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Am Anfang war die Angst

Von Eberhard Rumpf

Dr.med. Eberhard Rumpf, li: Ingrid RumpfAnlässlich der Verleihung des 3. Julius Rumpf-Preis 2002 an das „Netzwerk Sachsen“ im Rathaus Dresden am 30.11.2002 sprach Dr. Eberhard Rumpf im zweiten Teil seiner Rede über die Angst als Auslöser und Ziel rechtsextremistischer Gewalt. Foto: Dr.med. Eberhard Rumpf, li: Ingrid Rumpf

„(…..) In der Präambel der Julius-Rumpf-Stiftung steht u. a.: „Im Zentrum der Botschaft Jesu stehen das Liebes- und Versöhnungsgebot, die Gewaltlosigkeit und das Erbarmen mit den Schwachen, Leidenden und Ausgegrenzten.“ Das Wort Erbarmen ist unvertraut geworden. Die Worte Solidarität oder Brüderlichkeit, auch aus der Mode gekommen, kommen dem Gemeinten am nächsten. Zielscheibe und Opfer rechter Gewalt sind Ausländer bestimmter Herkunft (es heißt zwar „Ausländer raus“, aber gemeint sind längst nicht alle Nationalitäten), nämlich diejenigen, die am leichtesten als „Fremde“ zu etikettieren sind; dann natürlich Juden, aber auch Arbeitslose und so genannte „Linke“, schließlich sogar Jugendliche, die einfach nur die falsche Hose tragen oder sonstwie falsch aussehen. Entweder sind diese Personen oder Gruppen schon Schwache, Leidende und Ausgegrenzte, oder sie werden es durch die rechte Gewalttätigkeit. Spätestens dann beherrscht Angst die Opfer: wenn sie bedroht, gejagt, angegriffen und misshandelt werden. Und die Angst soll herrschen; das ist eine der beiden zentralen Absichten der Täter; die andere ist Zerstörung. Angst soll auch bei allen anderen entstehen, die nicht zur Täterwelt gehören; und sie entsteht immer. Diese Wirkung von Gewalt funktioniert absolut sicher. Deswegen lässt sich damit so gut drohen und gefügig machen. 

Bei diesem Geschehen ist nicht sichtbar, dass auch die Täter von Angst angetrieben werden. Sie haben aber einen bestimmten Weg gefunden, die eigene Angst zu neutralisieren. Sie ersetzen sie durch ihr spiegelbildliches Gegenstück: die angsterregende Gewalt. Wie geht das? Wenn Menschen als Kinder in ihrer relativen Machtlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit, angewiesen auf die Erwachsenen, angegriffen werden oder sich in kindlicher Not allein gelassen fühlen, bekommen sie Angst. Nach der Angst entsteht über einige Zwischenstufen Zorn oder Wut auf die, die solches zuließen. Ein unterscheidender Umstand ist dabei besonders wichtig: Diese Art Angriff oder Verrat sind auf das Kind gerichtet und willkürlich; der handelnde Erwachsene zeigte sich verantwortungslos, obwohl er hätte Verantwortung übernehmen können. Wenn sich solche Erfahrungen häufen, muss das Kind innerseelische Wege und Hilfsmittel entwickeln, die Angst und die Wut auszuhalten und zu beherrschen. Angst hält man aus, indem man sich gefühllos macht; das hilft gleichzeitig auch Schmerzen auszuhalten, sowohl körperliche wie seelische. Bekannt ist dieser Selbstschutzmechanismus schon lange. Mit der Entwicklung der modernen Traumaforschung verstehen wir ihn aber besser. Die Wut wird verdrängt, zusammen mit der Enttäuschung und der Traurigkeit über das Erlebte und über die in ihrer Schutzfunktion versagenden Erwachsenen. Sie werden tief ins Unbewusste gedrückt und gewissermaßen eingekerkert. Dort wird die Wut zum Hass und gebiert Rachewünsche.

Das Kind hat inzwischen gelernt, dass es solche Gefühle und Impulse nicht offen zeigen darf, sonst erlebt es aufs neue direkte oder indirekte Bestrafung und Unterwerfung unter die Macht der Erwachsenen. Also muss es diese Gefühle beherrschen, bis es Orte und Zeiten findet, wo dieses explosive Gemisch sich Luft machen kann. Je besser sich eine Situation oder soziale Konstellation als Aufhänger für die Entlastung von solchen Affekten eignet, um so gerechtfertigter fühlt sich derjenige dann in seinem Wüten. Die rechtsradikale Ideologie ist ein guter Gedeihboden für solche Bedürfnisse. Aber natürlich nicht nur die rechtsradikale, sondern jede andere ideologisch strukturierte Gedankenwelt auch. Ideologisch heißt hier besonders: Vereinfachend. Menschen versuchen, die Komplexität der Welt und des Lebens zu vereinfachen, weil sich dann unser Erklärungs- und Ordnungsbedürfnis leichter befriedigen läßt. Je weniger ein Kind durch ein liebevolles und menschlich reichhaltiges Entwicklungsmilieu differenzierte Wahrnehmungen und Antworten lernen konnte, um so mehr ist seine spätere Welt in einfachen Mustern des Erlebens, Denkens und Fühlens strukturiert. Im Extrem gibt es dann nur noch entweder/oder, Macht/Ohnmacht, gut/böse, schwarz/weiß. Das hat übrigens nichts mit der Intelligenz zu tun, aber sehr viel mit Bildung und eben der Entwicklung des Gefühlslebens. Auf den Zusammenhang zwischen Bildung und Weltoffenheit gegenüber Fremdenfeindlichkeit hatte schon Renan Demirkan, die Festrednerin bei der Verleihung des ersten Julius-Rumpf-Preises 2000 hingewiesen und sich dabei auf die erste Berliner Rede des Bundespräsidenten bezogen.

Die Angsterfahrungen des unterworfenen und gedemütigten Kindes haben eine weitere schwerwiegende Auswirkung: „Wenn mir keiner hilft, muss ich mir selber helfen! Ich muss versuchen der Stärkere zu sein!“ Das wird dann zur Ideologie derjenigen, die zu Rambos werden. Das ist nicht zufällig das beherrschende Thema der meisten Actionfilme. Diese Rambos tun sich dann zusammen, um der Feindeswelt der Machthaber und Nutznießer die Stirn zu bieten, selbstüberheblich und fanatisch schwarz/weiß strukturiert. Endlich können sie das Gefühl haben, oben statt unten zu sein. Die ursprüngliche Angst ist aber als verleugnete immer dabei. Deswegen werden die Racheimpulse in feiger Form ausgelebt:  aus der Sicherheit der Gruppe oder eines Verstecks heraus, und indem man nach unten tritt, auf den nächst Schwächeren.

Wenn Kinder in einer grundsätzlich annehmenden, liebevollen und respektvollen Atmosphäre sich entwickeln können, haben ihre Gefühle Bewegungsfreiheit und werden nicht zwischen Schwarz/Weiß-Blöcken eingeklemmt. Sie werden auch Angst erleben – das ist nicht zu verhindern, aber nicht in der Art und dem Ausmaß, wie es unter den oben skizzierten Bedrohungs-Bedingungen geschieht.

Ich muss aber bei dem Gesagten auch vor Vereinfachung warnen. In der Kürze der Zeit kann ich nur Grundlinien aufzeigen. Menschliche Entwicklung ist aber etwas ungeheuer Kompliziertes. Es wirken so viele Faktoren, dass wir sie vollständig nie überblicken und auch nachträglich nicht rekonstruieren können. Warum der eine gedemütigte und geängstigte Mensch rechtsradikal wird, der andere mit parallelen Erfahrungen aber nicht, sondern vielleicht das schüchterne Gegenteil davon, können wir im Letzten meist nicht aufklären. Aber weil es so komplex ist, können wir zusätzliche, auf die Entwicklung Einfluss nehmende Faktoren ins Spiel bringen. Und genau dies tun die im Netzwerk Sachsen tätigen Menschen, wenn sie mit gefährdeten Jugendlichen und deren Eltern sprechen oder Erzieher und andere an der Entwicklung von Kindern beteiligten Menschen aufklären und bewegen, rechtsradikalen Strömungen entgegen zu wirken. Sich um die Entwicklung und die Gefährdung der Jugend zu kümmern, liegt ganz auf der Linie von Julius Rumpf und ist ein höchst wichtiger Ansatz.

Noch eins ist wichtig: Sich um Verstehen zu bemühen heißt, Zusammenhänge zu erkennen. In den Naturwissenschaften ist das selbstverständlich, da es  dem technischen Fortschritt dient. In menschlichen Angelegenheiten heißt verstehen, Fremdes weniger fremd zu machen. Der große Psychologe Erich Fromm sagte:“Wer vom anderen weiß, wird ihn nicht ausbeuten oder erschlagen.“ Das Verstehen ermöglicht uns, aus dem Rache-Teufelskreis auszusteigen. Wir müssen nicht mehr zurückschlagen, um Gerechtigkeit zu schaffen. Das aber heißt nicht, den Täter gewähren zu lassen! Das wäre ein Missverständnis und in mehrfacher Hinsicht grundfalsch. Es ist notwendig, gegenüber unrechtem Tun die rechten Grenzen aufzurichten und zu halten. Dafür braucht es das Bewusstsein des Rechten im menschlichen Sinn; das ist das Gegenteil von rechtem Tun im politischen Sinn! Rechtsradikale zerstören nicht nur Leben, sondern vergiften auch die Sprache –  auch die müssen wir verteidigen! Es braucht weiter den Mut oder die Zivilcourage, trotz und mit der eigenen Angst zu helfen, solidarisch und brüderlich zu sein, Drohungen Stand zu halten; wie Julius Rumpf. Auch damit sind Herr Blech und seine Mitstreiter schon konfrontiert worden.

Wir brauchen die Angst als Helfer. Gewalttäter jeglicher Art werden oder sind es, weil sie die eigene Angst mit Gewalt zum Schweigen gebracht haben und immer wieder neu umbringen müssen. Das gilt im übrigen auch für Handeln auf der politischen Ebene. Wie Julius Rumpf mit seiner Angst umgegangen ist, weiß ich nicht. Durch Zeugnisse ist aber überliefert, dass er furchtlos war. Ihm half dabei seine Überzeugtheit und seine Sicherheit im Glauben. Wer diese Quelle nicht nutzen kann, muss andere Quellen finden, um mit der eigenen Angst, aber mit weniger Furcht dem Bedrohlichen standhalten und entgegentreten zu können und den Bedrohten brüderlich und schwesterlich beistehen zu können.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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