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Keine bösen Träume mehr

Nach dem Besuch in Deutschland: Wiedersehen mit ehemaligen Zwangsarbeitern

Mehr als eine Einladung zum Essen: Geste der Versöhnung

Im Mai 2002 war eine Gruppe von dreizehn ehemaligen Zwangsarbeitern aus Kiew und Peremoha zu Gast in Wiesbadener Schulen, die im Rahmen des bundesweiten Projekts „Spuren suchen – Brücken bauen“ diese Begegnung ermöglicht hatten. Die Martin-Niemöller-Stiftung hatte im Vorfeld die Kontakte in Kiew hergestellt. Im August, beim Sommerworkcamp in der Ukraine, gab es ein Wiedersehen.  

Zur Gruppe der jungen Deutschen gehörten auch Anastasija und Wladimir, aus der Ukraine stammende Schüler. Im Mai hatten sie für die Besucher gedolmetscht. Nun verbrachten die jungen Deutschen und die ehemaligen Zwangsarbeiter einen gemeinsamen Tag in Kiew, mit Bootsausflug, Restaurantbesuch, nachdenklichen Gesprächen, Erinnerungen und herzlicher Wiedersehensfreude. Weitere Besuche und Treffen folgten.
Hat sich etwas geändert in ihrem Leben, seit der Reise nach Wiesbaden? Welche Erinnerungen, welche Erfahrungen haben sie mit nach Hause genommen?

Über die guten Erinnerungen spricht es sich leicht. Dazu gehören zuerst die Erinnerungen an die Begegnungen mit Schülern und Lehrern,  an erlebte Gastfreundschaft. Sehr präsent sind die Bilder einer schönen Stadt. Herr Justschenko lobt ausdrücklich die Fidelio-Inszenierung und wünscht sich für die Kiewer Oper etwas von dem innovativen Geist, den er in Wiesbaden verspürte. „Wir haben viel Spaß gehabt“, bestätigen alle. Die Anstrengungen der Reise sind vergessen, die dreitägige Busfahrt hatte auch ihr Gutes: „Wir konnten uns durch die langsame Annäherung einstimmen, auf das, was uns erwartete. Wir konnten uns gegenseitig stützen…“ 

Natürlich war es kein Rentner-Ausflug. Die Vorfreude auf die Reise nach Deutschland mischte sich mit der Bangigkeit vor dem, was sie erwarten würde. Die meisten von ihnen waren zum ersten Mal wieder in Deutschland. Die alten Menschen standen vor gänzlich neuen Herausforderungen. Einige von ihnen würden in Wiesbaden erstmals mit dem konfrontiert werden, was sich als Schatten über ihre Kindheit und Jugend gelegt hatte. Alle mussten sich Fragen und damit ihren eigenen schmerzlichen Erinnerungen aussetzen. Die Angst war präsent bis zu dem Augenblick, als sie zum ersten Mal einer Schülergruppe gegenübersaßen. „Als ich in ihre offenen, freundlichen Gesichter sah, war die Angst weg,“ sagt eine. Und Katerina Zabroda meint: „Das Mitgefühl der Kinder hat mir sehr geholfen. Ich fühlte mich nicht wie ein pädagogisches Anschauungsobjekt, sondern als Mensch. Die Schüler wollten alles genau wissen. Aber sie waren dabei so taktvoll, dass sie keine Wunden aufgerissen haben. Das hat mir geholfen: die Mischung aus Mitgefühl und Dezenz.“

Zu den positiven Erinnerungen gehören die Kontakte zu einigen Lehrern, die bis heute anhalten. Klaus Arnold ist als stets präsenter und hilfsbereiter „Tolstoi“ in guter Erinnerung: so hatte ihn die Gruppe kurzerhand getauft. Für Natalia Ornatska ist Frau Meffert von der Gutenbergschule ein wichtiges Bindeglied zur eigenen Biographie geworden. Die Lehrerin habe, so berichtet sie, inzwischen das Dorf und die Bauernfamilie wiedergefunden, bei denen ihre Eltern gearbeitet haben. An diese Familie hatte sie ihr Leben lang positive Erinnerungen, und es schmerzt sie bis heute, dass sie nach dem Krieg getrennt wurden, ohne Möglichkeit eines Abschieds. Nun hat Frau Meffert einen Sohn der Familie gefunden; die beiden anderen Söhne sind schwer krank, der Vater tot. Sie wird mit dem Sohn Kontakt aufnehmen. „Mein Leben war für mich bisher wie ein Buch, das ich nie zu Ende lesen konnte. Mir ist nun, als hätte ich es  endlich zu Ende gelesen – nur schade, dass es kein gutes Ende ist.“

Auch das Stadtarchiv Wiesbaden und vor allem Hedwig Brüchert konnten mit Nachweisen über die Geburt und den Aufenthalt wertvolle Hilfe leisten, den Anspruch auf Entschädigung möglicherweise durchzusetzen. In Kiew leben noch eine Reihe von Kindern ehemaliger Zwangsarbeiter, die im Raum Wiesbaden geboren wurden und nun hoffen, durch die Recherchen in hiesigen Standesämtern einen Nachweis über ihre Geburt erhalten zu können.

Ein wenig Bedauern klang durch, dass es man so wenig vom Land und den Menschen mitbekam: wie leben die Menschen, wie steht es um das Bildungssystem, um das kulturelle Leben, wie sieht der Alltag aus? Das gleiche galt auch umgekehrt. Geschichte und Alltag der Länder der ehemaligen Sowjetunion kennen die meisten – wenn überhaupt –  nur aus Lehrbüchern. So hofft Natalja Ornatska, dass der Besuch auch half, das manchmal schiefe Bild ein wenig zurechtzurücken.

Die Diskussionen in vielen deutschen Kommunen, ob man ehemaliger Zwangsarbeiter einladen sollte oder ihnen besser medizinische oder materielle Hilfeleistung zukommen lassen sollte, kann Nadjeschda Mudrenok nicht verstehen. „Das sind doch ganz verschiedene Dinge, die man nicht mischen sollte. Die Einladungen haben historisch und moralisch eine große Bedeutung, für beide Länder. Die Deutschen haben die Chance, aus erster Hand etwas über ihre Geschichte zu erfahren. Aber auch für die ukrainische Gesellschaft ist es wichtig, dass sich die Einstellung gegenüber den Zwangsarbeitern ändert. Am wichtigsten ist es aber für die Betroffenen. Sie können ihren Stress abbauen und zur Ruhe kommen. Viele von den alten Leuten haben nur noch einen Wunsch: vor ihrem Tod noch einmal in Deutschland den Ort sehen, an den sie so schwere Erinnerungen haben.“

Das kann auch Wladimir Justschenko bestätigen, der als fünfjähriges Kind mit seinen Eltern nach Wiesbaden entführt wurde. „Ich habe seit der Reise nach Wiesbaden keine bösen Träume mehr“, meint er.  „Ich habe immer und immer wieder von dem Lager mit Stacheldraht geträumt. Nun habe ich gesehen, dass die Menschen hier freundlich und herzlich sind, und seitdem fühle ich mich wie neugeboren. Und als ich dann endlich vor dem ehemaligen Lager stand und sah, wie meiner Begleiterin die Tränen in die Augen stiegen, als ich es wiedererkannte – in diesem Moment habe ich mich in die Deutschen verliebt.“ Er fügt hinzu, dass er eine große Hochachtung davor habe, wie sich die Deutschen ihrer Geschichte stellen. „Ihr macht es richtig.“

Dem gemeinsamen Tag in Kiew folgen noch viele Begegnungen und Gespräche in Peremoha. Dort leben Katerina Zabroda und Nadjeschda Mudrenok, beide als kleine Kinder aus dem brennenden Peremoha verschleppt. Katerinas Enkeltöchter verbringen die zwei Wochen mit den Deutschen bei gemeinsamer Arbeit und Theaterspiel. Im Garten unter Apfelbäumen, im Schulhof, bei Theateraufführungen, beim gemeinsamen Kuchenbacken, wächst eine große Vertrautheit zwischen den jungen Deutschen und den beiden Frauen. Im alltäglichen Umgang wird die Traumatisierung deutlich, die aus der Kindheit herrührt: plötzliche Tränenausbrüche, Panikattacken, unerklärliches Verhalten. „Uns wurde die Kindheit geraubt, in unseren Seelen wurden Zerstörungen angerichtet, die niemals heilen werden“, sagt Nadjeschda. Niemand hat diesen Kindern nach dem Krieg geholfen, ihre Traumatisierung zu heilen. „Ich kann nicht verzeihen, auch wenn ich will,“ sagt Katerina dazu auf eine entsprechende Frage. „Wäre ich damals erwachsen gewesen, dann wäre es mir leicht gefallen.“ Nein, verzeihen kann sie nicht. Aber sie schlachtet für uns ein Kaninchen, für das große Abschiedsessen. Ihre Schwester, die noch nicht  laufen konnte und schwer krank war, als sie als Säugling nach  Deutschland musste, tischt Obst und Gemüse auf, Nadjeschda schleppt eine Riesenschüssel mit Teigtaschen an. Verzeihen können sie nicht. Aber sie tun es.