reminiscere“ (Gedenke!). Dessen Name erinnert uns wie das „Sachor“ (Gedenke!) in der Synagoge drüben, an den Gott des Lebens, an seinen Willen und an unsere Geschichte mit ihm, gegen oder ohne ihn. Dieses Gedenken ist ein Angriff auf jede Gedankenlosigkeit, die sich – wie die Zeichenforderung – das selbstverantwortliche Nachdenken über „Gott und die Welt“, und was wir aus beiden machen können, ersparen will. Niemöllers Predigt will damals für sich, mit anderen und für andere lernen, was – wie er sagt – ein „Glaube, für den es das Wort Kapitulation nicht gibt“, bedeutet.

Niemöller fragt ebenso zäh wie streitbar, was würde Jesus dazu sagen? Wie würde er sich verhalten? Der Gott Israels und der Völker sowie seine Verkörperung in Jesus, vertritt klare Positionen – z.B. in der Frage, ob ein Gemeinwesen wie die Großstadt Ninive an der herrschenden Gewalt und an dem dort wütenden offenen und versteckten Unrecht zu Grunde gehen soll oder nicht. Nein, keine Gesellschaft soll an ihrer Inhumanität zugrunde gehen. Deswegen ist der lebendige Gott, der lebendige Jesus ein immer zeitgenössischer Gesprächspartner. Die Meinung Gottes oder Jesu zielt nicht auf Talkshows, Stammtisch- oder Partygeplauder. Sein Wort zielt daraufhin, Unrecht und Schuld, Hunger und Elend zu vermindern und zu überwinden.

In den Streitgesprächen Jesu mit seinen Zeitgenossen stehen sich nicht der immer richtig liegende Christ Jesus den immer verlogenen jüdischen Pharisäern oder den ewig verknöcherten Schriftgelehrten gegenüber. Jesus kritisiert beide Gruppen prophetisch-scharf, weil es sich um den Kern der Gemeinde Gottes handelt. Aber er weiß auch, wofür die Kritisierten für Juden und Christen stehen: „Die Schriftgelehrten und Pharisäer sitzen auf dem Stuhl des Mose. Alles nun, was sie euch sagen, das tut und haltet!“ (Mt 23,2). Sie bemühen sich, den Glauben nicht im Nebel religiöser Gefühle in der Nostalgie von Kindheitserinnerungen untergehen zu lassen, sondern Klarheit über die öffentlichen, sozialen und persönlichen Konsequenzen des Vertrauens auf den Schöpfer und Gestalter der Welt zu gewinnen.

Was er kritisiert, ist die nicht selten vorkommende Tatsache, dass Wort und Tat auseinander klaffen. Das ist das Grundproblem aller Religionen, aber auch aller politischen und wirtschaftlichen Konzepte. Sich damit abzufinden heißt, sich mit den Lebensverhältnissen abzufinden, in die Menschlichkeit, der Frieden und die Gerechtigkeit vor die Hunde gehen. Deswegen kritisieren alle prophetischen Stimmen nicht nur der Bibel, sondern auch der Menschen, die aus dieser Quelle Orientierung und Klarheit gewinnen, dass Schindluder z.B. mit dem Wort „christlich“ oder „Heil“ dadurch getrieben wird. Es bleibt in Parteinamen, Klerikalismus oder Innerlichkeit stecken. Es wird nicht ausgelegt und hineingetragen in heil-lose Verhältnisse. Matthäus zeigt in der Bergpredigt, dass es Alternativen zur Gewalt und zur Gedankenlosigkeit gibt. Anlehnungsbedürftig an die herrschenden  Mächte und von ihnen profitierend, oft ängstlich und im Kirchturmshorizont lebend vergisst die Christenheit das allzu oft. Matthäus zeigt (Mt 25) im Gleichnis vom jüngsten Gericht, dass Jesus

  • in Gestalt der über eine Milliarde Hungernden präsent ist,
  • einer von jenem Drittel der Weltbevölkerung ist, das kein sauberes oder zu wenig Wasser hat,
  • mit 70 Millionen heute auf der Flucht vor Armut, Vergewaltigung und Krieg ist,
  • nackt und schutzlos den Naturgewalten ausgesetzt ist, obwohl wir schon nicht mehr wissen, wohin mit unseren Klamotten und mit unserem Müll,
  • Freiheit entbehren muss, gefangen und gefoltert wird, obwohl Krieg im Namen der Freiheit geführt wird,
  • an Kinderkrankheiten wie Durchfall oder Erkältungen zugrunde geht, an denen in den reichen Ländern kaum jemand mehr sterben muss
  • oder ihm Aids-Medikamente vorenthalten werden.

Angesichts der Realität unserer Welt reduziert sich heute vielleicht der Glaube auf die einfache, zäh und hoch sensibel durchgehaltene Frage: „Wo, Herr, haben wir dich hungrig, dürstend, nackt, heimatlos, gefangen oder krank gesehen?“ Diesen Fragen nicht auszuweichen, lädt Jesus ein. Sich als religiöser Mensch in der Pose des Gottsuchers zu verstehen und aufzuführen, ist einfach und in gewissen Zirkeln auch schick. Aber den Menschen nicht zu übersehen, in dem Christus selber uns anfragt, das erst macht aus religiösen Gefühlen ernsthafte Nachfolge. Jesus lehnt die Forderung nach Zeichen als Mirakelsucht und Verdinglichung des Glaubens eindeutig ab, weil es ihm darum geht, dass aus jedem Menschen ein lebendiges Zeichen der Gegenwart Christi mitten in dieser Welt wird.

Um genau zu sehen, was nicht nur in Ninive an Menschenverachtung und Unrecht los ist, erinnert er an den alten Jona und das von ihm gesetzte Zeichen. Ich bin sicher, eine solche Frage nach dem im Nächsten gegenwärtigen und lebenden Christus führt zu einer Wiederauferstehung auch eines geschrumpften oder privatisierten Glaubens als Praxis. Das erlebt in der Jona-Geschichte der in seine Privatheit ausweichende Jona. Er kommt schließlich frei  aus der sperrenden, aber auch Geborgenheit stiftenden Gewalt des Meeresungeheuers. Am Ende des Leidensweges steht für Jesus nach drei tödlichen Tagen die Befreiung aus der Macht des Todes und seiner Komplizen. Dass auf Golgatha der Tod eine Niederlage erleidet, stiftet eine begründete Hoffnung für neue Lebensperspektiven der Menschen. Auch für diese Begrenzung der tödlichen Mächte setzt Jona ein Zeichen wie für den Neubeginn des Lebens.

Deswegen erinnert Jesus an Jona und an die heillose Gewalt und Ungerechtigkeit in Ninive, am Oberlauf des Tigris gelegen, mit damals geschätzten 120 000 Einwohner, gegenüber von Mossul. Die Jona-Geschichte mit ihrer Perspektive auf eine nicht hinzunehmende korrupte und böse Gesellschaft in Ninive ist ein einziges Argument gegen jeden frommen oder säkularen Rückzug ins Private. Der polnische Dichter Zbigniew Herbert hat sich in seinem Gedicht über Jona einmal vorgestellt, was aus Jona geworden wäre, wäre seine Flucht ins Private gelungen; wie sie vielen Jonassen von heute gelingt:

„Der Jona von heute
fällt ins wasser wie ein stein
begegnet er einem wal
hat er kaum zeit zu seufzen
gerettet-
benimmt er sich schlauer
als sein biblischer kollege
er meidet gefährliche missionen
lässt seinen bart wachsen
und handelt fern von der see
und fern von Ninive
unter falschem namen
mit vieh und antiquitäten
im gemütlichen hospital
stirbt Jona an krebs
ohne selbst zu wissen
wer er eigentlich war…“

Jona, der Privatier, macht aus Religion und ihrem Auftrag eine „Antiquität“. Er „meidet gefährliche Missionen“ und verliert so seine Identität. Vor allem aber lässt er die ihm anvertraute Welt sich selbst und damit dem Recht des Stärkeren und damit dem Untergang. Hier schaltet sich Gott wieder ein. Er überlässt Jona nicht seiner weltflüchtigen Sehnsucht, sondern fängt mit dem alten Auftrag neu wieder mit ihm an. Wie sieht das mit einem Ninive von heute aus und einem Jona von heute, der seine Mission nicht aufgibt?

In Ninives Land zeigt sich heute exemplarisch für ein unbewältigte Weltproblem die Anbetung des (Öl-)Reichtums und einer High-Tech-Gewalt in den Händen der Supermächtigen und damit die Verachtung der Menschen, ihrer Armut, ihrer Leiden, ihrer Hoffnungen auf brutalste Weise. Es zeigt auch die Verlogenheit einer privatistischen Religion, die die westliche Zivilisation mit der Christenheit gleichsetzt oder die armen Muslimen subito ein privates Glück im Paradies verspricht, wenn sie unschuldige Menschen und sich selbst in die Luft jagen.

Niemöller hat in seinen ersten Predigten nach der Befreiung aus Dachau immer wieder klargemacht: Heute geht es nicht mehr – wie in der mittelalterlichen Kirche, die Angst produzieren und zugleich die Arznei des Ablasses für jeden Einzelnen dagegen verwalten und verkaufen konnte – um die Frage Luthers „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“, sondern um die Frage „Wie kriege ich einen gnädigen Nächsten?“. Er hatte erlebt, wie in gnadenlosen Zeiten und gnadenlosen Verhältnissen Menschen Menschen verachten, diffamieren, ausgrenzen, deportieren, durch Wegschauen, durch Folter, durch Arbeit, durch pseudowissenschaftliche Versuche, durch Hunger, durch Gas vernichten können – und das in einer Zeit,

  • in der die Kirche weiterhin die Gnade Gottes verkündigte, kaum aber Gnade den Menschen gegenüber walten ließ;
  • in der die Hochschulen forschend und lehrend der Wahrheit verpflichtet waren und Lügen duldeten und gescheit verbreiteten;
  • in der die Verwaltung dem Gemeinwohl und nicht nur einer angeblichen Herrenrasse dienen sollten;
  • in der die Medien darüber informieren sollten, was wirklich los ist im Land und stattdessen sich in Anpassung und Auslassung übten;
  • in der das Militär wie immer tat, was befohlen wurde,
  • in der Zeit, in der die Industrie mit Millionen Sklavenarbeitern produzierte und verkaufte, was an Vernichtungsmitteln gebraucht wurde.

Vergangene Verhaltensweisen? Der nächste Kirchentag hat als Motto die biblische Frage „…wenn dich dein Kind fragt…?“ Ja, was antworten wir, wenn unsere Kinder und Enkel uns fragen? Es genügt nicht auf Mose, Salomo, Jona, Jesus, Augustinus, Martin Luther, Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King oder Martin Niemöller hinzuweisen. Unsere Kinder und Enkel sind wie die Leute von Ninive, Salomo und Sabas Königin Beisitzer in diesem jüngsten Gericht. Und das jüngste Gericht ist immer auch ein Gericht der Jüngsten.

Niemöller war sich mit den Wenigen, die sich anders verhielten, einig, dass man zu spät und zu zaghaft den bedrohten Nächsten ein gnädiger, ein solidarischer und rettender Nächster war. Sein Schuldbekenntnis als Christ und als Deutscher hat das zur Zeit und zur Unzeit gesagt, wenn hierzulande Selbstkritik auch gern als Nestbeschmutzung verleumdet wird. Eine hellsichtige Schulderkenntnis und ein ehrliches Schulbekenntnis befördert den Mut, nicht zu schweigen, wenn Menschen und Menschlichkeit bedroht sind. Das  drückt der in Moabit ermordete Widerstandskämpfer Alfred Haushofer als Erbe und Verpflichtung auch an unsere Generation so aus:

„Ich trage leicht an dem, was das Gericht
mir Schuld benennen wird: An Plan und Sorgen
Verbrecher wär‘ ich, hätt‘ ich für das Morgen
des Volkes nicht geplant aus eigener Pflicht.
Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt,
ich musste früher meine Pflicht erkennen,
ich musste schärfer Unheil Unheil nennen –             mein Urteil hab ich viel zu lang gelenkt –
Ich klage mich in meinem Herzen an:
Ich habe mein Gewissen lang betrogen,
ich hab‘ mich selbst und andere belogen;
ich kannte früh des Jammers ganze Bahn –
ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar!
Und heute weiß ich , was ich schuldig war.“ 

Der Überlebende KZ-Häftling Samuel Pisar, den seine Firma IG-Farben ebensowenig schützte wie seine Heimatstadt, schreibt uns Nachgeborenen ins Stammbuch:

„Heute (1980) droht im Westen die multinationale Macht der Wirtschaft die bereits geschwächte politische Macht zu vernichten oder zu unterwerfen. Und im Osten erstickt die Allmacht der politischen Bürokratie jede wirtschaftliche Initiative.“ 

Was Pisar befürchtete, ist eingetreten. Auch das wahrscheinlich nächste Staatsoberhaupt Deutschlands repräsentiert die dominante Macht der Ökonomie und den Aberglauben, dass die Probleme der ungerechten Verteilung von Arbeit, Macht und Lebensmitteln sich lösen, wenn die Wirtschaft wächst. Was wir falsche Religion oder Aberglauben nennen, spricht ein modernes Glaubensbekenntnis in dem Satz aus: „Wenn unsere Wirtschaft wächst, haben wir auch mehr zu verteilen.“ Die Statistik der Industrieländer und ihr sinkender Anteil an Entwicklungshilfe widerlegt die Lüge diese Glaubensbekenntnisses. Jeder Weltbankbericht belegt, wie die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandergeht – in den Industrieländern und erst recht in der sog. Dritten Welt. Vielleicht sollten wir unser Schuldbekenntnis jetzt schon bedenken und formulieren? Es ist nicht zu verwechseln mit Ausflüchten. das ist aus der Jonageschichte zu lernen.

Sie erwähnt das Volk und die Herrscher damals, die gläubigen und die ungläubigen Zeitgenossen. Sie verbietet jede biblische Schonkost, die die gesellschaftliche Dimension und die persönliche Verantwortung des Glaubens verneint. Aus Luthers berechtigtem Protest gegen die Kommerzialisierung der Beziehungen zwischen Gott und Mensch und der Menschen untereinander, die er in der Frage anmeldete „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“, ist längst ein Heilsegoismus geworden. Er lebt in säkularer Form im individualistischen Hedonismus und in der privaten Suche nach Spaß ebenso unterhaltsam wie problemabstinent neu auf. Er lebt, ohne sich die Frage zu stellen, wie es denn mit dem Lebensunterhalt derer weitergeht, nichts oder zu wenig haben – das sind im eigenen Land 7 Millionen Menschen, darunter 1 Million Kinder. Das sind weltweit Milliarden. Niemöller 1945. „Wir wissen, dass unsere Mitmenschen gleich uns einen Anspruch auf Recht und Freiheit haben und dass sie darum niemals für uns und für andere zum Gegenstand der Ausbeutung werden sollten!“

Der historische Jona, der immerhin seinem König Jerobeam II (im 8. Jahrhundert) kritisch die Wahrheit gesagt hatte, wozu Propheten ja da sind, hat in der später überlieferten märchenhaften Geschichte vom großen Fisch sein privates Glück zu retten versucht. Er flieht nach Westen, bringt die multikulturelle Schiffsbesatzung in Schwulitäten, die ihre Götter anrufen. Es war damals eine weitverbreitete Auffassung, dass ein entlaufener Sklave einem Schiff auf hoher See Unglück bringe. Also forscht man nach der Quelle des Unglücks. Jona outet sich und opfert sich. Er entdeckt sich als Bote Gottes auf der Flucht, ein entlaufener Sklave besonderer Art. Und er entdeckt seinen Auftrag neu, gegen Gewalt und Unrecht Stellung zu beziehen.

Die Matrosen werden durch den Mut zur Wahrheit gerettet. Den Mut, einen Irrweg zu benennen und dann auch zu verlassen, der zeichnet solch prophetisches Handeln aus. Niemöller hat seine deutsch-nationale Einstellung kritisch überprüft und über Bord geworfen.

Damit hat ist ein Grundproblem aller Religionen, aller politischen und ökonomischen Konzepte getroffen. Es genügt nicht die Wahrheit zu besitzen oder zu behaupten, man besäße sie. Es gilt, sie immer wieder im Licht der Jesusbotschaft und des Wortes Gottes zu überprüfen und dann zu praktizieren. In meinem Elternhaus hing, wie in vielen Häusern, seit seiner Verhaftung 1937, ein Bild des gefangenen Martin Niemöller. Darauf stand der mir als Kind schwer verständliche Spruch; „Wir haben nicht zu fragen, wie viel wir uns zutrauen; sondern wir werden gefragt, ob wir Gottes Wort zutrauen, dass es Gottes Wort ist und tut, was es sagt.“ Jona muss lernen, Gott und sich zuzutrauen, dass Menschen und Gesellschaften sich ändern können. „Ninive tat Busse“.

„Wir werden gefragt“ – diesen urbiblischen Gedanken drückt unsere Geschichte mit dem Bild vom „Jüngsten Gericht“ aus. Das geht tiefer als die mittelalterlichen Bilder, die Angst machen angesichts offener Höllenrachen sowie sadistischer Teufelchen auf der einen Seite und verklärter Engel auf der anderen Seite. „Wir werden gefragt“ – unser Leben ist gefragt. Es wird verstanden als eine einmalige, unwiederholbare Chance, verantwortlich zu leben, d.h. Antwort zu geben auf das, was Gottes Wort sagt und Antwort auf das, was in der Welt, in der Nähe und in der Ferne, vorgeht.

Vor genau 70 Jahren empfing Hitler evangelische Kirchenführer, darunter den Berliner Gemeindepfarrer Niemöller. Als Hitler darauf bestand, dass die Kirchenleute sich um die Kirche kümmern und die Sorge um das deutsche Volk ihm, dem sog. Führer, überlassen sollten, da antwortete ihm Niemöller: „Weder Sie noch sonst eine Macht in der Welt sind in der Lage, uns als Christen die uns von Gott auferlegte Verantwortung für unser Volk abzunehmen.“ In Dachau, in der Gemeinschaft von Christen und Sozialisten aller Sorten und nachher im Ökumenischen Rat der Kirchen hat er weiter lernen müssen, dass die Verantwortung für das eigene Volk nicht ausreicht.

Das Zeichen des Jona zeigt, welch menschenrettende Kraft in einer Horizonterweiterung steckt, die mich aus der gemütlichen und abschirmenden Atmosphäre des Fischs herausholt und mich sowohl in eine Gespräch mit Jesus verwickelt wie in eins über die Weltverantwortung. 1941 veröffentlichte der ungarische Schriftsteller Mihaly Babits einen Roman unter dem schlichten Titel „Das Buch Jona“. Darin finde ich den Kernsatz: „Schuldig wird, wer unter Schuldigen schweigt.“ Amen.