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Wieso eigentlich Dahlem – wieso eigentlich Niemöller? Eckpunkte einer Diskussion über den deutschen evangelischen Kirchenkampf

 von Heinz Hermann Niemöller

Im Rahmen des Ökumenischen Kirchentags 2003 in Berlin hielt der Sohn Martin Niemöllers, Dr. Heinz Hermann Niemöller, in der St. Annen – Kirche in Dahlem den Vortrag, den wir nachfolgend dokumentieren.

Vertieft man sich heute, über einen Zeitabstand von nun fast sieben Jahrzehnten hinweg, in die vertrackten Einzelheiten des evangelischen „Kirchenkampfes“ in den Jahren der Naziherrschaft, also von 1933 bis 1945, so erlebt man manche Überraschung. Es tauchen plötzlich Details auf, die man früher nicht wusste oder einfach nicht beachtet hatte, und die dem Betrachter von heute helfen, das Gesamtbild des evangelisch-kirchlichen Widerstandes genauer ins Auge zu fassen. Wir haben in den vergangenen Jahren ja einige recht unterschiedliche historische „Bewertungen“ dieser Vorgänge erleben müssen, die meist in eine mehr oder minder ausgeprägte Relativierung des ganzen Komplexes zu münden scheinen. Am weitesten ist da wohl ein Historiker namens Joachim Mehlhausen gegangen, der den Begriff „Kirchenkampf“ überhaupt für untauglich erklärt, was er mit der zwar kühnen, aber trotzdem unrichtigen These zu stützen versucht, es habe nur in dem einen Jahr 1933 – 1934 in der evangelischen Kirche eine Auseinandersetzung um Bekenntnisstand, Leitung und Ordnung der Kirche gegeben.

Dieser Wissenschaftler schlägt nun vor, den Begriff „Kirchenkampf“ durch die Wortverbindung „Nationalsozialismus und Kirchen“ zu ersetzen, wobei er gänzlich übersieht, dass es bei den Auseinander­setzungen dieser Zeit um weit mehr ging als nur um den Widerstand gegen den Nazismus als politischer Kraft! – Oder: sollten wir vielleicht sagen, dass es eigentlich um „weniger“ ging, und dass die evangelischen Landeskirchen zunächst nur das Ziel verfolgten, mit dem Nationalsozialismus friedlich auszukommen, und dass sie peinlichst vermieden haben, ihren Widerstand auf die politische Ebene übergreifen zu lassen? – Dieser Vorwurf ist ja immer wieder gemacht worden und ist – in gewissen Grenzen ­ sogar berechtigt. Vergessen wir indessen nicht, dass ein Haus von außen betrachtet anders aussieht als von innen, und dass die Innenansicht letztlich das Entscheidende ist. Es ist ja das Elend der gegenwärtigen kirchenhistorischen Wissenschaft, sie meint, von einem „sicheren“ Außenstandpunkt den Gang der Geschichte möglichst vorurteilsfrei und möglichst monokausal bewerten zu können – eine Illusion, wie sich immer wieder gezeigt hat.

Nun, wir können von Glück sagen, dass man die Tatsache des evangelischen Kirchenkampfes bisher noch nicht völlig hat leugnen können, ja sogar, dass innerhalb der evangelischen Kirche das Bewusstsein für die Geschehnisse dieser Geschichtsperiode immer lebendig geblieben ist. Dabei ist es keineswegs so, dass die historischen „Innenansichten“ der evangelischen Kirchenchristen etwa unkritisch oder gar verherrlichend ausfallen, aber auf jeden Fall differenzierter und kenntnisreicher. Da es keine echten Zeitzeugen mehr unter uns gibt, sind wir mehr und mehr auf die­jenigen angewiesen, die wenigstens schon wach genug waren, um zu spüren, um was es damals ging, und die sich bemüht haben, die Vorteile zu nutzen, die sich durch die Veröffentlichungen der unmittelbaren Nachkriegszeit für ein tieferes Verständnis der zum Teil sehr komplizierten Vorgänge boten.

Halten wir also fest: Den „Kirchenkampf“ hat es tatsächlich gegeben! Wir tun gut daran, uns hier in Dahlem, wo einer seiner Brennpunkte lag, an seine Prüfungen wie an seine Bewahrungen, auch an seine Exponenten – positiver wie negativer Art – zu erinnern.

Die evangelische Kirche von Hessen und Nassau, der Martin Niemöller von 1947 bis 1964 als Kirchenpräsident vorstand, hat anlässlich seines 100. Geburtstages (1992) eine Festschrift herausgebracht, in der ein Lebensbild des früheren Dahlemer Pfarrers gezeichnet wird, unter Berücksichtigung der kirchlichen und politischen Zeitumstände. Diese Schrift trägt den Titel: „Protestant – Das Jahrhundert des Pastors Martin Niemöller“; sie ist auch jetzt noch lesenswert und enthält neben wichtigen Fakten auch einige wenig bekannte Details. Kommt es allerdings zu bewertenden Aussagen über den evangelischen Kirchenkampf, so gewinnt man den Eindruck, als seien auch wichtige Dinge ausgeblendet worden. Dadurch kommt einer der Autoren, Matthias Benad, zu so merkwürdigen Einschätzungen, wie das nachfolgende Zitat erweist. Auf Seite 170 der Festschrift schreibt er:

„Betrachtet man die G e s a m t h e i t des deutschen Protestantismus (Sperrung von mir), zu dem auch die DC-geleiteten Landeskirchen zu zählen sind, ist meines Erachtens Clemens Vollnhals beizupflichten, der zum Verhältnis von Kirche und totalitärem Staat in den Jahren 1933-1945 bemerkt: ‚Der Kirchenkampf ist nicht die Geschichte des heroischen Widerstandes der Kirche um des christlichen Bekenntnisses willen, der vereinzelt von Pfarrern und Laien geleistet wurde, sondern die Geschichte eines zähen Ringens um die Behauptung ihrer Autonomie und ihrer traditionellen Stellung in Staat und Gesellschaft‘ “

Diese Einschätzung des Kirchenkampfes muss von allen, die die Sache der Bekennenden Kirche von ehedem noch in Erinnerung haben, als eine schlichte Ungeheuerlichkeit und diffamierende Geschichts-Verfälschung empfunden werden, und ich stehe nicht an, Ihnen zu erklären, warum.

Erstens:

Das Wort „heroisch“ (so Vollnhals) ist auch von den exponiertesten Vertretern des kirchlichen Widerstandes nicht benutzt worden; es dient in diesem Kontext eher dazu, die ehrliche Sache der Bekennenden Kirche herabzusetzen.

Zweitens:

Hier wird von einer „Gesamtheit“ des deutschen Protestantismus gesprochen, unter ausdrücklichem Einschluss der von den Deutschen Christen angeführten Landeskirchen. Eine solche „Gesamtheit“ hat es aber – dank der Existenz einer Bekennenden Kirche – nie gegeben, und ihre Postulierung durch Vollnhals empfinde ich als einen glatten Verstoß gegen kirchen­geschichtliche Wahrheit wie auch als verbalen Verrat an der guten und gerechten Sache, für die die Pfarrer und Laien des kirchlichen Widerstandes in ganz Deutschland eingetreten sind. Auch die Behauptung von Vollnhals, die seien nur „Vereinzelte“ gewesen, ist falsch und irreführend, jederzeit leicht durch zuverlässige Zeitzeugnisse zu widerlegen! In Wirklichkeit war es – nach meiner zuverlässigen Erinnerung – nach der Barmer Synode doch überall im Lande eine erkennbare Tatsache, dass es zwischen den DC-geführten Landeskirchen, aber auch zwischen DC-dominierten Gemeinden und Bekenntnisgemeinden keine Gemeinschaft mehr gab.

Dies blieb auch so, bis zum Ende der Naziherrschart. Was die große, aber nicht eben als „widerständig“ zu bezeichnende neutrale Mittelgruppe der DEK betraf (die von unserer Seite gerne als „BDM“ – Bund der Mitte – verhöhnt wurde), so konnte auch diese nicht in Anspruch nehmen, die Gesamtheit der evangelischen Kirche zu repräsentieren, nachdem diese Kräfte nicht nur mit den Resten der Deutschen Christen, sondern eben auch mit dem inzwischen klar als verbrecherisch hervorgetretenen nationalsozialistischen Regime ihren schändlichen Burgfrieden geschlossen hatten. Dies manifestiert sich wohl am deutlichsten an den verschiedenen, von NS-Patriotismus geradezu triefenden Segenswünschen für die kriegsbesoffenen NS-Machthaber durch den sog. „Geistlichen Vertrauensrat“ der Deutschen Evangelischen Kirche unter der Leitung des Landesbischofs der Ev.-Luther. Kirche Hannover, August Marahrens. Selbst ein Mann wie Hans Meiser, der sich ja nominell auch der Bekennenden Kirche zurechnete, protegierte in seiner bayerischen Landeskirche viele DC-Pfarrer, um der NS-Regierung willfährig zu sein, und verstand dessen ungeachtet seine Kirche als „intakt“.

Drittens:

Es kann von keinem ernsthaften Kenner der damaligen Konflikte infrage gestellt werden, dass unter den verschiedenen Gruppierungen der Evangelischen Kirche nur die „Mittelgruppe“ um Marahrens, Meiser und Wurm, dazu auch die Kirchenausschüsse (soweit sie noch bestanden) für die „Autonomie und die traditio­nelle Stellung in Staat und Gesellschaft“ einzutreten versuchten, und sich dabei ziemlich bedenkenlos der Hilfe der DC-Kirchenoberen wie Dr. Werner vom EOK Berlin oder der NS-Bürokratie des NS-­Kirchenministers Hans Kerrl bedienten. Demgegenüber riskierten die Anhänger der Bekennenden Kirche Dahlemer Richtung ganz bewusst die „Autonomie und traditionelle Stellung“ der Kirche in Staat und Gesellschaft, indem sie – teils nur punktuell, teils aber auch ganz pauschal und allgemein – dem NS-Staat ihre Gefolgschaft verweigerten. Dass diese Leute, wenn sie Pfarrer waren, auch ihre wirtschaftliche, oft auch physische Existenz aufs Spiel setzten, dürfte allgemein bekannt sein. Wenn hier Vollnhals so tut, als sei der „Bund der Mitte“ repräsentativ für die Gesamtheit der evangelischen Kirche Deutschlands (die es, wie ich sagte, seit 1934 nicht mehr gab!), so ist das eine Beleidigung der gesamten Bekennenden Kirche von damals, ihrer vielen tapferen und mutigen Mitstreiter und der guten Sache, die sie gegen die Übermacht ihrer Gegner, aber auch gegen die unbeschreibliche Trägheit ihre sogenannten Freunde innerhalb der Kirche verfochten haben!

Viertens:

In der von mir zitierten Passage bezweifelt der Historiker Vollnhals, dass es der Kirche (oder was er wohl darunter versteht) um das „christliche Bekenntnis“ gegangen sei, oder (anders ausgedrückt), dass es der „repräsentativen Mehrheit“ dieser Kirche bei ihrem Ringen primär um das Bekennt­nis zu tun gewesen wäre. Auch diese Behauptung ist grundfalsch. Es ist hundertfach dokumentiert und inzwischen allgemeiner Wissensstand, dass sich die Auseinandersetzungen, die wir heute als „Kirchenkampf“ bezeichnen, in erster Linie an den Fragen nach Bibel und Bekenntnis entzündet haben. Es wurden nämlich wichtige Grundsätze aus Bibel und Bekenntnis durch die Forderung nach Einführung des „Arierparagraphen“ durch die Deutschen Christen verletzt. Es ist ja gerade ein fundamentaler Kritik­punkt an der Bekennenden Kirche gewesen, dass sie zu sehr auf diese Punkte beschränkt blieb, und darüber die Themen der allgemeinen Menschenrechte, sagen wir: der „Politik“, leider vernachlässigt hat, und wenn überhaupt, zu spät ins Auge gefasst hat.

 

Wenn ich hier die Bewertungen aus der Dissertation von Vollnhals (1986) so ausführlich behandelt habe, dann deshalb, weil sie eine Tendenz in der historischen Forschung aufzeigen, die bis heute anhält. Einige Fachleute sind bestrebt, die Verhält­nisse von einst mit den Maßstäben von heute zu analysieren und zu gewichten, wobei man oft feststellen muss, dass einige Historiker unserer Zeit nichts von Theologie verstehen, und dass Begriffe wie „Bibel“ oder „Bekenntnis“ für sie Fremdwörter sind. Mit der Relativierung, ja der Geringschätzung des kirchlichen Wider­standes geht parallel einher, dass man geschichtliche Figuren sucht (und findet!), die man zu „wahren“ Helden stilisieren kann, obwohl sie das keineswegs verdienen: Hier nenne ich die Namen von Georg Elser (der Attentäter vom 8. Nov. 1939), auch von Kurt Gerstein, den ich noch persönlich kennen lernte. Ich will mir ersparen, auf eine detaillierte Diskussion dieser beiden Sonderfälle einzugehen, und beschränke mich auf die Feststellung, dass es absurd ist, diese Schicksale ins Heroische zu überhöhen.

Wenn ich vorhin sagte, dass ein Haus, von außen betrachtet, anders aussieht als von innen, dann gilt wohl auch die Erfahrung, dass geschichtliche Prozesse aus kurzer zeitlicher Entfernung gesehen sich oft anders darstellen als später, aus größerem zeitlichen Abstand. Wenn ich versuche, von den damaligen Verhält­nissen zu berichten, muss ich berücksichtigen, dass ich zu Beginn des Kirchenkampfes erst neun Jahre alt war. Allerdings hat oft genug die Wucht der Konflikte, auch die Unmittelbarkeit ihrer Einwirkung auf die ganze Familie des Pfarrers dafür gesorgt, dass die Erinnerung über all die Jahre hinweg lebhaft blieb. An dieser besonderen Stelle mag denn auch der „Genius loci“ ein wenig dazu helfen, die Verhältnisse in derjenigen Perspektive zu sehen und wiederzugeben, in der sie sich damals präsentierten.

Es ist wohl Karl Barth gewesen, der bedeutende Schweizer Theologe, der einmal gesagt hat, dass „Kirchenkampf“ in beson­derer Weise durch den Weg der Gemeinde Dahlem und ihres Pfarrers Martin Niemöller dargestellt worden sei. Dies ist natürlich eine stark vereinfachte Sicht der Dinge, wohl mit dem Zweck, für die komplizierten Auseinandersetzungen um den Kurs der Kirche einen gemeinsamen Nenner zu finden. Aber richtig ist zweifellos, dass Dahlem ein besonderer Brennpunkt dieser Geschehnisse war. Warum gerade Dahlem? Es gab mehrere Gründe. Zum einen lag Dahlem in der Nähe des Regierungszentrums, der damaligen „Reichshauptstadt“; seine Bevölkerung bestand aus höheren Beamten, wohlhabenden Vertretern der Wirtschaft und Wissenschaft, der Bildungsstand war hoch. Der Vorort hatte sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus einem Dorf dynamisch, dabei planvoll entwickelt. Das kirch­liche Leben war von Anfang an lebhaft gewesen. Der Anteil von jüdischen Bürgern war relativ hoch. Dieser besondere Mix der Dahlemer Bevölkerung sorgte schon per se für eine gewisse geistige Wachheit und Beweglichkeit. Es heißt, dass in Dahlem schon vor 1933 immer überdurchschnittlich gepredigt worden sei, sowohl was die Qualität als auch die Quantität der Ansprachen betraf (so ein Bericht von Elsie Steck, geb. v. Stryk von 1963).

Für die ab Frühjahr 1933 beginnenden geistigen Auseinandersetzungen war die Kirchengemeinde in Dahlem entschieden besser gerüstet als die Durchschnittsgemeinden in Stadt und Land. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass auch vom Gros der evangelischen Kirchenchristen die sog. „Machtübernahme“ vom Januar 1933 zunächst begrüßt worden ist, z.T. sogar mit Enthusiasmus. Es muss aber auch erwähnt werden, dass sich bei vielen Christen, besonders auch bei vielen Pfarrern, doch schon bald erhebliche Bedenken und Sorgen verbreiteten, zumal die Deutschen Christen sich bereits 1932 formiert hatten und ihre politische Verbun­denheit mit den Nationalsozialisten ganz offen zur Schau trugen! – Bei meinen Eltern war der „Judenboykott“ vom 1. April 1933 ein erster Anlass zu – privater – Empörung, denn auch unsere Drogerie Ackermann war durch uniformierte Nazi-Burschen drang­saliert worden. Es ist sehr bemerkenswert, dass schon im April 1933 vom „Totalitätsanspruch“ des neuen Staates die Rede war (der reformierte Pfarrer Alfred De Quervain warnte seinen Kollegen Hermann Albert Hesse mit Erfolg vor Nachgiebigkeit gegenüber diesem Anspruch!). Dieser Begriff – erstmals geprägt von Benito Mussolini um 1920 – stammte bekanntlich nicht aus der Theologie, sondern aus der Politik und zeigt in sehr klarer Form, dass die Frontbildungen zwischen Kirche und Staat, wie auch innerhalb der Kirche, von Anfang an auch politischer Natur waren, trotz der Bejahung der Naziherrschaft in den ersten Jahren. Der Versuch der Deutschen Christen, die Bestimmungen des Gesetzes vom 7. April 1933, durch die alle Bürger jüdischer Herkunft aus dem Staats­dienst entfernt wurden, in Form des sog. „Arierparagraphen“ in der evangelischen Kirche durchzusetzen, war ein eminent politischer Gewalt­akt, sodass auch der Widerstand dagegen ein politischer genannt werden muss. Für die Kirche bedeutete die Forderung nach Entfer­nung aller kirchlicher Amtsträger jüdischer Herkunft aus dem Kirchendienst aber auch eine klare Verletzung der biblischen Lehre und der reformatorischen Bekenntnisse. Der sowohl unmensch­liche als auch widergöttliche Antisemitismus der Nationalsozia­listen zwang die evangelische Kirche dazu, sich auf ihre wahren Grundlagen zu besinnen und die nun ungeschminkte Fratze des Nazismus mehr und mehr zu erkennen. Aber es muss festgehalten werden: Es waren die Nationalsozialisten, die die Kirche in eine quasi „politische“ Position gedrängt haben.

Es ist leicht, aus unserer heutigen gesicherten Position heraus darüber zu urteilen, dass die Kirche, und hier meine ich gerade die Bekennende Kirche als ihr exponiertester Teil, zu manchem Unrecht geschwiegen hat, und nicht nur zum Unrecht, sondern auch zu den schlimmsten Verbrechen dieser dunklen Zeit unserer Geschichte. Das soll und darf nicht verniedlicht werden.

– In der Ankündigung unserer Erinnerungs-Stunde im Programm dieses Kirchentages wird die Frage gestellt, wie die Bekenntnis­gemeinde von Dahlem in der Nazizeit lebte. Die Antwort darauf fällt mir nicht leicht, trotz vieler lebhafter Erinnerungen an diese Zeit. Zu Beginn der kirchlichen Auseinandersetzungen gab es eine formierte „Bekennende Gemeinde“ noch nicht. Allerdings hatten sich die drei Pfarrer Röhricht, Müller und Niemöller sofort gegen die „Deutschen Christen“ gestellt, die sich schon 1932 organisiert hatten, um nach dem Vorbild der politischen „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten die Evangelische Kirche in toto zu übernehmen, wozu man erst einmal eine protes­tantische Einheits-Kirche schaffen‘ wollte, eine „Reichskirche“.

Dieser Block von ursprünglich 28 Landeskirchen sollte dann als echter Machtfaktor der Nazi der römisch-katholischen Kirche in Deutschland gegenübergestellt werden (so jedenfalls das Kalkül des Adolf Hitler!). Die von der NS-Führung angesetzte „Kirchenwahl“ vom 23. Juli 1933brachte nun überall in Deutschland breite Mehrheiten für die DC in den kirchlichen Körperschaften, das sind die Gemeindevertretungen und Synoden. In Dahlem allerdings erreichten die Nazi-Christen nur 42% der abgegebenen Stimmen und blieben damit deutlich in der Minderheit gegenüber den Stimmen, die für die Anti-DC-Liste „Evangelium und Kirche“ ausgezählt wurden. Die Dahlemer DC-Vertreter in der örtlichen Kirchenleitung waren wegen der erkennbar unüberbrückbaren Gegensätze zu einer Zusammenarbeit nicht bereit und zogen sich schon bald aus den Gremien Gemeindekirchenrat und Gemeinde­verordnetenversammlung zurück (das letztgenannte Gremium scheint in der Folgezeit kaum eine Rolle in den Dahlemer Verhältnissen gespielt zu haben).

Man kann sich leicht vorstellen, dass der Wahlsieg der Deutschen Christen trotzdem erhebliche Folgen nicht nur für den Stand der evangelischen Kirche in ganz Deutschland, sondern auch für die Gemeinde Dahlem gezeitigt hat. Doch, anstatt sich den „neuen Verhältnissen“ kampflos zu fügen, suchten die abgeschla­genen Vertreter der Liste „Evangelium und Kirche“ sowie die ihnen nahestehenden Vorsitzenden der „Jungreformatorischen Bewegung“ Künneth, Lilje und Niemöller nach neuen Standorten. Der von der Jungreformatorischen Bewegung verkündete Verzicht auf kirchenpolitische Aktivität stieß auf heftigen Widerstand bei den Anhängern von „Evangelium und Kirche“, vor allem auch bei den Pfarrern aus der westfälischen „Bekenntnisfront“ (diese Bezeichnung tritt hier zum ersten Mal auf!), denn diese forderten eine entschlossene Gegenwehr auf allen Ebenen kirchlichen Handeln. Dieser Dissens wird besser verständlich, wenn man bedenkt, dass im Juni 1933 die berühmte Schrift von Karl Barth erschienen war: „Theologische Existenz heute“. In diesem Aufsatz hatte Barth die „theologische“ Neubesinnung in den Vordergrund gestellt, um dem völkisch-nationalen, also im Grunde „politischen“ Selbst­verständnis der „Jungreformatoren“ entgegenzutreten. Barths Aufruf hatte weit über die Pfarrerschaft hinaus seine Wirkung entfaltet, was man aus der Auflagenhöhe von 37.000 schließen kann (es gab damals ca. 16.000 evangelische Pfarrer im Reichsgebiet). In einem Thesenpapier vom 30. Juli 1933 konnte Martin Niemöller in 16 Leitsätzen beide Richtungen zusammenführen mit dem Ziel theologischer Rückbesinnung und Frontenklärung einerseits, andererseits Basisarbeit mit Aktivierung der Gemeinden.

Hier könnte man den Beginn der „Bekennenden Gemeinde“ auch für Dahlem ansetzen, denn es kam schon in dieser Zeit zu einer starken Belebung des Kirchenbesuches, hinzu kamen später die immer wichtiger werdenden „Offenen Abende“, in denen die neuesten kirchenpolitischen Entwicklungen und Ereignisse mitge­teilt und diskutiert wurden. Diese Veranstaltungen wurden 14-tägig montags abgehalten, zunächst noch im Pfarrhaus Cäcilienallee 61; später mussten sie in den Saal des Gemeindehauses Thielallee verlegt werden. Parallel dazu bildete sich bald eine Gruppe von freiwilligen Helfern und Helferinnen für das Vervielfältigen und Verteilen von Aufrufen, Berichten, Predigten und Schriftsätzen aus allen Kreisen des „kirchlichen Aufbruchs“, als den sich die Gegenkräfte innerhalb der evangelischen Kirche nun mehr und mehr empfanden und öffentlich auch artikulierten.

Der Widerstand richtete sich primär gegen die massiven Eingriffe des Staates, die im Juni 1933 in der Errichtung eines „Staatskommissariates“ in Preußen gipfelten, zugleich aber gegen die Übernahme des „Beamtengesetzes“ vom 7. April 1933 in die Verwaltung der Kirchen, wodurch Pfarrer und Kirchenbeamte mit jüdischem Hintergrund aus ihren Stellen entfernt wurden (der sog. „Arierparagraph“!). Die Widerständigkeit der bekenntnistreuen Gemeinden, zu denen jetzt die Dahlemer Gemeinde zu zählen ist, entsprang also ganz entschieden ihrem strikten Verständnis von Bibel und Bekenntnis, nicht etwa einem „kirchlichen Selbsterhaltungstrieb“, wie das in der neueren Kirchengeschichtsschreibung manchmal hingestellt wird. Hier ist zu betonen, dass in dieser Haltung die Gemeinde Dahlem keineswegs alleine stand. Wichtig war natürlich die entschiedene Haltung der drei Pfarrer, die der Gemeinde den Rücken stärkte. Andererseits war im Gegenzug die Wendung der Gläubigen zu Bibel und Bekenntnis eine große Ermunterung und Stärkung ihrer Pfarrer.

Vergessen wir indessen nicht, dass lange bevor die evangelische Kirche in das Visier der Nazis kam, bereits viele Kommunisten und Sozialdemokraten vertrieben, ermordet oder eingekerkert worden waren. Es hatte auch Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger gegeben, und die allgemeinen Bürgerrechte waren durch neue Gesetze eingeschränkt worden, was vom Bürgertum und auch von den Kirchen ohne Widerspruch hingenommen wurde, wohl weil es von der „gottgegebenen“ Obrigkeit befohlen oder gedeckt wurde. Die evangelische Kirche wachte erst auf, als es ihr selber „an den Kragen“ ging, wobei sie insofern noch in einer privilegierten Situation war, als ihre besondere Rechtsform noch einen gewissen Schutz bot. Dies zeigte sich z.B. bei dem Versuch einer Amts­enthebung Niemöllers durch den „Reichsbischof“ Ludwig Müller, was an der Gesetzeslage wie auch am Widerstand der Dahlemer Kirchengemeinde scheiterte.

Es war der durch den „Arierparagraphen“ provozierte „Status confessionis“, der im September 1933 zur Gründung des Pfarrernotbundes führte. Es war übrigens nicht Niemöller, der diesen Zusammenschluss angeregt hatte, sondern die beiden märkischen Pfarrer Günter Jacob und Eugen Weschke, die den Gedanken an Niemöller herantrugen. Beide Pfarrer konnten ihren Vorschlag bei einer Versammlung bekenntnistreuer märkischer und Berliner Pfarrer im Hause von Gerhard Jacobi erläutern, wobei Jacob schon eine Verpflichtungserklärung mit fünf Punkten vorlegen und zur Diskussion stellen konnte (11. Sept. 1933). Von den anwesenden ca. 70 Pfarrern unterstützten alle, bis auf zwei Ausnahmen, die Gründung. Die Leitung des Notbundes übernahm Niemöller erst, nachdem Friedrich v. Bodelschwingh (Bethel) wie auch August Marahrens (Bischof v. Hannover) sich nicht hatten entschließen können, der neuen Organisation als Vorsitzende zu dienen.

Das Büro des Pfarrernotbundes war natürlich im Pfarrhaus untergebracht, und der gewaltige Zuspruch an Mitgliedern, die dem Aufruf zum Beitritt folgten, machte die Einstellung eines weiteren Pfarrers notwendig, um Verwaltung und Finanzen zu leiten. Auf Empfehlung von Dietrich Bonhoeffer wurde Franz Hildebrandt gewonnen. Er erwies sich als Idealbesetzung nicht nur für den Notbund, sondern für die Kirchengemeinde insgesamt. Sein ausgleichendes Temperament, seine umfassende theologische Schulung, seine ganz eindeutige Bekenntnisbindung machten ihn zu einem unentbehrlichen Helfer des mehr und mehr von den auswärtigen Verpflichtungen in Anspruch genommenen Niemöller. Seine sehr eigenwilligen, von uns Kindern immer gut verstandenen Kindergottesdienste sind mir noch in Erinnerung. Hildebrandt hatte eine jüdische Mutter, war also – nach damaliger Sprachregelung – „Halbjude“, und insofern entschieden gefährdet. Seine Einstellung durch Vater Martin für den Notbund war in sich schon eine Art Demonstration, auf die Martin Niemöller wohl ohne die empfehlende Vorarbeit von Dietrich Bonhoeffer kaum gekommen wäre. Die Bekenntnisgemeinde Dahlem hat davon großen Gewinn gehabt.

Es ist eine Tatsache, dass der große Impuls für die Einberufung einer „Bekenntnissynode“ der Deutschen Evangelischen Kirche nicht von Dahlem ausging, sondern von den sog. „freien“ Synoden des damals preußischen Rheinlandes. Alle drei Dahlemer Pfarrer waren aber als Delegierte beteiligt. Die berühmte „Barmer theologische Erklärung“ war in erster Linie ein Text aus der Feder von Karl Barth, wurde aber rhetorisch verteidigt von Hans Asmussen, einem lutherischen Pfarrer aus Schleswig-Holstein. Die breite Zustimmung zu den Barmer Thesen wurde von vielen der Beteiligten als ein großes Wunder empfunden, aber auch als ein besonderer Schatz, als verbindliche theologische Richtlinie, die es ein­zuhalten und zu bewahren galt. Leider ist dies weder innerhalb der Bekennenden Kirche, natürlich auch nicht in den diversen Fraktionen der „Neutralen“ mit dem Ernst verstanden worden, den die Sache eigentlich verdient hätte.

Im Gefolge der Barmer Synode kam es überall in Deutschland zu einer geistigen und organisatorischen Entfaltung der Bekennenden Kirche. Dies galt besonders auch für die Dahlemer Kirchengemeinde, in der die Vorbedingungen dafür durch die Arbeit der drei Pfarrer geschaffen worden waren. Als Nachweis für die Mitgliedschaft in der Bekennenden Kirche wurde die „rote Karte“ eingeführt, die auch eine Verpflichtungserklärung enthielt, ähnlich derjenigen, die schon auf den Beitrittserklärungen zum Pfarrernotbund verwendet worden war. Diese „rote Karte“ hatte die eher wohl nachteilige und unbeabsichtigte Nebenwirkung, dass die Gemeinde nun in Christen „erster“ und „zweiter“ Klasse zerfiel – ein düsterer Vorbote späterer Spaltungen sowohl in der Bekennenden Kirche insgesamt wie auch in der Dahlemer Kirchengemeinde.

Die Dahlemer Bekenntnis-Synode vom August 1934 brachte die Formulierung und Verabschiedung des „kirchlichen Notrechts“, welches die Bekenntnisgemeinden ermächtigte, ihre eigenen Körperschaften zu organisieren und finanziell auszustatten.

An diesen Arbeiten und Beratungen war besonders der Dahlemer Pfarrer Fritz Müller beteiligt, der ein besonderes Talent für juristische Details besaß. Das synodale System der „Bruderräte“ hat dann auch bis über das Kriegsende hinaus mehr oder weniger effektiv funktioniert.

Die Ernennung von Dr. Kerrl zum Minister für die kirchlichen Angelegenheiten (1935) bedeutete einen Schwenk im Verhalten der NS – Regierung gegenüber der evangelischen Kirche. Da die Versuche, eine „innerkirchliche“ Befriedung zu erreichen, durch den Widerstand der Bekennenden Kirche und der zu ihr stehenden Gemeinden gescheitert waren. trat der Staat nun mit seinen größeren Machtmitteln direkt gegen die Kirche auf, wobei er aber bestrebt war, guten Willen vorzutäuschen. Es kam zur Einsetzung der „Kirchenaußschüsse“, die aus Vertretern der drei „Lager“ innerhalb der evangelischen Kirche zusammengesetzt wurden – also auch unter Mitwirkung einiger Pfarrer und Laien aus der Bekennenden Kirche, wodurch eine Spaltung dieser einzigen wirklich widerständigen Gruppierung herbeigeführt wurde. Diejenigen, die sich an die Beschlüsse von Barmen und Dahlem gebunden fühlten, wurden jetzt mehr und mehr in die Illegalität gedrängt, während die „Neutralen“, nun noch verstärkt durch Neuzugänge aus dem vormaligen Bekenntnis-Lager, die „Segnungen“ eines Burgfriedens mit einem nun erkennbar verbrecherischen Regime genießen konnten – soweit das noch möglich und praktizierbar war! Pfarrer Röhricht von der Jesus-Christus-Kirche hielt den Kirchenkampf damit für beendet, und ließ sich sogar in das Berliner Konsistorium berufen. Die aus dieser Haltung resultierende Spaltung der Gemeinde Dahlem hat bis über das Kriegsende hinaus gedauert und ungute Nach­wirkungen gehabt.

Der andere, wichtige Einschnitt in das Leben der Kirchengemeinde Dahlem war die endgültige Verhaftung ihres Pfarrers Martin Niemöller am 1. Juli 1937. Schon im Vorfeld dieser staatlichen Maßnahme hatten sich die Zwangseingriffe des NS ­Staates mehr und mehr verschärft, mit zahllosen Verhaftungen, Ausweisungen, Redeverboten und Amtsenthebungen, sodass man von einem weitgehend rechtlosen Zustand sprechen konnte. Das sog. Kirchenministerium arbeitete dabei ganz offen mit der Gestapo zusammen, Justizministerium und die nun völlig mundtote Amtskirche schauten schweigend zu. Die Dahlemer Gemeinde und ihre beiden Pfarrer machten erfolglose Eingaben bei Hitler (als dem für die spätere illegale Verbringung in das KZ Sachsenhausen Verantwortlichen) und zeigten damit ihre persönliche Loyalität. – Hier ist erwähnenswert, dass an dem Prozess gegen Niemöller, der am 7. Februar 1938 in Moabit begann, die Reichsminister Goebbels (Propaganda), Kerrl (kirchl. Angelegenheiten) und Gürtner (Justiz) als Nebenkläger beteiligt waren. Goebbels hat in dieser Zeit der NS-Führung den Vorschlag gemacht, Niemöller einfach zu liquidieren, wovon allerdings wegen dessen großer Popularität dann abgeraten wurde (nicht etwa, weil man moralische oder rechtliche Bedenken dagegen gehabt hätte!). Auch nach der Urteilsverkündung und der nachfolgenden Verschleppung in KZ-Haft fuhren zahlreiche Abordnungen aus Kirchengemeinden im damaligen Reichsgebiet nach Berlin, um sich für eine Freilassung Niemöllers zu verwenden – das Ergebnis dieser Bemühungen ist bekannt.

Wie war nun die Wirkung dieses Verlustes auf die Kirchengemeinde Dahlem? Hier ist festzustellen, dass die bekennende Gemeinde sich noch fester zusammenschloss, und dass ihre entschiedene Ablehnung eines falschen Friedens mit den innerkirchlichen und außerkirchlichen „Kirchenbehörden“ eher noch zunahm. Die Einführung der täglichen „Fürbittegottesdienste“ tat das ihre, durch das Gebet für die Gefangenen auch die eigene Haltung zu festigen. Die „Nachfolgeregelung“, durch die Helmut Gollwitzer zum Seelsorger der Bekenntnisgemeinde bestellt wurde, erwies sich als Glücksfall – oder besser: als Segen -, weil Gollwitzer die veränderten Anforderungen einer grundlegend veränderten Situation erkannte und die Gemeinde darauf ausrichten konnte. Aber es ist nicht zu übersehen, dass mit der zunehmenden Konzentration auf eine „Kerngemeinde“ auch eine Isolation, eine Vereinzelung einherging. Das Schicksal der jüdischen Mitbürger und Gemeindeglieder erschütterte alle noch verbliebenen Sicherheiten und Hoffnungen; manch einer hat nachträglich noch das Gefühl bekommen, doch irgendwie auch an einer“ falschen Front“. gekämpft zu haben – so ist es jedenfalls Helmut Gollwitzer gegangen, als er, als einer der fleißigsten und ernsthaftesten Mitstreiter Niemöllers in der Bekennenden Kirche, vor dem Trümmerhaufen stand, den die Hitlerei, ihre Mitläufer und Zuschauer innerhalb und außerhalb der Kirche, ja: wir alle hinterlassen hatten.

Lassen Sie mich zum Schluss einen Brief vorlesen, den Martin Niemöller zwei Wochen vor seiner Verhaftung an den Reichsjustizminister Dr. Gürtner schrieb, und aus dem nicht nur die verzweifelte Lage der Bekennenden Kirche im Jahre 1937 zu erkennen ist, sondern auch der Mut zu persönlicher Verantwortung seines Verfassers.

 

(Es folgt die Verlesung des Schreibens an Dr. Gürtner v. 17.06.37)

 

Berlin-Dahlem, 17.6.1937

Herrn Justizminister Dr. Gürtner, Berlin.

Hochverehrter Herr Justizminister!

In Ergänzung meines Schreibens vom 2. Juni teile ich Ihnen mit, dass bis auf Dr. jur. Schmidt, der inzwischen freigelassen wurde, die Verhaftung der übrigen Pfarrer in der Angelegenheit Gross weiter aufrechterhalten wird, obwohl einwandfrei feststeht, dass Dr. Gross (übrigens nicht nur in der genannten Rede) derjenige gewesen ist, der das religiöse und rechtliche Empfinden des überwiegenden Teiles des deutschen Volkes in gröblicher und zynischer Weise verletzt und die Autorität des Staates untergraben hat. Inzwischen hat eine neue Verhaftungswelle inmitten der evangelischen Pfarrerschaft und Gemeinden eingesetzt. Seit Sonnabend den 12.6. ist der Legationsrat Dr. Freudenberg aus Dahlem verhaftet, und zwar im Zusammenhang mit der Hochschulfrage der evangelischen Kirchen, die seit einiger Zeit im Gesamtplan der Christenverfolgung des Herrn Muhs1 eine Rolle zu spielen anfängt. In der gleichen Sache ist ein Urteil gegen drei evangelische Theologiestudenten vom Berliner Universitäts­gericht ergangen, das wohl ziemlich die Höhe alles dessen darstellt, was an Beugung des Rechts und an innerer Verlogenheit auf diesem Gebiet bislang geleistet worden ist. Eine Anzahl weiterer Studenten, die sich mit den drei Gemaßregelten solidarisch erklärt haben, sind, wie ich höre, für den kommenden Montag vor den Universitätsrichter geladen. Das Urteil füge ich Ihnen zum Privatgebrauch bei.

 

Die Verteidigung der drei Verurteilten hat in den Händen des Geheimrats Dr. Sauerbruch2 und des Prof. Dr. Lietzmann3 gelegen, die gewiss beide gern bereit sind, auch über die Beteiligung der Staatspolizei an diesem Verfahren, ihre Auffassung über das ganze Verfahren mitzuteilen. Am Montag den 14.6. sind dann weiterhin Pfarrer Lic. Niesel und Präses D.D. Jacobi, am Dienstag den 15.6. Herr v. Arnim-Lützlow und am Mittwoch, 16.6. Assessor Dr. Ehlers verhaftet worden. In diesen Fällen handelt es sich darum, dass im Frühjahr von Herrn Reichsminister Frick, in Widerspruch zu den feierlichen Erklärungen des Führers, mit einer Verordnung in die Rechte Kirchenaustritte nicht mehr der Gemeinde bekannt werden dürfen. Am 3. Juni hat aufgrund zahlreicher Anfragen der preußische Bruderrat den in Abschrift beigefügten Beschluss in dieser Sache gefasst. Die Wirkung ist nunmehr die, dass gegen die Mitglieder des preußischen Bruderrates, d.h. praktisch gegen die Gesamtleitung der Kirche, staatspolizeilich vorgegangen wird. Ob die Verhaftungswelle damit abgeschlossen ist oder weiter geht, vermag ich so wenig zu übersehen, wie Sie. Aber das ist gewiss, dass eines der heute in Deutschland am meisten zitierten Worte das Wort ist, das der Führer am 13.6. in Landsberg schrieb: “ … immer, wenn die Freiheit geschändet wird, treffen sich die Besten im Gefängnis“.

Zu den genannten Verhaftungen treten solche in der Provinz. In den letzten Tagen wurde in der Grenzmark der Vikar Hopf in Striche, der die durch Verhaftung von Pfarrer Selke und seinen vorläufigen Nachfolger Dr. Benkert vakante Pfarrstelle in Striche verwalten sollte, verhaftet. Außerdem wurden in Oberwalden (Schlesien) die Bauern Minkas und Kopf im Zusammen­hang mit der Kirchenfrage verhaftet.

In der Angelegenheit des Rechtsanwalts Bunke, der immer noch im Konzentrationslager sitzt, erhalte ich soeben Nachricht von der Gattin, dass ihr die Staatspolizei in Glogau im Auftrag der Geheimen Staatspolizei am gestrigen Tag mitgeteilt habe, dass Rechtsanwalt Bunke auch weiterhin festgehalten werden müsse. Die weitere Verlängerung der Haft habe er seiner fortge­setzten Hetze und seinem propagandistischen Sich-Einsetzen für die Bekenntniskirche zu verdanken. Auf die Frage, wie lange denn die Haft noch dauern solle – sie dauert jetzt über 6 Monate – erklärte der betreffende Beamte, bis die Gewähr bestünde, dass er keine Möglichkeit mehr habe, weiter zu hetzen, wenn er wieder herauskomme.

 

Herr Reichsminister: Das nennt sich heute in Deutschland „Recht“, und wenn ein deutscher Mann fragt, wie lange der Herr Reichsjustizminister diese Zustände noch ansehen will und sie mit seinem Namen zu decken gedenkt, dann wird daraus eine Anzeige an die Staatsanwaltschaft gemacht wegen provozierender Angriffe auf einen Reichsminister. Das deutsche Volk denkt über all diese Dinge ganz wesentlich anders. Es denkt zum Beispiel, dass es nicht recht sei, dass ein Mann, der den Glauben an die Gottessohnschaft Jesu Christi für lächerlich erklärt4, als ein Diktator über die Kirche Jesu Christi gebietet; noch obendrein, da die Kirche sich diesen Mann niemals geholt oder erbeten hat. Das deutsche Volk meint, dass es nicht recht sei, wenn ein aus der Kirche ausgetretener Rechtsanwalt und Regierungspräsident5 praktisch die Diktatur über die Kirche unter der Firma des Reichskirchenministeriums, in Wahrheit durch die ihm zur Verfügung stehende Staatspolizei ausübt.

 

Das deutsche Volk meint, dass es nicht recht sei, wenn über die Predigt der evangelischen Kirche nicht der Herr Christus, sondern Herr Muhs bzw. die Staatspolizei mit rechtlicher Wirkung zu bestimmen hat. Das deutsche Volk meint, dass es nicht recht sei, wenn man nach außen hin so tut, als gebe es im Deutschen Reich keine Christenverfolgung, wo es allmählich die Spatzen auch in den kleinsten Dörfern von den Dächern pfeifen, dass ein Christ im deutschen Vaterland keinen Anspruch auf gleichberechtigte Behandlung mit anderen Menschen mehr hat. Das deutsche Volk meint, dass es nicht recht sei, wenn all dieses und noch vieles, vieles andere, wovon man Bücher voll schreiben müsste, als „Recht“ hingestellt wird. Das deutsche Volk meint vielmehr, es wäre höchste Zeit, dass Unrecht – Unrecht, und Recht – Recht, dass Wahrheit – Wahrheit und Lüge – Lüge, dass Gewalt – Gewalt und Terror – Terror genannt werde. Das deutsche Volk meint endlich, dass der ganze Erlass des Führers betreffend freie Kirchenwahl, auf diese Art und Weise von den nachgeordneten Stellen zu einem Volksbetrug umgefälscht wird. Und wenn die gegenwärtigen Verhaftungen in der Kirche von Leuten, die es wissen müssten, dahin ausgelegt werden, dass man die Leitung der Kirche lahm legen wolle, um dann die sogenannten freien Kirchenwahlen ungehindert inszenieren zu können, dann dürfte das zu Zuständen und Ereignissen führen, die auch Sie, Herr Reichsminister, nicht mehr als ein Unbeteiligter hinnehmen können. Ich verzweifle daran, dass es in Deutschland noch irgendwo eine verantwortliche Stelle gibt, die sich vor Gott und seinem ewigen Gesetz und nicht vor Menschen beugt.

 

Ich habe Ihnen das alles geschrieben, weil ich nicht will, dass mir einmal gesagt wird: „Warum hast Du das den zuständigen Stellen nicht gesagt?“ Ich habe es Ihnen, Herr Reichsminister, hiermit wiederum gesagt, und ich werde es nunmehr auch anderen sagen.

 

Mit verbindlichen Empfehlungen

ergebenst

gez. M. Niemöller

 

 

1 Hermann Muhs, erst Regierungspräsident in Hildesheim, ab Nov. 1936 Staatssekretär im Reichskirchenministerium

2 Prof. Ferdinand Sauerbruch, Chirurg in Berlin

3 Prof. Hans Lietzmann, Professor für Kirchengeschichte

4 Hier ist der Reichskirchenminister Hans Kerrl gemeint

5 Dieser Satz bezieht sich wieder auf Hermann Muhs, Staatssekretär im Reichskirchenministerium unter Kerrl.

 

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