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„Hochverehrter Herr Justizminister!“
Niemöllers Brief vor seiner Verhaftung

Martin Niemöllers Zelle in Dachau
Martin Niemöllers Zelle in Dachau

Zwei Wochen vor seinem Besuch in Wiesbaden im Juni 1937 hatte Martin Niemöller einen Brief an den Reichsjustizminister Dr. Gürtner geschrieben, aus dem nicht nur die verzweifelte Lage der Bekennenden Kirche im Jahre 1937 zu erkennen ist, sondern auch der Mut zu persönlicher Verantwortung seines Verfassers.

Berlin-Dahlem, 17.6.1937

Herrn Justizminister Dr. Gürtner, Berlin.

Hochverehrter Herr Justizminister!

In Ergänzung meines Schreibens vom 2. Juni teile ich Ihnen mit, dass bis auf Dr. jur. Schmidt, der inzwischen freigelassen wurde, die Verhaftung der übrigen Pfarrer in der Angelegenheit Gross weiter aufrechterhalten wird, obwohl einwandfrei feststeht, dass Dr. Gross (übrigens nicht nur in der genannten Rede) derjenige gewesen ist, der das religiöse und rechtliche Empfinden des überwiegenden Teiles des deutschen Volkes in gröblicher und zynischer Weise verletzt und die Autorität des Staates untergraben hat. Inzwischen hat eine neue Verhaftungswelle inmitten der evangelischen Pfarrerschaft und Gemeinden eingesetzt. Seit Sonnabend den 12.6. ist der Legationsrat Dr. Freudenberg aus Dahlem verhaftet, und zwar im Zusammenhang mit der Hochschulfrage der evangelischen Kirchen, die seit einiger Zeit im Gesamtplan der Christenverfolgung des Herrn Muhs1 eine Rolle zu spielen anfängt. In der gleichen Sache ist ein Urteil gegen drei evangelische Theologiestudenten vom Berliner Universitätsgericht ergangen, das wohl ziemlich die Höhe alles dessen darstellt, was an Beugung des Rechts und an innerer Verlogenheit auf diesem Gebiet bislang geleistet worden ist. Eine Anzahl weiterer Studenten, die sich mit den drei Gemaßregelten solidarisch erklärt haben, sind, wie ich höre, für den kommenden Montag vor den Universitätsrichter geladen. Das Urteil füge ich Ihnen zum Privatgebrauch bei.

Die Verteidigung der drei Verurteilten hat in den Händen des Geheimrats Dr. Sauerbruch2 und des Prof. Dr. Lietzmann3 gelegen, die gewiss beide gern bereit sind, auch über die Beteiligung der Staatspolizei an diesem Verfahren, ihre Auffassung über das ganze Verfahren mitzuteilen. Am Montag den 14.6. sind dann weiterhin Pfarrer Lic. Niesel und Präses D.D. Jacobi, am Dienstag den 15.6. Herr v. Arnim-Lützlow und am Mittwoch, 16.6. Assessor Dr. Ehlers verhaftet worden. In diesen Fällen handelt es sich darum, dass im Frühjahr von Herrn Reichsminister Frick, in Widerspruch zu den feierlichen Erklärungen des Führers, mit einer Verordnung in die Rechte der evangelischen Kirche eingegriffen wurde, wonach Kirchenaustritte nicht mehr der Gemeinde bekannt werden dürfen. Am 3. Juni hat aufgrund zahlreicher Anfragen der preußische Bruderrat den in Abschrift beigefügten Beschluss in dieser Sache gefasst. Die Wirkung ist nunmehr die, dass gegen die Mitglieder des preußischen Bruderrates, d.h. praktisch gegen die Gesamtleitung der Kirche, staatspolizeilich vorgegangen wird. Ob die Verhaftungswelle damit abgeschlossen ist oder weiter geht, vermag ich so wenig zu übersehen, wie Sie. Aber das ist gewiss, dass eines der heute in Deutschland am meisten zitierten Worte das Wort ist, das der Führer am 13.6. in Landsberg schrieb: “ … immer, wenn die Freiheit geschändet wird, treffen sich die Besten im Gefängnis“.

Zu den genannten Verhaftungen treten solche in der Provinz. In den letzten Tagen wurde in der Grenzmark der Vikar Hopf in Striche, der die durch Verhaftung von Pfarrer Selke und seinen vorläufigen Nachfolger Dr. Benkert vakante Pfarrstelle in Striche verwalten sollte, verhaftet. Außerdem wurden in Oberwalden (Schlesien) die Bauern Minkas und Kopf im Zusammenhang mit der Kirchenfrage verhaftet.

In der Angelegenheit des Rechtsanwalts Bunke, der immer noch im Konzentrationslager sitzt, erhalte ich soeben Nachricht von der Gattin, dass ihr die Staatspolizei in Glogau im Auftrag der Geheimen Staatspolizei am gestrigen Tag mitgeteilt habe, dass Rechtsanwalt Bunke auch weiterhin festgehalten werden müsse. Die weitere Verlängerung der Haft habe er seiner fortgesetzten Hetze und seinem propagandistischen Sich-Einsetzen für die Bekenntniskirche zu verdanken. Auf die Frage, wie lange denn die Haft noch dauern solle – sie dauert jetzt über 6 Monate – erklärte der betreffende Beamte, bis die Gewähr bestünde, dass er keine Möglichkeit mehr habe, weiter zu hetzen, wenn er wieder herauskomme.

Herr Reichsminister: Das nennt sich heute in Deutschland „Recht“, und wenn ein deutscher Mann fragt, wie lange der Herr Reichsjustizminister diese Zustände noch ansehen will und sie mit seinem Namen zu decken gedenkt, dann wird daraus eine Anzeige an die Staatsanwaltschaft gemacht wegen provozierender Angriffe auf einen Reichsminister. Das deutsche Volk denkt über all diese Dinge ganz wesentlich anders. Es denkt zum Beispiel, dass es nicht recht sei, dass ein Mann, der den Glauben an die Gottessohnschaft Jesu Christi für lächerlich erklärt4, als ein Diktator über die Kirche Jesu Christi gebietet; noch obendrein, da die Kirche sich diesen Mann niemals geholt oder erbeten hat. Das deutsche Volk meint, dass es nicht recht sei, wenn ein aus der Kirche ausgetretener Rechtsanwalt und Regierungspräsident5 praktisch die Diktatur über die Kirche unter der Firma des Reichskirchenministeriums, in Wahrheit durch die ihm zur Verfügung stehende Staatspolizei ausübt.

Das deutsche Volk meint, dass es nicht recht sei, wenn über die Predigt der evangelischen Kirche nicht der Herr Christus, sondern Herr Muhs bzw. die Staatspolizei mit rechtlicher Wirkung zu bestimmen hat. Das deutsche Volk meint, dass es nicht recht sei, wenn man nach außen hin so tut, als gebe es im Deutschen Reich keine Christenverfolgung, wo es allmählich die Spatzen auch in den kleinsten Dörfern von den Dächern pfeifen, dass ein Christ im deutschen Vaterland keinen Anspruch auf gleichberechtigte Behandlung mit anderen Menschen mehr hat. Das deutsche Volk meint, dass es nicht recht sei, wenn all dieses und noch vieles, vieles andere, wovon man Bücher voll schreiben müsste, als „Recht“ hingestellt wird. Das deutsche Volk meint vielmehr, es wäre höchste Zeit, dass Unrecht – Unrecht, und Recht – Recht, dass Wahrheit – Wahrheit und Lüge – Lüge, dass Gewalt – Gewalt und Terror – Terror genannt werde. Das deutsche Volk meint endlich, dass der ganze Erlass des Führers betreffend freie Kirchenwahl, auf diese Art und Weise von den nachgeordneten Stellen zu einem Volksbetrug umgefälscht wird. Und wenn die gegenwärtigen Verhaftungen in der Kirche von Leuten, die es wissen müssten, dahin ausgelegt werden, dass man die Leitung der Kirche lahm legen wolle, um dann die sogenannten freien Kirchenwahlen ungehindert inszenieren zu können, dann dürfte das zu Zuständen und Ereignissen führen, die auch Sie, Herr Reichsminister, nicht mehr als ein Unbeteiligter hinnehmen können. Ich verzweifle daran, dass es in Deutschland noch irgendwo eine verantwortliche Stelle gibt, die sich vor Gott und seinem ewigen Gesetz und nicht vor Menschen beugen.

Ich habe Ihnen das alles geschrieben, weil ich nicht will, dass mir einmal gesagt wird: „Warum hast Du das den zuständigen Stellen nicht gesagt?“ Ich habe es Ihnen, Herr Reichsminister, hiermit wiederum gesagt, und ich werde es nunmehr auch anderen sagen.

 

Mit verbindlichen Empfehlungen

ergebenst

gez. M. Niemöller

 

1 Hermann Muhs, erst Regierungspräsident in Hildesheim, ab Nov. 1936 Staatssekretär im Reichskirchenministerium
2 Prof. Ferdinand Sauerbruch, Chirurg in Berlin
3 Prof. Hans Lietzmann, Professor für Kirchengeschichte
4 Hier ist der Reichskirchenminister Hans Kerrl gemeint
5 Dieser Satz bezieht sich wieder auf Hermann Muhs, Staatssekretär im Reichskirchenministerium unter Kerrl.