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„Zu spät, zu unpolitisch, zu wenig“

Zur Debatte um Niemöller und die „Nazi-Zigarren“ (2007)

Aktuelle Veröffentlichungen um Martin Niemöller und die Einstellung des Nazi-Ideologen Matthes Ziegler in den Dienst der Landeskirche sorgen im Moment für Diskussionsstoff. In mehreren Kirchenzeitungen und in der Frankfurter Rundschau vom 19.1.07 erschien dazu ein epd-Artikel von Wolfgang Weissgerber. Er bezieht sich auf den Artikel von Manfred Gailus „Vom ,gottgläubigen‘ Kirchenkämpfer Rosenbergs zum ,christgläubigen‘ Pfarrer Niemöllers“ (erschienen in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Heft 11/2006, Metropol-Verlag, Berlin), erweitert ihn aber um eigene Spekulationen um die Person Niemöllers, die zum Widerspruch herausfordern. Wir dokumentieren den Artikel aus der Frankfurter Rundschau vom 19.01.07 und die Erwiderung von Martin Stöhr. 

Warum machte Niemöller einen Nazi zum Pfarrer?

Der Theologe und Widerstandskämpfer Martin Niemöller holte 1949 einen verurteilten Nazi in die evangelische Kirche von Hessen und Nassau. Das hat ein Berliner Historiker herausgefunden. Doch warum tat Niemöller das?

Von W. Weissgerber (Darmstadt, epd)

Auf Martin Niemöller, einer der führenden Köpfe des evangelischen Widerstands gegen Hitler, fällt ein Schatten: Nach Forschungen des Berliner Historikers Manfred Gailus hat das damalige Oberhaupt der jungen hessen-nassauischen Kirche 1949 einen rechtskräftig verurteilten Nazi-Verbrecher quasi im Alleingang zum Pfarrer gemacht. Wie Gailus darlegt, war der NS-Ideologe Matthes Ziegler (1911-1992) als „politische Allzweckwaffe“ am Kampf gegen den „alten Glauben“ des Christentums und an der Propaganda des Nationalsozialismus maßgeblich beteiligt. Warum Niemöller diesen Mann in den Dienst der Kirche holte, ist Historiker Gailus, einem Experten für Protestantismus in der NS-Zeit, ein Rätsel. Nach Recherchen des Evangelischen Pressedienstes (epd) war Niemöller Ziegler möglicherweise einen Gefallen schuldig. Gailus beschreibt die „wunderbare Wandlung“ des zielstrebigen Nazis im Novemberheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Niemöller habe ihn wohl als „nicht ganz unbelehrbar“ eingeschätzt und zudem als Katholizismus-Experten gebrauchen können, so Gailus.

Matthäus Johannes Ziegler, 1911 in Nürnberg geboren, promoviert nach einigen Semestern Theologie in „nordischer“ Volkskunde über „Die Frau im Märchen“.  Seinen Vornamen ändert er in Matthes, weil das nordischer klingt. 1931 tritt er der NSDAP bei, 1933 der SS. Schon als Student fällt Ziegler mit seiner Aufsatzsammlung „Kirche und Reich im Ringen der jungen Generation“ auf. Er schwadroniert darin über „herrisches, adeliges Blut“, über „nordisches Seelentum“ oder das Hakenkreuz „als Lebenssymbol, das den Tod überwindet“ und macht so im Nazireich schnell Karriere.Hitlers Chefideologe Alfred Rosenberg überträgt ihm 1934 die Schriftleitung der Nationalsozialistischen Monatshefte, 1939 auch der neuen Zeitschrift Deutsche Volkskunde. Sein Frontbrevier „Soldatenglaube – Soldatenehre“ wird hunderttausendfach verbreitet. 1940 schließt sich Ziegler der Waffen-SS an und macht im Rang eines Obersturmbannführers Kriegspropaganda.  Im Mai 1945 gerät er in Gefangenschaft und wird als „Kenntnisverbrecher“ zu vier Monaten Haft verurteilt, worauf er sich nach Einschätzung des Historikers Gailus „neu erfand“ und „nicht ungeschickt in die postnationalsozialistische Zeit einzufädeln verstand“.  Nachdem die bayerische Kirche Ziegler abgewiesen hat, vermittelt ihn ein Pfarrer, dem er im Internierungslager begegnet ist, an Niemöller. Der lässt den abgebrochenen Theologiestudenten sogleich zum Examen zu.1950 wird Ziegler Pfarrassistent in Rimbach/Odenwald, muss nach Spannungen mit der Gemeinde jedoch 1955 gehen. Aus dem Konfessionskundlichen Institut Bensheim wird er nach einem Jahr wegen Chef-Allüren entfernt, versucht sich in Frankfurt kurz als Religionslehrer, um 1956 eine Pfarrstelle im südhessischen Langen zu übernehmen. Bald sitzt Ziegler in der Landessynode und schreibt für evangelische Medien, auch für epd. Nach der Pensionierung 1976 zieht Ziegler nach Oberbayern, wo er 1992 stirbt.Manche Gemeindemitglieder erinnern sich an ihn als „ordentlichen Pfarrer“. Seine Vergangenheit habe man vage gekannt, aber nicht thematisiert. Die frühere Frankfurter Pröpstin Helga Trösken erlebte ihn indes als junge Kollegin in einer Langener Nachbargemeinde und ärgerte sich über seine „faschistoiden Methoden“. Wegen ihres Eintretens für Kriegsdienstverweigerer hätten sie und andere junge Pfarrer ständig Streit mit Ziegler gehabt. Wie sehr er in die Nazi-Verbrechen verstrickt gewesen war, habe sie damals aber nicht geahnt, sagt Trösken heute.

Dankesschuld als mögliches Motiv

Auch der Kirchenleitung dämmerte das erst später. „Halten Sie möglichst still, dann halten auch wir still“, resümiert Gailus einen Schriftwechsel der Kirchenleitung mit ihrem braunen Pfarrer. Sie habe 1949 „nicht genau hingesehen, wen sie da einstellte“, glaubt der Forscher Gailus. Akten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau lassen „keine Beweggründe für Niemöllers Handeln erkennen“, sagt ihr Zentralarchivleiter Holger Bogs. Kirchen-Sprecher Joachim Schmidt erklärt: „Fest steht, dass Matthes Ziegler seinen Lebenslauf verbrämt, seine Verantwortung bagatellisiert und Martin Niemöller getäuscht hat.“Als Erklärung reiche das jedoch nicht aus. Einen Hinweis geben vielleicht die Protokolle der Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg. Dort wird der Nazi-Chefideologe Rosenberg über Niemöller befragt. Er erklärt, ein Dr. Ziegler aus seinem Stab sei als Beobachter zugegen gewesen, als der Pfarrer 1938 vor Gericht stand. Aus Zieglers Bericht gehe hervor, dass die Vorwürfe gegen Niemöller vornehmlich auf Missverständnissen beruhten. Diesen Bericht habe Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess dem Führer vorgetragen. Daraufhin habe Hitler veranlasst, dass sein „persönlicher Gefangener“ mit den ersehnten Zigarren versorgt wurde. Hat Niemöller also mit Zieglers Einstellung auch eine Dankesschuld beglichen? Dem Historiker Gailus war diese Episode der Beziehung Niemöllers zu Ziegler bisher nicht bekannt.
Wolfgang Weissgerber, epd
Der Aufsatz von Manfred Gailus „Vom ,gottgläubigen‘ Kirchenkämpfer Rosenbergs zum ,christgläubigen‘ Pfarrer Niemöllers“ erschien in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (Heft 11/2006), Metropol-Verlag, Berlin.

 

Stellungnahme:

„Zu spät, zu unpolitisch, zu wenig“

Auf Niemöller, „einen der führenden Köpfe des evangelischen Widerstandes gegen Hitler, fällt ein Schatten“, so W. Weissgerber im Zusammenhang mit der Einstellung des verurteilten NS-Ideologen Ziegler.

Einen solchen Satz kann nur schreiben, wer die Schatten nicht ernst nimmt, die Niemöller selbstkritisch auf seinen eigenen Widerstand gegen den Nationalsozialismus legt. Sie lassen sich zusammenfassen in den Worten „zu spät, zu unpolitisch, zu wenig“. Oder, so bei seinem ersten offiziellen Auftritt in der EKD im Sommer 1945: „Nein, die eigentliche Schuld liegt auf der Kirche…. sie hat unser Volk nicht gewarnt, sie hat das geschehene Unrecht nicht aufgedeckt oder erst, wenn es zu spät war. Und hier trägt die Bekennende Kirche ein besonders großes Maß an Schuld, denn sie sah am klarsten, was vor sich ging…Das haben wir unserem Volk und der Christenheit zu sagen, dass wir nicht als die Frommen und Gerechten vor ihnen stehen, dass wir vielmehr schuldig sind…Wir haben jetzt nicht die Nazis anzuklagen, die finden schon ihre Kläger und Richter, wir haben allein uns selber anzuklagen.“ In dieser selbstkritischen Haltung liegt das von Niemöller initiierte Stuttgarter Schuldbekenntnis der EKD (mit den Unterschriften seines Freundes Gustav Heinemann, von Bischof Wurm u.a.) ebenso begründet wie sein christliches und politisches Engagement nach 1945. Niemöllers Ablehnung der Entnazifizierungspraxis, die die „Großen laufen ließ…“ (siehe Globke, Oberländer, Polizei, Justiz und Verwaltung), hat denselben Grund. Im Fall Ziegler kommt noch hinzu, dass dieser sowohl seine Nazikarriere verschwieg bzw.  sich selbst „neu erfand“ und vor allem bußfertig zu einem Neuanfang bereit schien. Eine Gesinnungsprüfung steht außerhalb der Kompetenz einer evangelischen Kirche. Dass es ein Fehler war, einen solchen Zeitgenossen einzustellen und ihn zu decken, als später sein Lebenslauf (wie bruchstückhaft auch immer) bekannt wurde, bleibt unbestritten.

Infam ist die Spekulation, dass Niemöller wegen einiger Zigarren in einer Dankesschuld gegenüber Ziegler gewesen sei – infam,  weil auch mit jenem Dreck gespielt wird, von dem immer etwas hängen bleiben wird und soll. Deswegen werden Alfred Rosenberg und Rudolf Hess zu Kronzeugen gemacht und eine Weissgerbersche Vermutung als „Recherche des Evangelischen Pressediensts (epd)“ geadelt. Die beiden Nazis wollten sich im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess weißwaschen. Deshalb erklärten sie die Anklage gegen Niemöller zu einem „Missverständnis“ und sich sowie Hitler zu „Zigarrenspendern“! Es gibt genügend Belege, dass der katholische Kollege und Mitglieder der Bekennenden Kirche immer wieder versuchten, in die Untersuchungshaft in Moabit 1937/38 Lebensmittel, auch Zigarren, zu bringen, was gelegentlich gelang. Dann folgten vier Jahre Isolierhaft im KZ Sachsenhausen und drei Jahre Sonderhaft in Dachau. Hitler: „Der Pfaffe soll sitzen bis er schwarz wird!“. Hitler hatte Niemöller als Pfarrer bei einem Empfang in der Reichskanzlei 1934 erlebt, der als einziger ihm ins Gesicht widersprach. Er wollte ihn, als seinen „persönlichen Gefangenen“, wie Dietrich Bonhoeffer, im April 1945 auf einem Transport nach Süden ermorden lassen, was ein Wehrmachtstrupp verhinderte, der ihn aus den Händen der SS befreite.
Wer Niemöller einen solchen schäbigen deal „Zigarren 1938 gegen Job 1949“ unterstellt, kennt seine Geradheit bis hin zur Schroffheit nicht und unterliegt außerdem dem Aberglauben, Niemöller hätte im Alleingang, ohne Kirchenleitung, Personalreferat und Verwaltung, solche Beschlüsse fassen können.

Nein, hier wird ein heute beliebtes Spiel gespielt.  Motive für nie geleugnete Mitentscheidungen eines „Prominenten“ werden auf den Markt geworfen, um ihn und sein Lebenswerk zu diskreditieren.

Prof. Dr. Martin Stöhr, Bad Vilbel
Vorsitzender der Martin-Niemöller-Stiftung