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Rede von Ingrid Rumpf* zur Verleihung der Julius-Rumpf-Preises in Wetzlar am 18. 06. 2016
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Julius Rumpf, der Namensgeber unserer Stiftung, war mein Schwiegervater, leider habe ich ihn nicht mehr erlebt und kann deswegen nicht wirklich lebendig von ihm erzählen. Er war protestantischer Pfarrer im Widerstand gegen ein Unrechtsregime, er war, soviel habe ich aus Erzählungen verstanden, so etwas wie protestantisches Urgestein, und als solcher hatte er natürlich die Geschichten der Bibel verinnerlicht und aus ihnen vielleicht auch die Kraft zum Widerstand geschöpft. In diese Tradition mich einfügend, möchte ich Ihnen heute eine biblische Geschichte nacherzählen: Die wunderbare Liebesgeschichte von Boas und Ruth aus der jüdischen Bibel, dem sog. Alten Testament.
Da ist zunächst das jüdische Ehepaar Elimelech und Noemi mit ihren beiden Söhnen. Sie verlassen ihre Heimat Juda, weil sie in existenzieller Not sind, es geht also um Wirtschaftsflüchtlinge; sie wandern ein in das Land der Moabiter. Die Söhne heiraten dort moabitische Frauen, der biblische Erzähler hat offenbar kein Problem damit. Nach dem Tod des Mannes und der beiden Söhne beschließt Noemi nach Juda zurück zu kehren, die Wirtschaftslage dort hat sich gebessert; vielleicht will sie auch einfach ihre alten Tage in der vertrauten Heimat verbringen. Eine ihrer Schwiegertöchter mit Namen Ruth geht mit ihr in das fremde Land. Sie will die alte Frau nicht alleinlassen: einer muss sich ja kümmern in Zeiten ohne Rentenversicherung und Sozialstationen. So ziehen die beiden Frauen denn nach Juda; für Ruth, die Schwiegertochter mit Migrationshintergrund, sicher keine leichte Entscheidung. Sie muss beide mit ihrer Hände Arbeit durchbringen. Sie geht zur Erntezeit auf das Feld eines reichen Bauern mit Namen Boas, um ganz bescheiden, sorgfältig auf Abstand zu den Schnittern bedacht, das aufzulesen, was da aus den Getreidebündeln herausgefallen ist – gebückt und demütig.
Und nun bahnt sich das Wunder an: der reiche Bauer macht gleich am nächsten Morgen einen freundlich gemeinten Kontrollbesuch auf dem Feld. Er sieht Ruth und erkennt sie sofort als Fremde. Er erkundigt sich bei den Schnittern nach – nach was genau? – nach ihrer Herkunft und ihren Lebensumständen, eben nach ihrem „Migrationshintergrund“. Er hört sich die Geschichte an und ist beeindruckt: was hat die alles aufgegeben, um die Schwiegermutter nicht allein zu lassen! Er gibt dann die Anweisung, diese Fremde nahe heran kommen zu lassen, ruhig mal einige Halme für sie extra liegen zu lassen und sie zur gemeinsamen Brotzeit mit den Festangestellten einzuladen. Sie soll dazu gehören, mit den Einheimischen essen und feiern. – Nebenbei gesagt, es kann ja sein, dass hier Liebe auf den ersten Blick mit im Spiel war, denn später treffen sich die beiden noch öfter, und es gibt ein happy end, sie werden ein Paar. Sie rangieren dann in der Ahnenreihe Jesu, so will es die Legende. Die Erzählungen der Bibel und anderer heiliger Bücher sind immer auch Teil einer Heils- und Segensgeschichte.
Zwei Fragen stellen sich mir beim Nachdenken über diese Erzählung: Zum Einen: Was ist ein „Migrationshintergrund“, was ist die unsichtbare Tiefe hinter dem Menschen, der uns als Zugewanderter, als Fremder begegnet? Das ist seine Lebens- und Herkunftsgeschichte, eine Erzählung von Heimat und Familienbanden, von Liebe, Leid und Opfer, von Zerstörung und Tod. Wir würden die Empathie eines Boas brauchen, um diese Tiefen auszuloten, die in der bürokratischen Sprache „Migrationshintergrund“ genannt wird. Wir sollten sie manchmal zu erfahren suchen wie Boas. Zum Anderen: Was hat der da seinen Festangestellten zugemutet? Sie sollen ab und zu unkorrekterweise ein paar Halme aus den Garben herausziehen und einfach so unauffällig fallen lasen, damit Ruth auch etwas findet. Sie sollen sie nahe herankommen lassen. Ährenleser wurden auf Abstand gehalten. Sie waren gesellschaftlich nahe am Bettel eingeordnet, sie wurden misstrauisch beobachtet, ob sie auch nicht aus den Ährenbündeln etwas klauten. Diese Demütigung soll Ruth erspart bleiben. Sie soll dazugehören, nahe herankommen und sich freuen dürfen über die reiche Ausbeute.
Wenn ein Realpolitiker hört, was ich hier sage und anrate, so wird er leicht ironisch für sich denken: Nun ja, wieder dieses Gutmenschentum. Leider sind wir Politiker nicht so frei wie diese Privatleute, die brauchen nicht unsere Rücksichten zu nehmen, die haben keine Ahnung! – Ich versuch mal, doch etwas Ahnung zu haben: Ja es stimmt. Die Politiker sind weniger frei in ihrem Handeln, sie müssen tausend Rücksichten nehmen. Frau Merkel, Francois Hollande, und all die anderen europäischen Staatschefs haben auf die Meinungsströmungen in ihrem Land Rücksicht zu nehmen, auf den nächsten Wahlkampf zu schauen, sie müssen über die Folgekosten nachdenken und über die Entwicklung am Wohnungs- und Arbeitsmarkt – alles andere wäre unverantwortlich. Dabei mischen sich dann leider auch manch unschöne Gedanken ein, manch weniger edles Element des Machtkampfes mit populistischen Spielchen. Uns freie Bürger widert das gelegentlich an. Aber sich einfach abzuwenden, alle zu verdammen, bringt nichts für unser Problem. Wir Bürger müssen Signale setzen durch unser Handeln und unsere Willensäußerungen im öffentlichen Raum, durch die öffentlich gestellten Fragen des Boas. Wir müssen versuchen das gesellschaftliche Klima zu verändern, den Sumpf der dumpfen Ängste auszutrocknen. Dabei sollte man so realistisch wie möglich die Probleme beschreiben und doch Hoffnung machen im Sinne von „Wir schaffen das!“
Was mich an der Arbeit der Initiative hier in Wetzlar, die heute den Julius-Rumpf-Preis bekommt, beeindruckt hat, ist eben dieses einfache, wir tun das, „wir schaffen das“ mit Augenmaß und organisatorischer Klugheit: Woraus man lernen kann, das die sog. Gutmenschen nicht einer minder intelligenten und minder realistischen Spezies angehören. Die Initiatoren eines solch umfassenden sozialen Projektes setzen nicht nur Zeichen der harmlosen Art, wie z. B. ein abendliches Zusammenstehen mit Kerzenlichtern. Sie arbeiten hart, mit Umsicht, Organisationstalent und Einfühlungsvermögen, mit einem umfassenden Entwurf für ein menschliches Miteinander. Auf diese Weise setzt man Maßstäbe, die bis in die politische Ebene Auswirkungen haben können, und zwar in die Breite einer neuen Bewusstseinsbildung und in die Höhe der politischen Entscheidungsfindung. Was mich daran besonders beeindruckt hat, ist das erfolgreiche Bemühen, eine Stadtgesellschaft als Ganzes zu begreifen und mitten drin Begegnungsorte zu schaffen, bei denen jeder, ob einheimisch oder zugewandert, dazu gehört, Orte, an denen Vorurteile überwunden und Herkunft als interessante Geschichte erlebt werden kann. Dass auch die verschiednen Konfessionen und Religionen sich zu gemeinsamem Handeln abstimmen, ist wunderbar, aber eigentlich ganz natürlich – was denn sonst?
Zum Schluss noch eine kleine Anekdote aus dem Leben des deutschen Großpolitikers Otto von Bismarck: Er war ja ein frommer Christ, einer mit Bekehrungserlebnis und täglicher Bibellektüre. Seine Politik dagegen war bekanntlich durch eine gewisse Rücksichtslosigkeit und einen ziemlich bedenkenlosen Realismus geprägt. Als er eines Tages gefragt wurde, wie er es denn mit der Bergpredigt halte, antwortete er spontan, dass man natürlich mit der Bergpredigt keine Politik machen könne. Dann fügte er jedoch hinzu: „Aber auch nicht ohne sie.“ Wie hat er das gemeint: Politik gehe nicht ohne die Bergpredigt? Ich wage eine Interpretation: Die Bergpredigt ist die Utopie des Reiches Gottes, das immer schon im Kommen ist. Sie gibt Maßstäbe, denen wir uns annähern können, oder besser, sie setzt Maßstäbe, denen wir uns nicht entziehen können, sie ist und bleibt ein Stachel im Fleisch auch der Entscheider in der Politik. Dass diese Maßstäbe im Bewusstsein bleiben – es könnte sein, dass wir dafür verantwortlich sind.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
* Ingrid Rumpf stiftete gemeinsam mit ihrem verstorbenen Ehemann Dr. Günther Rumpf den Julius-Rumpf-Preis.