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„Wachsam an der ganz privaten, kleinen Front“ (2005)

von Sebastian Krumbiegel

Sebastian Krumbiegel von der Gruppe „Die Prinzen“ hielt die Laudatio bei der Verleihung des Julius-Rumpf-Preises 2005 an die „Aktion Zivilcourage Pirna“ 

ich bin in leipzig geboren, in sachsen, dem bundesland, in dem die rechtsextreme NPD im landtag sitzt.

manchmal merke ich, wie mich ein gefühl der scham beschleicht, wenn ich darüber nachdenke, und ich frage mich, wie es soweit kommen konnte.

lange zeit wurde das thema „rechtsradikalismus in deutschland“ verharmlost und totgeschwiegen,

lange wurden rechtsradikale übergriffe als „schlägereien unter jugendlichen“ abgetan,

lange zeit haben zu viele leute weggeschaut oder sogar zugesehen, wenn dinge passiert sind, die nie mehr hätten passieren dürfen in diesem, unserem land, das genau durch  diese fatale ideologie die welt in die größte katastrophe geführt hat.

viel zu lange wurde das problem von der großen politik vielleicht auch schlichtweg unterschätzt, was widerum zeigt, dass es keine lösung ist, sich auf „die da oben“ zu verlassen, was beweist, dass sich jeder vernünftig denkende mensch auf seinen gesunden menschenverstand verlassen sollte, wenn er merkt, dass da was schief läuft.

Als kind habe ich mit meiner großmutter sehr viel über die nazizeit geredet, und ich konnte mir die frage nach dem „und was habt ihr dagegen getan“ nicht verkneifen.

mittlerweile müssen wir uns diese frage selbst gefallen lassen.

wenn ich sehe, wie 60 jahre nach kriegsende neue nazis durch deutsche städte marschieren, wenn ich von national befreiten zonen in brandenburg oder mecklenburg-vorpommern höre, oder allein von der existenz der mittlerweile vom verfassungsschutz verbotenen „skinheads sächsische schweiz“, dann weiß ich, dass etwas faul ist im staate deutschland.

und wenn ich dann in talkshows verantwortungslose politiker von etablierten, demokratischen parteien populistisch über deutsche leitkultur reden höre, dann verstehe ich langsam, wie es dazu kommen konnte, dass eine partei wie die npd in sachsen mit regiert. Wie heißt deren devise?

Zuerst die köpfe, dann die straßen, dann die parlamente.

natürlich sind wir alle, die wir hier sitzen in unserer meinung gefestigt, wir sind uns einig, dass wir dagegen angehen müssen, wir wissen, dass rechtsradikalismus, antisemitismus, rassismus, fremdenfeindlichkeit und gewalt gegen anders denkende falsch und menschenverachtend sind.

die frage ist nur, wie wir das denen klar machen, die an dieser stelle schwanken und genau deshalb den rattenfängern mit den rechten gedanken auf den leim gehen.

natürlich geht es um kommunikation, natürlich geht es um aufklärung, um bildung, um erziehung, denn die weichen zur ausbildung einer persönlichkeit werden sehr früh gestellt.

ich selbst habe mich diesem problem stellen müssen, nachdem ich im juni 2003 nachts in einem leipziger park von zwei dumpfen baseballschläger-nazis zusammengeschlagen wurde.

ich hatte lange daran zu kauen, will an dieser stelle aber bitte nicht jammern, denn ich bin nach all der angst in diesem augenblick, nach dem körperlichen schmerz und der seelischen paranoia an dieser geschichte gewachsen.

die sache ging damals groß durch die presse, natürlich auch deswegen, weil „der von den prinzen“ der betroffene war.

die beiden wurden schnell gefasst und,

weil wiederholungstäter, zu gefängnisstrafen verurteilt.

die oma eines der beiden jungen männer hat kontakt zu mir aufgenommen, sich für ihren enkel entschuldigt und das gespräch gesucht. ich habe sie zuhause besucht und sie erzählte mir von „ihrem jungen“, der früh von seinem alkoholkranken vater verlassen wurde, dessen mutter wenig zeit für ihn hatte, weil sie überfordert war, der wahre liebe und zuneigung wohl nur, wie sie sagte, bei seinen großeltern fand.

natürlich hat das soziale umfeld sehr viel mit der meinungsbildung und persönlichkeitsentwicklung zu tun.

um es abzukürzen: der junge tätowierte sich ein hakenkreuz auf den arm und wurde npd-mitglied.

keine frage – ich bin, und das war ich auch schon vor diesem vorfall vor 2 1/2 jahren, sehr offensiv und bekennend GEGEN NAZIS, bin mir allerdings auch dessen bewusst, dass es keine lösung ist, diese leute an den pranger zu stellen, immer mehr gefängnisse zu bauen und demonstrationen oder parteien zu verbieten.

es geht vielmehr darum, dafür zu sorgen, dass es gar nicht erst soweit kommt. es geht um aufklärung, um alternativen, um kulturelle angebote, gerade für junge leute. und es geht für jeden einzelnen darum, dazwischen zu gehen, wenn in der schule oder im laden an der ecke ein schwarzafrikaner seiner hautfarbe wegen angemacht wird, wenn ein türke oder ein kurde als „kanacke“ bezeichnet wird.

es geht darum, dass sich jeder an seiner ganz privaten, kleinen front wachsam mit diesem thema auseinandersetzt, und dabei ist es völlig egal, ob er lehrer oder taxifahrer ist, ob er arbeitslos, krankenschwester oder popsänger ist.

lasst uns eine kurze zeitreise in die vergangenheit machen.

„faschismus ist keine meinung, sondern ein verbrechen“

unter diesem motto fand genau heute vor 5 jahren hier in pirna eine demonstration statt.

hier in pirna, an der front, wo rechtsradikalismus eine allgegenwärtige bedrohung ist, ein thema, ein problem.

rund 800 demonstranten aus allen schichten der gesellschaft, von der oma bis zum punk demonstrierten friedlich gegen rechte gewalt.

der demonstrationszug wurde mehrfach von ungefähr 100 gewaltbereiten neonazis angegriffen.

es war eine friedliche, demokratisch angemeldete demonstration, und es ist nur der besonnenheit der demonstrierenden bürger zu verdanken, dass die situation nicht eskalierte, zumal die paar polizisten, die vor ort waren gnadenlos überfordert waren.

später flogen steine und flaschen, eine sanitäterin wurde verletzt, ich glaube, die anwesenden kennen die geschichte besser als ich, zumal viele von ihnen dabei waren.

eine handvoll leute haben damals diese demonstration organisiert, leute, die nicht mehr nur daneben stehen und tatenlos zusehen wollten, leute, die von vornherein den schulterschluss mit allen demokratischen parteien, den kirchen und gemeinnützigen vereinen gesucht haben.

leute, die mut bewiesen, sich einer vermeintlich etablierten rechten szene entgegen zu stellen.

es war auf jeden fall riskant, diesen aufruf zu formulieren und zu unterschreiben, sich so offen gegen den allgegenwärtigen gegner zu stellen, der dann den namen des unterzeichnenden kennt und in einer kleinstadt wie pirna auch schnell die adresse.

diese handvoll leute haben sich getraut, einen anfang zu machen, denn wenn einer sich traut, den bann zu brechen, dann folgen ihm viele nach.

das nennt man zivilcourage.

der name ist programm und die organisatoren dieser demonstration nannten sich „aktion zivilcourage pirna“.

sie haben dafür gesorgt, dass das thema „rechtsradikalismus und fremdenfeindlichkeit“ eine breite öffentlichkeit bekam.

sie haben dafür gesorgt, dass spätestens an diesem 4. november heute vor 5 jahren vielen bürgern die bedrohung durch rechtsextremisten sehr bewusst geworden ist.

die politik reagierte aufgrund dieser demonstration und der daraus resultierenden, für alle offensichtlichen, rechtsextremen übergriffe.

viele stadtparlamente der region und der kreistag verabschiedeten resolutionen gegen extremismus und gewalt.

heute vor 5 jahren wurden weichen in die richtige richtung gestellt, denn seitdem ist viel passiert.

die „aktion zivilcourage pirna“ hat verschiedene projekte ins leben gerufen.

so zum beispiel die lesereihe „lesen gegen das vergessen“, die sich vor allem mit der geschichte der nazizeit, dem schicksal der juden in deutschland, den gräueltaten der ss und dem leben und überleben in den vernichtungslagern der nazis auseinandersetzt.

es fanden und finden verschiedene projektschulstunden zum thema gewalt, rechtsextremismus und rassismus statt, fahrten in die ehemaligen konzentrationslager theresienstadt und buchenwald, aktionswochen gegen antisemitismus, die aktion „das sieht verboten aus“ wendet sich vor allem an lehrer und sozialarbeiter, die oft auch überfordert sind in der argumentation gegen und dem umgang mit rechtsradikalen symbolen, zeichen und tendenzen.

nicht zu vergessen die vielen verschiedenen musikalischen angebote, newcomerfestivals, oldiefestivals, die monatliche reihe „cannabeats“ oder heute abend „SKAnnabeats“ mit reggae und ska-musik aus tschechien und deutschland im pirnaer jugendhaus HANNO

ich könnte jetzt noch viel mehr aufzählen. alles ist nachzulesen auf der sehr informativen und liebevoll gestalteten website

www.zivilcourage-pirna.de

finanziert wird die „aktion zivilcourage“ im übrigen durch spenden, teilweise von stiftungen oder anderen institutionen  und neuerdings auch durch öffentliche mittel.

die rot-grüne bundesregierung hat seit einiger zeit einen etat für präventivmaßnahmen gegen rechtsradikalismus und fremdenfeindlichkeit, den einige einflussreiche konservative bundespolitiker leider für überflüssig halten.

was daraus in zukunft werden wird, steht bei der derzeitigen politischen situation in den sternen, umso mehr freue ich mich, den mit 7500 euro dotierten „julius rumpf preis“ 2005 in die richtigen hände zu geben.

eigentlich singe ich lieber, als zu reden.

wenn ich jetzt singen würde, dann würde ich jetzt noch nicht aufhören wollen, dann würde ich noch eine ganze weile weitermachen.

das wäre fatal, weil ich weiß, dass einige hier im saal irgendwann so unhöflich sein müssten, mir ihre aufmerksamkeit zu entziehen.

natürlich geht es um die preisträger, die heute noch viel vorhaben – SKAnnabeats, der tschechisch-deutsche bandaustausch im HANNO sollte nicht ohne seine initiatoren stattfinden…

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