Von Martin Stöhr
Rede anlässlich der Verleihung des 2. Julius-Rumpf-Preises an den Flüchtlingsrat Brandenburg
am 7. 9. 2001
1.
Unser Grundgesetz treibt unsere Demokratie ständig an, sich zu verbessern. Das ist nötig, nicht nur weil die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten massiv steigt, sondern vor allem damit Minderheiten in unserem Land ohne Angst und ohne Ausgrenzung leben können.
Die Kastration des Art. 16 „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ beschädigt durch seine Drittstaatenregelung, durch die Verkürzung der Rechtswege und durch die Weigerung, die illegal hier Lebenden nach dem Vorbild anderer Demokratien zu legalisieren, den Art.1 GG „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Die Erfahrungen von Flüchtlingen hierzulande erwecken bei ihnen und bei vielen Deutschen den Eindruck, als sei nur die Würde von Deutschen unantastbar.
Eines der reichsten Länder der Welt schreibt sich in seiner Verfassung selbst vor, dass das „Eigentum sozialpflichtig“ sei. Gleichzeitig weigert sich Deutschland, die von allen Bundesregierungen versprochenen 0,8 % des BSP als Entwicklungshilfe zu zahlen, wie es nur die Skandinavischen und Benelux-Länder tun. Diese Verweigerung vergrößert die Flüchtlingsströme.
Mit dem reichen Europa vermeidet Deutschland peinlicherweise, die Frage zu untersuchen, ob die Armut anderswo mit unserem Reichtum zusammenhängt oder wie die Ursachen der Flucht von Menschen durch eine Gerechtigkeits- und Friedenspolitik vermindert werden können. Die von den reichen Industrieländern empfohlenen Modelle des puren ökonomischen Wachstums machen die Reichen reicher und die Armen ärmer, wie jeder Bericht der UNO bestätigt.
2.
Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms hat noch kein Gen für Gerechtigkeit und Verantwortung zutage gefördert. Also sind wir darauf angewiesen, dass es Gruppen und Menschen gibt, die dafür auch keine genetische Ausstattung haben, wohl aber ein sensibles Gewissen. Martin Niemöller, Julius Rumpf, der letztjährige Preisträger, die Ev. Gemeinde Joachimsthal, und der Flüchtlingsrat Brandenburg gehören dazu. Das führt uns heute zusammen.
Der Flüchtlingsrat gehört zu den Globalisierungsbefürwortern, die Verantwortung, Menschenrechte und Gerechtigkeit für Menschen weltweit denken und dementsprechend zu Hause handeln. Solche Gruppen sind Verfassungsorgane. Sie füllen die Verfassung mit Leben und das Leben von Flüchtlingen mit Hoffnung und Menschenwürde. Sie prüfen kritisch die faktische Verfassung des Landes an der geschriebenen Verfassung und ihrer Grundlage, den Menschenrechten.
Eine Demokratie zeichnet sich durch Schutz und gleiche Rechte für Minderheiten aus und nicht nur durch den Vollzug des Mehrheitswillens. Eine Demokratie braucht eine Lobby für die Lobby-losen.
3.
Der französische Jurist Alexis de Tocqueville, nach der Wende zur Demokratie 1848 in Frankreich, für kurze Zeit Außenminister, bereiste vor 170 Jahren die USA, eine der klassischen Demokratien. Seine scharfsinnige Kritik hält auch die beste Demokratie für bedroht, also zu verbessern. Er schreibt, was er kommen sieht, wenn das Volk nicht aufpasst, wohin die Macht geht, die von ihm, dem Souverän, ausgeht. Wird der Macht nur ein Ausgang, aber weder Teilhabe noch Kontrolle gewährt, dann wird sie – da sie kein herrenloses Gut ist – schnell von denen genommen, die über muskulöse Arme, handfeste Interessen, gefüllte Kassen und entsprechende Apparate und Medien verfügen:
„Ich will entwerfen unter welchen neuen Zügen der Despotismus sich in der Welt einstellen könnte: Ich sehe eine unübersehbare Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selber drehen, um sich kleine und gewöhnliche Freuden zu verschaffen, die ihr Herz ausfüllen. Jeder von ihnen ist, ganz auf sich zurückgezogen dem Schicksal aller anderen gegenüber wie unbeteiligt….Was seine übrigen Mitbürger angeht, so ist er zwar bei ihnen, aber er sieht sie nicht….“.
Tocqueville spricht nicht von Diktaturen, von denen wir in Deutschland zwei erlebten, wenn er schreibt, dass eine solche Demokratie „nicht den Willen bricht, sondern schwächt, beugt und leitet. Sie zwingt selten zum Handeln, steht vielmehr dem Handeln im Weg…Sie tyrannisiert nicht …sondern schwächt und bringt jede Nation schließlich dahin, dass sie nur noch eine Herde passiver und geschäftiger Tiere ist, deren Hirte die Regierung ist. Ich bin immer der Überzeugung gewesen, dass diese Art einer geregelten, milden und friedlichen Knechtschaft… sich mit einigen äußeren Formen der Freiheit besser verbinden könnte, als man denkt, und dass es ihr nicht unmöglich wäre, sich sogar im Schatten der Volkssouveränität niederzulassen“. An einer solchen Untertänigkeit oben und unten verdorrt die Demokratie. Es bleiben Bürokratie, Unterhaltung und Gleichgültigkeit gegenüber den schwächsten Mitgliedern einer Gesellschaft, den Flüchtlingen.
4.
Die zuschlagen, jagen, treten , zündeln – sie meinen umzusetzen, was allzu viele denken:
Wir haben zu viele Ausländer – denken allzu viele. Das sind doch Dumme-Jungen-Streiche, jeder redet einmal über „Kanaken“ oder „Neger“ – denken allzu viele. Unsere Stadt, unser Dorf darf nicht ins Gerede kommen wegen einer sog. Ausländerfeindlichkeit, also ‚runterspielen – denken allzu viele. Die Kriminalität unter Ausländern ist besonders hoch – denken allzu viele. Die paar Glatzen brauchte man nur weg zu sperren, – denken viele. Wir brauchen härtere Gesetze – denken allzu viele. Deutsche Arbeit für Deutsche – denken allzu viele. Intellektuelle sagen wissenschaftlich gestelzt, moderner „Ethnopluralismus“ verlange, dass jede Kultur rein nur in ihrem Kontext leben könne, also Afrika den Afrikanern, Deutschland den Deutschen – denken allzu viele. Im Wahlkampf müssen wir über unsere „nationale Identität als Deutsche“ reden – denken allzu viel. Die Ausländer sind das Problem – denken allzu viele und bescheinigen sich und der Mehrheitsgesellschaft so bequem eine lockere Problemlosigkeit. Wir haben zu prüfen, welche Ausländer wir als nützliche gebrauchen können und nicht, dass Flüchtlinge uns brauchen – denken allzu viele. Uns hat auch niemand etwas geschenkt – denken allzu viele. Wir brauchen endlich ein Ausländergesetz, um die Ausländer zu integrieren – denken allzu viele und meinen doch nur, die Zuwanderung einzudämmen. Wir sind doch nicht für das Elend der ganzen Welt zuständig – denken allzu viele. Solche Gedanken setzen die Schläger und Zündler um.
5.
Als Heinrich Heine aus Frankreich, das ihm Asyl und Anerkennung vor der Verfolgung in Deutschland gewährt hatte, wieder einmal nach Deutschland kommen, aber dort nicht bleiben darf, beschreibt er in „Deutschland – ein Wintermärchen“ einen „vermummten Gast“. der ihn hierzulande auf Tritt und Schritt verfolgt. Peinlich ist ihm, dass er immer dann auftaucht, wenn große Worte tönen wie – so denke ich heute – „Globalisierung“, „Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land“ oder „Weltoffenheit“ und dergleichen Slogans mehr. Heine spricht den unbekannten Störungsfaktor an:
„Ich treffe dich immer in der Stund,
wo Weltgefühle mir sprießen
in meiner Brust und durch das Hirn
die Geistesblitze schießen“.
Der stumme Gast bleibt nicht stumm:
„Ich bin von praktischer Natur,
und immer schweigsam und ruhig.
Doch wisse: Was du ersonnen im Geist,
das führe ich aus, das tu ich.
Du bist der Richter, der Büttel bin ich,
und mit dem Gehorsam des Knechtes
vollstreck ich das Urteil, das du gefällt,
und sei es ein ungerechtes.
Ich bin der Liktor, und ich geh
beständig mit dem blanken
Richtbeile hinter dir her- ich bin
die Tat von deinen Gedanken“.
Es gibt in unserem Land ein gedankenloses Denken, das Gewalt freisetzt, weil es die Menschen nicht kennenlernen will in den Abschiebehaftanstalten, in den Asylbewerber-Unterkünften, in der Nachbarschaft, auf der Straße, in der entwürdigenden Illegalität, in der rettenden Legitimität des Kirchenasyls, in der Schlange auf dem Ausländeramt – kurz, da wo sie leben und hoffen, das man ihnen zuhört und sie Aufnahme und Schutz finden. Pflichtbesuche als Praktikum von Ministern und Parlamentariern, Beamtem und Pfarrern, Professoren und Medienleuten lassen sich offensichtlich schwieriger beschließen als Ausweisungsregelungen. Obwohl unser Grundgesetz sagt, dass „die Würde des Menschen unantastbar ist“, also nicht nur die der Deutschen, obwohl es in dem selben Artikel heisst, „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, sieht die Wirklichkeit allzu häufig anders aus. Entgegen dem Bundessozialhilfegesetz werden durch das Sachleistungsprinzip Gruppen unter den AusländerInnen aus der sozialrechtlichen Versorgung des im Grundgesetz verankerten Sozialstaats Bundesrepublik ausgeschlossen. Residenzpflicht baut Mauern gegen die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen zur selben Zeit, als die Schande des Mauerbaus mit Recht angeklagt und der Fall der Mauer zu Recht gefeiert wird. Familienzusammenführung wird klein, Abschottung groß geschrieben.
6.
Der Flüchtlingsrat Brandenburg und andere Initiativen finden sich damit nicht ab. Deshalb macht die Martin-Niemöller-Stiftung mit dem Julius-Rumpf-Preis auf sie aufmerksam. Lese ich ihre Berichte z.B. über den „Denkzettel“, der am internationalen Tag gegen Rassismus für „strukturellen Rassismus in Behörden und Ämtern“ verliehen wird, oder das Heft „Tatort Schreibtisch“ zur ganz gewöhnlichen Ausländererniedrigung in deutschen Amtsstuben, so muss ich sagen, dass hier jene humane und deshalb aufmüpfige Demokratie eingeübt wird, dass hier jene politische Willensbildung geschieht, an der die Parteien auch mitwirken, die aber Sache aller BürgerInnen ist.
Lobby für Lobbylose zu sein – das ist Aufgabe und Ehrentitel für die wache Mühsal der Menschlichkeit, die den Flüchtlingsrat und seinen Förderkreis auszeichnet. Am Sitz der Bundesregierung sind mehrere Tausend Lobbyisten der Industrie und Verbände aktiv; sie füllen ein prachtvolles Opernhaus. Der Flüchtlingsrat füllt bloß einen Container, wie er zur Aufbewahrung von Flüchtlingen hier und da dient Er antichambriert nicht für das eigene Unternehmen, sondern ist Anwalt für die, deren Leben erniedrigt, gefährdet oder gefoltert ist:
- verfolgt von Hunger, den eine undemokratische Weltwirtschaftsordnung fördert, indem sie für Geld, Waren und Menschen aus den reichen Ländern Grenzen öffnet und nur dies als Globalisierung preist;
- verfolgt vom Krieg, für den unser Land gemeinsam mit den fünf Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrates die Oligarchie auch der Waffenlieferanten stellt,
- verfolgt von Gewalt und Korruption, die wahrhaftig nicht nur in der sog. Dritten Welt ihre Bestecher und Bestochenen kennt.
Die Martin-Niemöller-Stiftung, die Stifter des Julius-Rumpf-Preises und die Empfänger dieses Preises, der mit 10.000.- DM zur Stärkung der Flüchtlingsarbeit verbunden ist, sind überzeugt, dass die Globalisierung von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Frieden erst in den Anfängen steckt. Wir danken denen, die hier zu Lande angefangen haben und suchen jene, die mitmachen.