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Festival „Gegensignal“ vom 16. bis 17. September in Potsdam

Das Potsdamer Glockenspiel ist die Nachbildung des historischen Carillons der Garnisonkirche. ©Wikimedia/CC BY 3.0/Bohao Zhao
Das Potsdamer Glockenspiel ist die Nachbildung des historischen Carillons der Garnisonkirche. ©Wikimedia/CC BY 3.0/Bohao Zhao

Vier Jahre nach seiner Stilllegung steht das stets umstrittene nachgebaute Glockenspiel der Garnisonkirche Potsdam am 16. und 17. September 2023 im Zentrum eines Kurzfestivals. Auf dem Programm stehen Klang-Geschichten, eine öffentliche Inszenierung und ein Workshop mit Disussion zur Zukunft des Glockenspiels. Veranstaltet wird das Festival vom Verein zur Förderung antimilitaristischer Traditionen in der Stadt Potsdam e.V. und dem Lernort Garnisonkirche.

Als wichtiger Teil der Veranstaltung werden vier namhafte Intellektuelle aus Polen, Ukraine, Russland und Namibia darauf zurückblicken, wie sich preußisch-deutsche Militärgewalt in die Geschichte Ihrer Länder eingeschrieben hat und wie sie die heutige deutsche Erinnerungskultur zu Preußen wahrnehmen. Nach kurzen Auftritten in der Konzertperformance am Samstag werden sie während des Symposions am Sonntag jeweils eine Rede halten und mit dem Publikum und miteinander diskutieren.
Es sprechen:

  • Jan Tomasz Gross, Historiker und Soziologe, Polen/ Berlin, Prof. emeritus der Princeton University/USA
  • Esther Muinjangue, Vizeministerin für Gesundheit und Soziale Dienste, ehemalige Vorsitzende der Ovaherero Genocide Foundation, Namibia
  • Kateryna Mishchenko, Autorin und Verlegerin, Ukraine/Berlin
  • Sergey Lebedev, Schriftsteller, Russland/Potsdam

Das Festival beginnt am Samstag um 16.30 Uhr mit einer multimedialen Lecture-Performance von Michael Schenk im Filmmuseum Potsdam.

Der Künstler Andreas Siekmann gestaltete das Visual für die Konzertinstallation „Den Marsch blasen“
Der Künstler Andreas Siekmann gestaltete das Visual für die Konzertinstallation „Den Marsch blasen“.

Es folgt ab 19.30 Uhr auf der Plantage die Uraufführung von „DEN MARSCH BLASEN. Eine psychogeographische Situation am Glockenspiel auf der Plantage“ des Komponisten Christian von Borries. Auf der Potsdamer Plantage, Standort des Glockenspiels unweit der Garnisonkirche, erklingt nicht mehr das untertänige Lied „Üb immer treu und Redlichkeit“, sondern „Den Marsch Blasen“ des Komponisten Christian von Borries. Die Auftragskomposition bringt die verdrängten rechtslastigen und militärischen Botschaften des Glockenspiels akustisch wie szenografisch zum Vorschein, und gibt zugleich den Opfern der einstigen preußisch-deutschen Militärgewalt eine Stimme. Gerahmt wird die Aufführung von diskursiven Beiträgen: Eine akustisch-visuelle Lecture-Perfomance des Klangkünstlers Michael Schenk im Filmmuseum Potsdam zur Geschichte des Glockenspiels und ein anschließender Workshop im Kunst- und Kreativhaus Rechenzentrum zur Zukunft des Glockenspiels auf der Plantage.

Am Sonntag findet ab 10 Uhr im Rechenzentrum ein Symposion und Workshop statt. Während vormittags von 10 Uhr bis 13 Uhr die Nachkommen der Adressaten preußisch – deutscher Militärgewalt zu Wort kommen, findet nachmittags eine Fishbowl-Diskussion zur Zukunft des Glockenspiels auf der Plantage statt.

Das Festival „Gegensignal“ zielt darauf, die in die Gesellschaft infiltrierten antidemokratischen, revisionistischen, nationalistischen und bellizistischen Botschaften des Iserlohner Glockenspielnachbaus performativ und symbolisch zu konterkarieren. Dadurch, dass das Glockenspiel gegen den Strich gespielt wird, soll seine einstige Botschaft „entweiht“ werden. Zugleich wird zur öffentlichen Diskussion zur Zukunft des Glockenspiels eingeladen.

PROGRAMM

Samstag, 16. September 2023

16.30 – 18.00 Uhr: Filmmuseum Potsdam
Intro: Klang-Geschichten zum Potsdamer Glockenspiel von Michael Schenk. Die 60-minütige multimediale Lecture-Performance als live-Hörspiel mit Bildern wird die Auseinandersetzung um das Iserlohner Glockenspiel in Potsdam seit 1991 Revue passieren lassen, und auf die Entstehung des Liedes „Üb‘ immer Treu und Redlichkeit“ und dessen Nutzungs- und Rezeptionsgeschichte verweisen. Anschließend kurzes Publikumsgespräch

19.30 – 20.30 Uhr: Plantage, Potsdam

DEN MARSCH BLASEN.
Eine psychogeographische Situation am Glockenspiel auf der Plantage von Christian von Borries
Suchscheinwerfer, Fackelträger, Glockengeläut, Gefechtslärm. Auf der Plantage marschieren in unperfekten Gleichschritt kleine Musikgruppen unabhängig voneinander im Kreis, eine Gruppierung in entgegengesetzter Richtung. Sie sind in den Uniformen des Preußischen Heeres, der Wehrmacht und der Bundeswehr gekleidet, ein oder zwei Personen auch als Pfarrer verkleidet, und spielen unterschiedliche Medleys preußischer Märsche und einiger weniger evangelischer Choräle, nichts gleichzeitig und alles in unterschiedlichen Tempi, jede Gruppierung aber in sich stimmig.

Es entsteht eine Kakophonie, eine Referenz an den amerikanischen Komponisten Charles Ives, der vor über hundert Jahren mehrere Militärkapellen gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen an einem Kirchturm vorbeilaufen zu lassen, auf dem er selbst stand.

Teil der Performance sind Kurzreden von exemplarischen Vertretern von preußisch-deutschen Kriegsgegnern aus Afrika, Ost und Westeuropa via Megaphon von einer Tribüne.

Eine Schauspielerin liest Passagen aus Originaltexten aus der Geschichte der Garnisonkirche, politische Statements, absurde Behauptungen. Die Atmosphäre ist offensichtlich alptraumhaft. Am Schluss kommen die Musiker:innen zusammen und begleiten einen Sänger zum Bachchoral “Es ist genug”, und zu Eislers viertem Antikriegslied “An die Nachgeborenen”.

Sonntag, 17. September 2023

10.00 – 17.00 Uhr: Kunst- und Kreativhaus Rechenzentrum

Symposium und Workshop
Mit Reden von Personen aus den Ländern einstiger preußisch-deutscher Kriegsgegner und – opfern über preußische Traditionen und Geschichtsverständnis heute, einem Publikumsgespräch zum Vorabend und einer Fishbowl Diskussion zur Zukunft des Glockenspiels mit den Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung, Aufbaubefürwortern und -kritikern, Geschichts-, Demokratie- und Antirassismusinitiativen.

Reden von Prof. Dr. Jan Tomasz Gross, Historiker und Soziologe, Polen, lehrt an der Princeton University/USA; Esther Muinjangue, Vizeministerin für Gesundheit und Soziale Dienste, ehemalige Vorsitzende der Ovaherero Genocide Foundation, Namibia; Sergey Lebedev, Schriftsteller, Russland, lebt in Berlin; Kateryna Mishchenko, Essayistin, Übersetzerin, Verlegerin, Ukraine, lebt in Berlin.

Fishbowldiskussion zur Zukunft des Glockenspiels mit Lutz Boede (DIE aNDERE), Saskia Hüneke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), Dominik Juhnke (ZZF), Wieland Niekisch (parteilos, früher CDU), Annette Paul (Profilgemeinde die Nächsten), Alexander D. Wietschel (Die PARTEI), Sarah Zalfen (SPD) und dem Publikum, moderiert von Laura Schenderlein (demos – Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung)

Weitere Informationen zum Programm

HINTERGRUND

Im April 1991 wurde in einem großen Festakt das Glockenspiel auf der Potsdamer Plantage eingeweiht, das von 1984 bis 1987 in der Bundeswehrkaserne in Iserlohn auf Initiative der Traditionsgemeinschaft Potsdamer Glockenspiel entstanden war. Zuvor waren einige revisionistische Inschriften zu Deutschland in den Grenzen von 1937 auf Betreiben der Stadt Potsdam durch Abschleifen entfernt worden. Andere problematische Inschriften, welche die Wehrmacht huldigten, aber verblieben. Mit dem Glockenspiel wurde über Jahrzehnte und erfolgreich für den Wiederaufbau der Garnisonkirche Potsdam geworben. Der Kirchturm ist seit 2017 in Bau und wird 2024 eingeweiht

Zugleich war das Glockenspiel seit Anbeginn Gegenstand von Kritik und Protestaktionen. Aber erst in Folge eines offenen Briefes namhafter KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen wurde das Glockenspiel Anfang September 2019, das bis dahin regelmäßig u.a. die Melodie „Üb‘ immer Treu und Redlichkeit„ spielte, abgestellt. Auch der wissenschaftliche Beirat der Stiftung Garnisonkirche bezeichnete in Folge die Inschriften „aus heutiger Sicht historisch-politisch unzumutbar“. Im Juli 2021 erfolgte auf Anregung von Befürwortern des Glockenspiels die denkmalpflegerische Unterschutzstellung mit einer fragwürdigen Begründung. Damit war die von einigen vorgeschlagene Entfernung des Glockenspiels aus Iserlohn obsolet. Wie mit dem sillgelegten Glockenspiel in Zukunft umgegangenen wird, ist offen.

Förderer
Das Festival wird gefördert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, der Bundeszentrale für politische Bildung und der Stadt Potsdam, veranstaltet vom Verein zur Förderung antimilitaristischer Traditionen in der Stadt Potsdam e.V. in Kooperation mit dem Filmmuseum Potsdam, dem Kunst- und Kreativhaus Rechenzentrum und dem Lernort Garnisonkirche. 

Idee und Gesamtkonzeption: Philipp Oswalt

 

Veranstalter

Der Lernort Garnisonkirche ist ein Projekt der Martin-Niemöller-Stiftung e.V. in  Kooperation mit Universität Kassel (Fachgebiet Architekturtheorie und Entwerfen/ Prof. Philipp Oswalt) und verschiedenen Potsdamer Gruppen

Lernort Garnisonkirche im Kunst- und Kreativhaus Rechenzentrum
Dortustraße 46, 14467 Potsdam
Öffnungszeiten: Montag bis Freitag von 8:00 bis 20:00 Uhr

info@lernort-garnisonkirche.de

www.lernort-garnisonkirche.de

Verein zur Förderung antimilitaristischer Traditionen in der Stadt Potsdam e.V.

Kontakt@antimilitaristischer-Foerderverein.de

https://antimilitaristischer-foerderverein.de/