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„Sie tragen die Last der Hoffnungen“ (2004)

Von Rupert Neudeck

Rupert Neudeck

Laudatio für das „Behandlungszentrum für Folteropfer Ulm“

am 24. April 2004 in Wiesbaden 

 

Eine Welt, in der Marter, Zerstörung und Tod triumphieren, kann nicht bestehen, das ist offenbar. Aber es schert sich der Sadist nicht um den Fortbestand der Welt. Im Gegenteil: Er will diese Welt aufheben, und er will in der Negation des Mitmenschen, der für ihn auch in einem ganz bestimmten Sinne die „Hölle“ ist, seine eigene totale Souveränität wirklich machen.

„Solcherart wird die Folter zur totalen Umstülpung der Sozialwelt. In dieser können wir ja nur leben, wenn wir auch dem Mitmenschen das Leben gewähren, die Ausdehnungslust unseres Ichs zügeln, sein Leiden lindern. In der Welt der Tortur aber besteht der Mensch nur dadurch, daß er den anderen vor sich zuschanden macht.“

Ich zitiere hier denjenigen, über den ich von der Realität der Folter zuallererst gehört und gelernt habe, bevor ich sie selbst an Menschen wahrnehmen konnte in der Realität von Raum und Zeit. Jean Amery war gefoltert worden. In Breendonk in Belgien – nachdem er im Juli 1943 dort von der Gestapo verhaftet wurde. Wegen der Flugzettel-Affäre. Die Gruppe, der er, Amery, angehörte, war eine kleine deutschsprachige Organisation innerhalb der belgischen Widerstandsbewegung. Diese Gruppe bemühte sich um Propaganda unter den Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht. Von dieser Propaganda bildeten sich diese Resistants ein, es können die Deutschen vom grausamen Wahnwitz Hitlers und seines Krieges überzeugen. 

„Ein schwacher Druck mit der werkzeugbewehrten Hand reicht aus, den anderen samt seinem Kopf, in dem vielleicht Kant und Hegel und alle neun Symphonien aufbewahrt sind, zum schrill quäkenden Schlachtferkel zu machen“.

Die Folter in Breendonk, wohin 1943 Jean Amery wegen eines Flugblatts kam, in dem etwas stand von „Tod den SS Banditen und den Gestapohenkern!“ – griffen wenn sie von der Quälerei müde waren, zur Zigarette.

Man wird die Folter lebenslang nie mehr los. Wie die Frauen die Erfahrungen der Vergewaltigung, über die wir so wenig in Deutschland gesprochen haben. Das hat Jean Amery schon immer wieder zu Lebzeiten gesagt. „Es ist wie eine Vergewaltigung, ein Sexualakt ohne das Einverständnis des einen der beiden Partner.“ (Jenseits von Schuld und Sühne, Bewältigungsversuche eines Überwältigten, S. 52) Die körperliche Überwältigung setzt auch bei der Vergewaltigung den Foltermechanismus frei. Ein existentieller Vernichtungsvollzug ist es, in dem keine Hilfe zu erwarten ist.

Zwei Erwartungen, die jeder Mensch hat und in sich trägt, ganz gleich woher er kommt, wie gebildet und ausgebildet er ist, sei er Alphabet oder Analphabet, Tutsi oder Hutu – immer ja jeder Menschen die Erwartung in der Katastrophe des Völkermordes und der Tortur, daß Hilfe kommt. „Die Hilfeerwartung, Hilfsgewißheit geht ja in der Tat zu den Fundamentalerfahrungen des Menschen und wohl auch des Tieres“. Krapotkin sprach von der gegenseitigen Hilfe in der Natur und Konrad Lorenz ebenfalls. Selbst auf dem Schlachtfeld finden ja die Rotkreuzambulanzen zu den Verletzten, sogar im Kriegsgebiet um Fallujah.

Aber: „Mit dem ersten Schlag der Polizeifaust, gegen den es keine Wehr geben kann, und den keine heilende Hand parieren wird, endet ein Teil unseres Lebens und ist niemals wieder zu erwecken.“ (a.a.O. 53)

Menschen, das wissen die Mitglieder der heute hier ausgezeichneten Initiative besser als wir alle, die wir uns nur zu ihrem Lobe versammelt haben, Menschen, die einmal gefoltert wurden, werden nie wieder das Weltvertrauen und den Glauben an die Menschheit so wiedererlangen, wie das jedem Menschen eigentlich gegönnt werden sollte. Jean Amery hat es uns gesagt – und sie haben aus den Kriegen in Bosnien, in Argentinien, in Chile, Afghanistan, in Kroatien, in Tschetschenien immer wieder ähnliche Erfahrungen: „Ich baumele immer noch , zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden, keuche und bezichtige mich. Da gibt es kein Verdrängen. Verdrängt man denn ein Feuermal? Man mag es vom kosmetischen Chirurgen wegoperieren lassen, aber die an seine Stelle verpflanzte Haut ist nicht die Haut, in der einem Menschen wohl sein kann.“

Die Mitglieder der Initiative aus Ulm haben sich gewappnet und bewehrt, es ist gut so, denn auch als derjenige, der hilft, darf man sich nicht von dieser Realität ganz unterkriegen lassen. Ich habe mich lernend als Student seinerzeit an dem Satz berauscht, der mir anthropologisch und erkenntniskritisch wie man so schön hilflos sagt – richtig und logisch erschien.

Auch die Folter, auch die Quälerei, auch das Quälen von anderen Menschen, auch der Terrorismus auch der 11. September sind menschlich. Menschlich ist all das, was Menschen machen können. Aber die Erkenntnis hat mit der Welt, in die wir dann eintreten wenig zu tun. Das schaudern um fängt uns.

„Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen. Daß der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen. Darüber blickt niemand hinaus in eine Welt, in der Welt das Prinzip Hoffnung herrscht“ (a.a.S.70)

Die beiden großen Errungenschaften der Menschheit verblassen gegen das Erleben von nur einem meiner Mitmenschen, an dem der Völker- und Menschenmord und an dem die Folter durchgeführt wurde. Beide Konventionen sind dennoch die größten Errungenschaften und Menschenrechtserfolge der Menschheitsgeschichte. Wir müssen sie allerdings durchsetzen, sie müssen dann genannt werden, wenn sie verletzt werden. Wir haben ja erfahren, in diesen Tagen vor 10 Jahren: Ein Konvention besteht, die Genozid Konvention, aber sie wird nicht eingesetzt. Manchmal besteht es schon darin, daß ein Wort ausgebrochen wird. VÖLKERMORD.

Oder wie in dem Fall heute: Folter. Torture. Tortur. Von torquere = verrenken. Das Wort muß dann denen gegenüber ausgesprochen werden. und jemand, der je in einem solchen Umstand gewesen ist, daß er das getan hat, dem muß für alle Lebenszeit das Amt und die Befugnis entzogen werden.,

Wer gemartert wurde, ist waffenlos der Angst ausgeliefert. Sie ist es, die fürderhin über ihn das Zepter schwingt. „Sie und das was man die ressentiments nennt. Die beiden und haben kaum die Chance, sich in schäumend reinigendem Rachedurst zu verdichten.“

Das war mir immer wichtig zu erfahren und zu erleben und dann weiterzugeben. Wir müssen die Rache für das, was Menschen in der Folter und im Völkermord geschieht, verstehen als ein menschliches Bedürfnis. Als etwas, was wir nur deshalb nicht verstehen wollen, weil wir nie in die Gefahr kommen gefoltert zu werden, oder einen Genozid Massaker zu entkommen.

Rache ist ein menschliches Bedürfnis. Es wirkt auf mich übermenschlich, wenn jemand in Angesicht des Täters, der ihn folterte oder schlug, noch darauf kommen kann, ihn zu schonen.

KERATERM und ein Trost-Aphorismus von Franz Kafka

Aber nun hat jeder, der in solche Situationen kommt, dem Folter angedroht wird, wie derjenige, der wirklich die Folterwerkzeuge angelegt bekommt und der darunter wie ein Berserker zu brüllen beginnt, – Hoffnung und Erwartung. Diese Ur-Hoffnung des Menschen auf die Mitmenschen, dieses Ur Vertrauen auf die Menschheit, die sich ja in den Menschenrechten nur noch mal eine moderne Stimme gegeben hat, die wirkt, geistert, schwärt weiter in uns. In einem der erschütterndsten Bücher über eine der serbischen Folterlager mit Namen Keraterm, von dem ich damals dachte bei der Buchmesse 1994, es würde die Bestseller Listen ganz schnell erobern, heißt es:

Im Kapitel XVII. Die gefangenen Muslime haben schon so furchtbar viel an Willkür der serbischen Aufseher mitgemacht. Von Tag zu Tag wird der Terror größer, schreibt Muhidin Saric: „Und je weniger wir uns unserer physischen Existenz sicher sein können, desto mehr meldet sich in uns der geistige Trieb, der uns überleben hilft.“

Jeden Tag von Mund zu Mund „langsam aber hartnäckig, verbreiten sich die Gerüchte vom Vormarsch unserer Armee, von der Ankunft der UNPROFOR in den Lagern, von der Hilfe Europas und Amerikas, um sich diesem Cetnik Übel in den Weg zu stellen“.

Es ist Morgen in dieser Folterlager, der Geruch von Urin und Scheiße und von Leichen liegt über diesem Lager, weil es keine vernünftigen und ausreichenden Toiletten gibt. Aber der Tag über den Kazarac Bergen beginnt mit einer unglaublichen Natur-Verheißung. Die Sonne strahlt hoch über den Bergen, die Wärme dringt durch jede Pore in den Körper. Muhidin Saric:

„Meine Gedanken irren meiner Familie nach. Ich träume von einem gemeinsamen Mittagessen, wo wir alle versammelt sind, wo es genug zu essen und kaltes Bier gibt. In meiner Phantasie esse und trinke ich mich satt.“

Dann kommt der wahnsinnige Moment. Jemand berührt den Muhidin Saric an der Schulter.

Sieh dort, sagt er und zeigt aus dem Folterlager auf die Straße:

„Auf der Straße kommt ein weißer Landrover näher. Schräg vorne flattert eine blaue Fahne. In der Mitte treten zwei große blaue Buchstaben hervor: UN“.

Das ist die Welthoffnung Nummer eins. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Sturmwind im Lager. Und während der Wagen hinter der Kurve Orlovci aus dem Blick gerät, sind alle Gefangenen auf den Beinen und recken die Hälse, um die beiden wunderbaren  blauen Buchstaben auf dem weißen Auto zu sehen, die statt Leben Tod versprechen.“Noch nicht weiter, die Hoffnung unter denen, die die Hölle der Folter der Demütigung und der Mißhandlung erleben, wird riesengroß, braut sich zu einem Jubelsturm zusammen. Sie sind da! Wer? Die Menschenretter natürlich. „Spontaner Applaus bricht in der Begeisterung an.“

Die Wächter sind überrascht und treiben uns in die Schlafräume.

Muhidin Saric erzählt es, er hat es mir noch mal in der Koje des Drava Verlages erzählt: Die Gefangenen waren so fest davon überzeugt, daß diese Vertreter der mächtigsten Weltgemeinschaft da sind, um ihnen die Menschenwürde zurückzugeben, sie zu retten. “Bis tief in die Nacht erzählen sich die Gefangenen die schönsten Geschichten. Auch in mir meldet sich eine Spur Hoffnung“.

Was sie nicht wissen?! Die UNO ist da nur vorbeigekommen. Sie soll den gleichen Abstand zu Sarajevo und Banja Luka halten. Die sind an den Foltercamps, an Auschwitz vorbeigefahren, wie seinerzeit das IKRK an den Vernichtungslagern der NAZIS. Am Tage darauf geht das Folter, Quälen weiter. Jemand wird verrückt. Ein durchdringender Schmerzensschrei. Jemand trampelt über die Leute, rennt zur Tür, dort beginnt er nach links und rechts zu laufen. Er atmet tief im Rhythmus des Gehens. Zwei versuchen ihn zu greifen und zurückzuhalten“, zwei Mitgefangenen, denn sie wissen, was mit ihm passiert.

„Nervenzusammenbruch, sagt jemand.

Im nächsten Augenblick schlägt er mit aller Kraft gegen die Tür. Der Schlag hallt wider wie ein Gong. Ein Flügel bewegt sich. „Er rennt in den Hof hinaus. Es ist ein trauriger Anblick. Die Wächter stürzen auf ihn zu und fangen ihn ein. Sie schlagen ihn lange und unbarmherzig. Halbtot bringen sie ihn zurück und werfen ihn in den Schlafraum.“

Fikret, ein bosnischer Muslim. Muhidin Saric sagt nur noch: „Bei seinem Anblick wünsche ich mir entweder Tod oder Leben, und daß dieses dumpfe Modern im Morast aus Haß und Nazismus aufhören möge.“

Ja, solche Gebete hören die Mitglieder der Ulmer Initiative ja immer wieder. Sie tragen die Last  der Hoffnungen, die ein Mensch tiefinnerlich nie aufgibt. Sie tragen die enttäuschten Hoffnungen derer, denen das Vertrauen in Gott und die Menschheit zerschlagen und kaputtgehauen sind. Sie sind dazu da und das ist Ihr Adel und deshalb zeichnen wir sie heute aus, daß sie diesen Menschen mit allem was sie medizinisch, analytisch, therapeutisch tun, einen kleinen Teil Ihrer Würde zurückgeben.

Mir kommt es so vor, als würden sie wie der derjenige sein, den einer der größten Schriftsteller und Menschen in einem Fragment beschrieben hat, das ich ihnen vorlesen möchte. Der Schriftsteller und Mensch war Franz Kafka.

„Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leiden scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet aus der alten Zelle, die man haßt, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird.

Ein REST von GLAUBEN wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der HERR durch den Gang kommen den Gefangenen ansehen und sagen: „Diesen da sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu MIR!“

(zit. nach Franz Kafka, Er, Bibliothek Suhrkamp Frankfurt 1966, S. 196)

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