Zur Debatte im ökumenischen und im evangelischen Raum in Deutschland
von Ulrich Frey
Darf militärische Gewalt als „ultima ratio“ angewandt werden? Diese friedensethische Schlüsselfrage ist zwar von Brisanz für das Leitbild des gerechten Friedens, ist aber nicht von allein entscheidender Bedeutung, weil die zentrale Erkenntnis des Leitbildes vom gerechten Frieden die prima ratio der Gewaltfreiheit ist. Ob ein gerechter Friede nach den Kriterien einer rechtserhaltenden Gewalt hergestellt werden kann, wird im protestantisch-kirchlichen Raum in Deutschland anhaltend und gegensätzlich diskutiert. Der Friedensbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Renke Brahms, hat in seiner Einbringungsrede über den Stand der friedensethischen Diskussion und laufende Projekte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei deren Synode im November 2017 vier Komplexe genannt, die zur Klärung „analysiert“ werden sollten, weil sie uns „friedenstheologisch, friedensethisch, friedenspolitisch und friedenspraktisch“ herausfordern (Brahms 2017). Diese vier Begriffe (Friedenstheologie, Friedensethik, Friedenspolitik, Friedenspraxis) können als Hierarchie und Geländer des Nachdenkens darüber dienen, weshalb und wie die ultima ratio militärischer Gewalt nicht nur abgelehnt, sondern auch überwunden werden kann. Sie können dazu beitragen, die in der friedensethischen Auseinandersetzung dominante und blockierende Aporie zu überwinden, also die Unmöglichkeit aufzulösen, zwischen einem „ja“ oder „nein“ zur ultima ratio zu entscheiden. Der Weg zur Auflösung der Aporie könnte über das Verständnis einer „aktiven Gewaltfreiheit“ führen. Der folgende Beitrag will Stellung nehmen. Der Abschnitt 1 beschäftigt sich mit der „aktiven Gewaltfreiheit“ in der ökumenischen Debatte, der Abschnitt 2 geht auf die Ambivalenzen durch rechtserhaltende Gewalt im Leitbild des gerechten Friedens ein, der Abschnitt 3 speziell auf die ultima ratio militärischer Gewalt als ein Kriterium der rechtserhaltenden Gewalt. Der Abschnitt 4 befasst sich mit dem „Just Policing“. Der Abschnitt 5 wagt ein Fazit und einen Ausblick.
- Stand der Diskussion in der Ökumene
1.1 Ökumenischer Rat der Kirchen
Mit der „Erklärung zur Schutzpflicht“ für gefährdete Bevölkerungsgruppen hat der ÖRK bei seiner IX. Vollversammlung 2006 in Porto Alegre ebenso wie die Internationale Kommission über Intervention und Staatensouveränität 2001 (ICISS) und wie der Beschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur „Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (2005) den Paradigmenwechsel von der „humanitären Intervention“ hin zur „Schutzpflicht“ vollzogen. Für den ÖRK spielt im Unterschied zur ICISS und der Generalversammlung der UN die „Prävention“ zur „Verhinderung und, wenn möglich, Beilegung von Krisen eine wesentliche Rolle“ (Wilkens 2007: 337). Falls die Prävention misslingt, darf Gewalt (responsibililty to react) nach Ansicht des ÖRK nur „legitimiert werden, wenn sie die Anwendung von Waffengewalt zugunsten gewaltloser Mittel beendet, unter striktester Beachtung der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Sie muss, im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen, völkerrechtlich kontrolliert werden …“ (Wilkens 2007: 339). Theologisch begründet der ÖRK seine Entscheidung mit dem Gebot der Nächsten- und Feindesliebe und dem Verbot zu töten als dem „Kern jeglicher christlichen Ethik“ (Wilkens 2007: 335). Der ÖRK spricht sich also für die Prävention aus und nur unter Bedingungen für eine ultima ratio militärischer Gewaltanwendung.
In und zwischen Kirchen des ÖRK ist trotzdem umstritten, ob militärische Gewalt zum Schutz von bedrohten Bevölkerungen ethisch zulässig oder kategorisch abzulehnen ist und nur eine gewaltfreie Prävention ethisch erlaubt ist: Deshalb hat die Vollversammlung den Zentralausschuss 2006 ersucht,
„die Möglichkeit eines Studienprozesses zu erwägen, der alle Mitgliedskirchen und ökumenischen Organisationen für die Ausarbeitung einer umfassende Erklärung zum Frieden mobilisiert, welche fest in einer klar formulierten Theologie wurzelt. Die Erklärung sollte sich u.a. mit folgenden Themen befassen: gerechter Frieden, Schutzpflicht, Rolle und Rechtsstatus nichtstaatlicher Kombattanten, Wertekonflikt (z.B. territoriale Integrität und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens). Sie sollte zum Abschluss der Dekade zur Überwindung von Gewalt 2010 angenommen werden“. (Wilkens 2007: 343).
Die Internationale Ökumenische Friedenskonvokation in Kingston/Jamaika (IÖFK) zum Abschluss der Dekade zur Überwindung von Gewalt (Mai 2011) erbrachte mangels Mandat für die Konvokation keine Entscheidung, forderte aber den ÖRK zur Klärung seiner Position heraus. „Die Geschichte führt uns, insbesondere im Zeugnis der historischen Friedenskirchen, vor Augen, dass Gewalt gegen den Willen Gottes ist und keine Konflikte lösen kann. Aus diesem Grund gehen wir über die Lehre vom gerechten Krieg hinaus und bekennen uns zum gerechten Frieden. Voraussetzung dafür ist, dass Konzepte nationaler Sicherheit, die sich exklusiv auf die eigene Nation konzentrieren, zugunsten der Sicherheit für alle überwunden werden. Dazu gehört, dass Tag für Tag daran gearbeitet werden muss, Ursachen von Gewalt vorzubeugen, das heißt, sie zu vermeiden. Viele praktische Aspekte des Konzepts des gerechten Friedens erfordern Diskussion, Urteilsfindung und weitere Ausarbeitung. Wir ringen weiter um die Frage, wie unschuldige Menschen vor Ungerechtigkeit, Krieg und Gewalt geschützt werden können. In diesem Zusammenhang stellen wir uns tiefgreifende Fragen zum Konzept der „Schutzverantwortung“ und zu dessen möglichem Missbrauch. Wir rufen den ÖRK und seine Partnerorganisationen dringend auf, ihre Haltung in dieser Frage weiter zu klären. Wir treten für vollständige nukleare Abrüstung und die Kontrolle der Weiterverbreitung von Kleinwaffen ein.“ (IÖFK 2013: 247)
Der „Aufruf zum Gerechten Frieden“, der der X. Vollversammlung des ÖRK 2013 in Busan zugrunde lag, bestätigte die Grundsatzentscheidung der IX. Vollversammlung des ÖRK im Sinne der Prävention:
„23. Während wir die völkerrechtlich begründete Autorität der Vereinten Nationen anerkennen, auf Gefährdungen des Weltfriedens im Geist und nach dem Wortlaut der Charta der Vereinten Nationen zu reagieren, einschließlich der Anwendung militärischer Gewalt innerhalb der Grenzen des Völkerrechts, fühlen wir uns als Christen und Christinnen verpflichtet, darüber hinaus zu gehen – und jede theologische oder andere Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt in Frage zu stellen und die Berufung auf das Konzept eines “gerechten Krieges“ und dessen übliche Anwendung als obsolet zu erachten.“ (Raiser und Schmitthenner 2013: 12)
Wegen des Missbrauchs der responsibililty to protect im Libyenkrieg 2011 (Regimewechsel statt Schutz der Bevölkerung), beschloss die X. Vollversammlung des ÖRK in der Erklärung über den Weg des Gerechten Friedens 2013 in Busan:
„4. Gemeinsam empfehlen wir dem Ökumenischen Rat der Kirchen
- in Zusammenarbeit mit Mitgliedskirchen und kirchlichen Diensten und Werken eine kritische Analyse der „Verantwortung zur Prävention, zur Reaktion und zum Wiederaufbau“ sowie deren Bezug zum gerechten Frieden und deren missbräuchlichen Nutzung zur Rechtfertigung von bewaffneten Interventionen durchzuführen.“ (Link et al. 2014: 404)
Die von der EKD einberufene Internationale Friedenskonsultation vom 28.9. bis 1.10.2016 in Berlin arbeitete weiter an dem Versuch einer „Verständigung über nächste Schritte hin zu einer veränderten Gestalt von „Kirche des Gerechten Friedens“ (GEP 2017a: 19). Dr. Agnes Abuom, die Vorsitzende des Zentralausschusses des ÖRK, beurteilte die Konferenz mit Blick auf die spirituelle Dimension und die praktische Transformation als einen Meilenstein des Pilgerweges der Gerechtigkeit und des Friedens, wie er in Busan begonnen worden war. Abuom betonte: „The Busan assembly made clear that we are no longer discussing concepts and theories, but we are moving forward together, working for a just peace through social change and renewal of the churches“ (GEP 2017a: 19). Sie empfahl ausdrücklich, keine „allgemeine Rezepte“ anzuwenden, sondern den konkreten Fall anzusehen:
„Imposing concepts, ideas and values from another context will not be appreciated and will not help on the ground because every local context follows its own dynamics, has its own stories and wounds, but also promises and opportunities that need to be identified and shared as resources for peace-making. But sharing best practices may facilitate an inquiry into an appropriate migration of these lessons into other contexts.“ (GEP 2017a: 21f).
Abuom nannte zehn lehrreiche ökumenische Wege des Friedenschaffens auf biblischer Grundlage nach Glen H. Stassen für einen Prozess der Deeskalation, Kommunikation, Mediation und Versöhnung zwischen Konfliktparteien:
„- support nonviolent direct action;
– take independent initiatives to reduce threat;
– use cooperative conflict resolution;
– acknowledge responsibility for conflict and injustice,
– seek repentance and forgiveness;
– advance democracy, human rights, and interdependence;
– foster just and sustainable economic development;
– work with emerging cooperative forces in the international system;
– strengthen the United Nations and international efforts for cooperation and human rights;
– reduce offensive weapons and weapons trade;
– encourage grassroots peace-making groups and voluntary association.“ (GEP 2017a: 21)
1.2 Römisch-katholische Kirche
Die Bischöfe sehen in ihrer Schrift „Gerechter Friede“ (2000) die „vorrangige Verpflichtung“ zur Gewaltfreiheit. Sie wird ernst genommen, wenn nach „Wegen gewaltvermeidender und gewaltvermindernder Konfliktbearbeitung“ in der „gewaltpräventiven Konfliktbearbeitung“ gesucht wird. Prävention kann aber nur gelingen, wenn sie politisch, sozial und wirtschaftlich vom „Geist der Gewaltfreiheit inspiriert“ ist. Gewaltfreiheit ist keine Passivität. Sie ist „eine aktive, dynamische und konstruktive Kraft …, die von unbedingter Achtung vor der menschlichen Person ausgeht.(Schlussdokument EÖV Nr. 86)“ (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2000: 41ff.). Die Zielperspektive des gerechten Friedens ermöglicht eine vorausschauende Politik“ (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2000: 37). Die Bischöfe sagen aber auch:
„Das Prinzip der Gewaltfreiheit kann mit der Pflicht konkurrieren, Menschen davor zu schützen, massivem Unrecht und brutaler Gewalt wehrlos ausgeliefert zu sein. Dann hat man den Unschuldigen, Schwachen und Bedrängten beizustehen.“ (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2000: 41)
Papst Franziskus wirbt mit starken Worten sowohl theologisch als auch praktisch-politisch für die „aktive Gewaltfreiheit“.
Papst Franziskus erklärte in seiner Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2017 die Bedeutung der Gewaltfreiheit:
„Wahre Jünger Jesu zu sein bedeutet heute, auch seinem Vorschlag der Gewaltfreiheit nachzukommen. Er ist, wie mein Vorgänger Benedikt XVI. sagte, »realistisch, denn er trägt der Tatsache Rechnung, dass es in der Welt zu viel Gewalt, zu viel Ungerechtigkeit gibt; eine solche Situation kann man nur dann überwinden, wenn ihr ein Mehr an Liebe, ein Mehr an Güte entgegengesetzt wird. Dieses „Mehr“ kommt von Gott«. Und mit großem Nachdruck fügte er hinzu, dass »Gewaltlosigkeit für die Christen nicht ein rein taktisches Verhalten darstellt, sondern eine Wesensart der Person und die Haltung dessen, der so sehr von der Liebe Gottes und deren Macht überzeugt ist, dass er keine Angst davor hat, dem Bösen nur mit den Waffen der Liebe und der Wahrheit entgegenzutreten. Die Feindesliebe bildet den Kern der „christlichen Revolution“. «Zu Recht wird das Evangelium von der Feindesliebe (vgl. Lk 6,27)» als die Magna Charta der christlichen Gewaltlosigkeit betrachtet; sie besteht nicht darin, sich dem Bösen zu ergeben […] sondern darin, auf das Böse mit dem Guten zu antworten (vgl. Röm 12,17-21), um so die Kette der Ungerechtigkeit zu sprengen.“ (GEP 2017b: 19)
Und in Bezug auf verantwortliche Leiter in der Auseinandersetzung um den rechten Weg sagt Franziskus:
„Das ist auch ein Programm und eine Herausforderung für die politischen und religiösen Leader, für die Verantwortungsträger der internationalen Einrichtungen und für die Leiter der Unternehmen und der Medien der ganzen Welt: die Seligpreisungen in der Art der Ausübung ihrer Verantwortung anzuwenden. Eine Herausforderung, die Gesellschaft, die Gemeinschaft oder das Unternehmen, für das sie verantwortlich sind, im Stil der Friedenstifter aufzubauen; Barmherzigkeit zu beweisen, indem sie es ablehnen, Menschen auszusondern, die Umwelt zu schädigen oder um jeden Preis gewinnen zu wollen. Das erfordert die Bereitschaft, »den Konflikt zu ertragen, ihn zu lösen und ihn zum Ausgangspunkt für einen neuen Prozess zu machen«. …. Alles in der Welt ist eng miteinander verbunden. Gewiss, es kann geschehen, dass die Verschiedenheiten Reibereien erzeugen: Gehen wir sie konstruktiv und gewaltlos an, so dass die Spannungen und die Gegensätze zu einer vielgestaltigen Einheit führen können, die neues Leben hervorbringt und die wertvollen Möglichkeiten der kollidierenden gegensätzlichen Standpunkte beibehält“. (GEP 2017b: 21)
Die Position von Franziskus korrespondiert mit den Ausführungen der badischen Landeskirche (s. 3.2) und von Fernando Enns für die Friedenskirchen (s. 3.4) über die „aktive Gewaltfreiheit“ „als Überbietung der reinen Nächstenliebe hin zur Feindesliebe, weil Gott selbst sich der ‚Feinde‘ erbarmt hat und die Sünder ‚rechtfertigt‘. Das ist der biblische Kern, vor dem sich jede Aussage christlicher Ethik rechtfertigen muss.“ (Enns 2013: 100)
1.3 Orthodoxe Kirchen
III. Präkonziliare Panorthodoxe Konferenz Chambésy/Genf 1986
Der Beschluss zu IV. Frieden und Gerechtigkeit (Auszug) äußert sich nicht grundsätzlich zur Gewaltfreiheit:
„Die Orthodoxie verurteilt generell den Krieg, den sie für eine Folge des Bösen und der Sünde in der Welt hält. Sie hat Kriege nur als Zugeständnis erduldet und zur Wiederherstellung der zertretenen Gerechtigkeit und Freiheit.
- Sie zögert daher nicht zu erklären, daß sie gegen jegliche Form der Aufrüstung ist – sei es im konventionellen oder atomaren Bereich oder auch im Weltraum – gleichgültig von welcher Seite sie auch immer angestrebt werden. Denn jeder Krieg, besonders der atomare Krieg, hat die Zerstörung der Schöpfung und die Vernichtung des Lebens auf der Erde zur Folge….“ (Ökumenische Centrale: 22)
Panorthodoxes Konzil auf Kreta 2016
Das Panorthodoxe Konzil orthodoxer Kirchen 2016 auf Kreta im Bereich des Ökumenischen Patriachats Konstantinopel, an dem keine Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche und der orthodoxen Kirchen Antiochien, Bulgarien und Georgien teilnahmen, differenziert nicht zwischen der Gesamtheit der Kirchen in der Ökumene und der nationalen Kirche. Für die „Unvermeidbarkeit“ des Krieges werden keine Kriterien genannt außer Leben und Freiheit der Gläubigen der eigenen Kirche:
„2.. Die Kirche Christi betrachtet prinzipiell den Krieg als Folge des Bösen und der Sünde in der Welt und unterstützt jede Initiative und Anstrengung zu seiner Verhütung und Abwendung durch Dialog und jedes andere geeignete Mittel. Im Fall, dass der Krieg unvermeidbar ist, wirkt die Kirche durch Gebet und Seelsorge für ihre Gläubigen, die in kriegerische Handlungen zur Verteidigung ihres Lebens und ihrer Freiheit verstrickt sind, und unternimmt alles zur schnellstmöglichen Wiederherstellung des Friedens und der Freiheit.“ (GEP 2017b: 28)
- Ambivalenzen durch rechtserhaltende Gewalt im Leitbild des gerechten Friedens
Die Denkschrift der EKD „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ (2007) widmet der „rechtserhaltenden Gewalt“ im 3. Kapitel „Gerechter Frieden durch Recht“ ein Unterkapitel 3.2 „’Rechtserhaltende Gewalt‘ statt ‚gerechter Krieg’“. Zu Beginn wird festgestellt: „Recht ist auf Durchsetzbarkeit angelegt“. Als „allgemeine Kriterien einer Ethik rechtserhaltender Gewalt“ werden dann aufgeführt: Erlaubnisgrund, Autorisierung, richtige Absicht, äußerstes Mittel (ultima ratio), Verhältnismäßigkeit der Folgen, Verhältnismäßigkeit der Mittel, Unterscheidungsprinzip. Zur Legitimation von Gegengewalt müssen alle genannten Kriterien erfüllt sein (EKD 2007: Ziffern 98ff.). Anschließend werden unter 3.3 der Denkschrift die Grenzen rechtserhaltender Gewalt aufgezeigt (EKD 2007: Ziffern 102-123). Der Begriff „Recht“ bezieht sich dabei nicht auf ein „faktisch gegebenes Rechtssystem, sondern normativ auf die in den grundlegenden Menschenrechten und einer legitimen Völkerrechtsordnung konkretisierte Rechtsidee. Die Erhaltung des Rechts schließt als ultima ratio seine gewaltsame Durchsetzung nicht aus“ (EKD 2013: 12).
Die Kriterien rechtserhaltender Gewalt sind in die Diskussion geraten. Gefordert wird, sie zu überdenken und die Denkschrift der EKD fortzuschreiben, aber nicht neu zu verfassen. Der Friedensbeauftragte des Rates der EKD Renke Brahms hat in seiner Einbringungsrede bei der EKD-Synode 2017 (Brahms 2017) vier Komplexe genannt, die die allgemeinen Kriterien der Anwendbarkeit der rechtserhaltenden Gewalt in Frage stellen:
– die Wandlung von gewalttätigen Konflikten und Kriegen von zwischenstaatlichen zu innerstaatlichen und überstaatlichen Konflikten,
– die Zusammengehörigkeit von äußerer und innerer Sicherheit,
– eine zunehmende Polarisierung von nationaler und internationaler Politik,
– eine zunehmende Gewöhnung an eine militärische Lösung.
Damit sind Ambivalenzen angesprochen, also zwiespältige oder doppeldeutige Interpretationen bei der Anwendung der allgemeinen Kriterien und kritische Fragen, wie ein gerechter Friede unter diesen Umständen gestaltet werden kann. Die Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD nennt in ihrer Auswertung des Afghanistan-Krieges im Jahre 2013 einige Ambivalenzen:
„(54) Im Blick auf den Afghanistan-Einsatz stellt sich allerdings die ernste Frage, ob nicht die militärischen Mittel eine Eigendynamik entwickelt haben, die dazu führte, dass das Leitbild des „gerechten Friedens“ aus dem Zentrum des Handelns herausgerückt ist. Auch wenn anzuerkennen ist, dass die Einsatzregeln für COM ISAF zivile Verluste und Schäden so weit wie möglich zu vermeiden suchen, kommen Beobachter zu dem Urteil, dass der Einsatz von militärischer Gewalt — als Reaktion auf die asymmetrische Gewaltanwendung der oppositionellen militärischen Kräfte — an manchen Orten zu einer Spirale der Gewalteskalation geführt hat, die nur schwer rechtlich eingehegt oder in rechtsstaatliche Formen überführt werden konnte. Konsens innerhalb der Kammer war es, dass ein möglichst umfassendes friedenspolitisches Konzept unter Einschluss von Szenarien für die Beendigung des Einsatzes für den Afghanistan-Einsatz gefehlt hat (und noch fehlt). Aufgrund dieser konzeptionellen Leerstelle gab und gibt es auf Seiten der intervenierenden Staaten eine Unsicherheit im Urteil über Art und Umfang der einzusetzenden Mittel, dies auch in Hinblick auf konsistente Abstimmungen aller Truppen stellenden Nationen. Insbesondere zeigt sich, dass das Verhältnis von militärischen und zivilen Anteilen sowohl für den deutschen Einsatz als auch für die internationalen Partner des Afghanistaneinsatzes einer genaueren Abstimmung bedurft hätte.
(56) Im Arbeitsprozess der Kammer ergaben sich eine Reihe von konkreten politischen Anregungen und Aufgaben für die ethische Urteilsbildung, die in der Friedensdenkschrift noch nicht gesehen werden konnten.
- Für die politischen Verfahren der Mandatierung von Einsätzen durch den Deutschen Bundestag legt es sich nahe, den militärischen Teil in eine umfassende Mandatierung einzubinden, in der die zivilen friedenspolitischen Ziele und Maßnahmen konkretisiert werden.
- Die Friedensdenkschrift unterzog die Kriteriologie des „gerechten Krieges“ einer umfassenden Revision und ordnete sie dem ethischen Leitbild des „gerechten Friedens“ unter. Damit konzentrierte sie sich stark auf ein völkerrechtskonformes ius ad bellum, das konsequent zu einem ius contra bellum weiter zu entwickeln sei. Aus den Erfahrungen der Auslandseinsätze der Bundeswehr erscheint es geboten, künftig den ethischen Fragen des ius in bello, d.h. der Beachtung und Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts stärkere Aufmerksamkeit zuzumessen. Hierzu gehört unter anderem die umstrittene Frage, welchen Status Parteigänger in Anspruch nehmen können, die sich außerhalb von direkten Kampfhandlungen bewegen, gleichwohl aber im dringenden Verdacht stehen, an Kampfhandlungen beteiligt zu sein oder solche direkt zu unterstützen. Außerdem ist eine gründlichere ethische Reflexion der verantwortlichen Beendigung von militärischen Einsätzen erforderlich.
- Drängende Fragen ergeben sich durch den Einsatz der „Drohnen“-Technologie. Eine sorgfältige ethische Bewertung steht noch aus, wird aber auch mit Blick auf verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Bedenken zunehmend in der medialen und politischen Öffentlichkeit eingefordert.“ (EKD 2013: 49f.)
Ambivalenzen stellt auch der Mennonit Fernando Enns fest u.a. bei der mangelnden Autorität und dem mangelnden Gewaltmonopol der Vereinten Nationen (Enns 2017: 5). Im Blick auf das gescheiterte Kalifat des IS fragt der Ausschuss für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche im Rheinland: Was bedeutet es, wenn terroristische Gewalt die Gestalt staatlicher Macht annimmt und alle gültigen Regeln des Rechts und des Völkerrechts missachtet? (EKIR 2014). Von pazifistischer Seite aus kritisiert Albert Fuchs die Denkschrift des Jahres 2007 ausführlich und gründlich. Benannt wird u.a, diese Denkschrift setze sich nicht in gleicher Weise mit dem unbedingten Pazifismus auseinander wie die aus dem Jahre 1984. Weil die neue Denkschrift sich nur auf die „vorrangige Option für die Gewaltfreiheit“ beziehe, lasse sie die grundlegende Frage ohne Antwort, ob „Töten von Menschen zum Schutz von Menschen nicht ein in sich verwerfliches Mittel“ sei (Fuchs 2008). Auch der Präsident des Internationalen Versöhnungsbundes, Deutscher Zweig, Ullrich Hahn, weist auf Fehlstellen der EKD-Denkschrift betreffend den grundsätzlichen Pazifismus hin (Hahn 2008).
- Speziell: Zum Kriterium der ultima ratio
3.1 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)
Die EKD spricht sich in ihrer Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ (2007) im Sinne einer ultima ratio für eine „vorrangige Option für die Gewaltfreiheit“ aus, schließt also militärische Gewalt nicht aus, falls andere Mittel der Konfliktaustragung versagen (EKD 2007: Ziffer 60). Militärische Gewalt darf nur nach Kriterien der „rechtserhaltenden Gewalt“ (EKD 2007 : Ziffern 98ff.) ausgeübt werden:
„Das christliche Ethos ist grundlegend von der Bereitschaft zum Gewaltverzicht (Mt 5,38ff) und vorrangig von der Option für Gewaltfreiheit bestimmt. In einer nach wie vor friedlosen, unerlösten Welt kann der Dienst am Nächsten aber auch die Notwendigkeit einschließen, den Schutz von Recht und Leben durch den Gebrauch von Gegengewalt zu gewährleisten (vgl. Röm 13,7). Beide Wege, nicht nur der Waffenverzicht, sondern ebenso der Militärdienst setzen im Gewissen und voreinander verantwortete Entscheidungen voraus.“(EKD 2007: Ziffer 60)
3.2 Evangelische Landeskirche in Baden
Die Synode der Evangelischen Landeskirche in Baden hat sich am 24.10.2013 entgegen der Position der EKD entschieden, theologisch und in der Praxis der Kirche auf die „aktive Gewaltfreiheit“ zu setzen. Die badische Landeskirche unterscheidet klar zwischen der Theologie des gerechten Friedens und der Praxis seiner Umsetzung. In einem Diskussionsbeitrag unter dem Titel „Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“ für die Praxis der Landeskirche benennt die Synode darin u.a. drei „friedensethische Wegweiser“:
„1. Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“: Das weite Verständnis vom gerechten Frieden und die Praxis der Gewaltfreiheit Jesu fordern uns zu einem Weg heraus, auf dem theologisches Nachdenken und kirchliche Praxis unbedingt zusammen gehören und einander beeinflussen. Dieser Weg kann nicht verordnet werden, sondern hängt vom Engagement vieler ab. Er ist deshalb einladend und bemüht, auch kontroverse Fragen im Sinne der Friedensverheißung auszutragen.
2. Im Mittelpunkt dieses Weges steht die Praxis der aktiven Gewaltfreiheit. Diese zu lernen und zu lehren ist eine zentrale Aufgabe von Kirche. Sie entspricht damit ihrem Auftrag, Kirche des Friedens zu sein.
3. Gerechter Friede fordert uns heraus, vom Frieden her zu denken und die Konsequenzen unseres Handelns im Blick auf alle Dimensionen des gerechten Friedens zu betrachten. Im Zusammenhang mit der Friedenskonvokation in Kingston/Jamaika wurde der Friedensbegriff in vier Dimensionen entfaltet:
- Frieden in der Gemeinschaft: Hier kommen alle Themen des friedlichen Miteinanders im Nahbereich in den Blick
- Frieden mit der Erde: Hier werden alle Fragen des Umgangs mit der Schöpfung und den in ihr vorhandenen Ressourcen thematisiert.
- Frieden in der Hier geht es um ein gerechtes Wirtschaften global wie regional, das dem Frieden dient.
- Frieden zwischen den Völkern: Hier kommen die friedensethischen Fragen im engeren Sinn sowie alternative zivile Schritte der Konfliktbearbeitung und prävention in den Blick.“(GEP 2017b: 51ff., Punkt 2.5)
Im Anschluss daran fasst die badische Landeskirche ihre friedensethische Position wie folgt zusammen:
„Carl Friedrich von Weizsäcker hatte schon 1963 erklärt: „Der Krieg als Institution muss in einer fortlaufenden Anstrengung abgeschafft werden“. Angesichts der schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wurde sowohl von der Ökumene und von den Vereinten Nationen, als auch von der badischen Landeskirche wiederholt die Ächtung des Krieges ausgesprochen: „Krieg scheidet als Mittel der Politik aus und darf nach Gottes Willen nicht sein!“ Daher muss der Tendenz gewehrt werden, den Krieg wieder als normales Mittel der Politik anzusehen und wirtschaftliche Interessen mit militärischen Mitteln durchzusetzen. In der Konsequenz bedeutet dies, auf militärische Einsätze zu verzichten.
In der Nachfolge Jesu Christi steht uns eine Fülle ziviler, gewaltfreier Mittel zur Verfügung, um uns national und international für gerechten Frieden einzusetzen. Als Christen sehen wir für diesen Weg alle Verheißungen. So kann wirkliche Versöhnung zwischen verfeindeten Parteien wachsen.
In Ergänzung zu gewaltfreien Mitteln der Konfliktbearbeitung sind allein rechtsstaatlich kontrollierte polizeiliche Mittel ethisch legitim. In kriegsähnlichen Konfliktsituationen, die die nationalen Polizeikräfte überfordern, ist an internationale, durch das Völkerrecht legitimierte z.B. den Vereinten Nationen unterstehende Polizeikräfte zu denken.“ (G E P 2 0 1 7 b : 51ff., P u n k t 2 . .6) (siehe auch Punkt 4: Just Policing)
Der Gesprächskreis Forum Friedensethik“ (FFE) in der Evangelischen Landeskirche in Baden unterstützt die Landeskirche mit dem Karlsruher Aufruf an die EKD „Gewaltfrei für den Frieden“ vom 30.9.2016:
„Wir bitten den Rat und die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) um die Weiterentwicklung ihrer friedensethischen Position im Sinne der aktuellen landeskirchlichen und ökumenischen Diskussionen.
Die EKD braucht ein klares friedensethisches Leitbild zur Überwindung des Krieges. Die Bereithaltung, Androhung und Anwendung militärischer Gewalt wird nicht mehr kirchlich mitgetragen, auch nicht als äußerstes Mittel (ultima ratio), wie es in der EKD-Friedensdenkschrift 2007 vertreten wird. Dies entspricht der Nachfolge des auf Gewalt verzichtenden Jesus Christus.
Die EKD möge sich in Gesellschaft und Politik für einen friedenspolitischen Wandel engagieren, weg von der gegenwärtigen, auf militärischer Stärke und Einsatzbereitschaft basierenden Sicherheitslogik hin zu einer friedenslogischen Politik, die auf gewaltfreie Konfliktbearbeitung und eine gerechte Weltwirtschaftsordnung setzt. Wie die EKD-Ostdenkschrift von 1965 ein wichtiger Impuls für die dann einsetzende Ost-West-Entspannungspolitik war, könnte eine friedenslogische EKD-Denkschrift eine Neuorientierung in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik anregen und fördern.“ (GEP 2017b: 64)
3.3 Stellungnahmen aus der evangelischen Militärseelsorge
Stellungnahme des Militärdekanats München vom 21. Mai 2012 zum Positionspapier „Friedensethik“ der Ev. Landeskirche in Baden
Das Militärdekanat München der Militärseelsorge spricht sich unter Berufung auf die 5. These der Barmer Theologischen Erklärung und die „noch nicht erlöste Welt“ für die ultima ratio aus:
„ … Christliche Verantwortung in der noch nicht erlösten Welt. Die Sorge für Recht und Frieden, die zur Verantwortung in der noch nicht erlösten Welt gehört, kann dazu führen, dass es „nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens“ zur Anwendung von Gewalt kommen kann (Barmer Theologische Erklärung, These 5). Aus christlicher Sicht macht die Anwendung von Gewalt allerdings grundsätzlich schuldig. Dabei ist es unerheblich, welche Form von Gewalt ausgeübt wird – und sei es auch nur verbale Gewalt. Für die dem Positionspapier zugrundeliegende Fragestellung der grundsätzlichen Ablehnung von Gewalt hilft daher die dort getroffene Unterscheidung von militärischer und polizeilicher Gewalt nicht weiter.“ (GEP 2017b: 57, Punkt II.1)
Anmerkungen des Militärdekans Dr. Klaus Beckmann, Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr, zum Friedenswort der Evangelischen Kirche im Rheinland 2018
„Militärseelsorge vertritt entschieden den Primat ziviler Konfliktlösungen und ein vernetztes, proaktives Vorgehen zur Überwindung ungerechter Strukturen, akzeptiert aber in Solidarität mit Bedrohten und Unterdrückten militärische Gewalt als ultima ratio.
– Militärseelsorge hilft mit, jedem Soldaten ein eigenes kritisches Urteil zu Einsatzzwecken und -zielen zu ermöglichen; sie setzt auf Transparenz und Reflexion.
– Sie wagt es, dort Menschen zur Seite zu stehen, wo Entscheidungen im ethischen Grenzbereich getroffen werden müssen.
– Kirche unter den Soldaten tritt dabei nicht besserwisserisch, sondern ermutigend und tröstend auf, schafft insbesondere auch ein Verständnis für Schuld und Vergebung.
– Damit löst Kirche die nach 1945 u. a. im Stuttgarter Schuldbekenntnis und im (ersten) Darmstädter Wort gegebene Zusage ein, öffentliche Wohlfahrt mit zu verantworten.“ (Beckmann 2018)
3.4 Friedenskirchen und Freikirchen
Die Evangelisch-methodistische Kirche in Deutschland (EmK) möchte, wie in ihrem Friedenswort vom März 2017 ausgeführt, das „ethische Dilemma überwinden“, in das die ultima ratio militärischer Gewalt führt. Aber: „Der Einsatz von Gewalt als letztem Mittel nimmt eine Relativierung von Jesu Weg der Gewaltlosigkeit in Kauf. ‚Das Zentrum des eigenen Glaubensbekenntnisses – die Erlösung in Christus selbst – wird in Frage gestellt, wenn die Unerlöstheit dieser Welt‘ als Argument für das unerlöste Handeln der Christen ins Feld geführt wird’… Wer militärische Gewalt als Mittel der Politik aus ethisch begründeten Motiven für notwendig hält, bleibt letztlich in der Logik der Gewalt gefangen – mit all ihren Konsequenzen. Hier gilt es neue Handlungsfelder zu entdecken, die sich an Jesu Lehre und Praxis, die in der Bergpredigt gründen, orientieren. Denn Gewaltlosigkeit bedeutet nicht Tatenlosigkeit.“ (GEP 2017b: 86)
Friedenskirchen: Kommentar von Prof. Dr. Fernando Enns (Mennonit) zum „Entwurf eines Positionspapiers zur Friedensethik“ der Evangelischen Landeskirche in Baden
Wie der Papst und die badische Landeskirche stellt auch Fernando Enns für die Friedenskirchen die „aktive Gewaltfreiheit“ als die prima ratio heraus. Sie fordert auf, vom Frieden her zu denken (si vis pacem, para pacem). Theologischer leitender Grund ist die Feindesliebe. Der tiefste Grund dafür liege nach Paulus in der Rechtfertigung allein aus Glaube (Röm 1,17) (GEP 2017b: 49). Bezogen auf die responsibility to react versucht Enns das ethische Dilemma in Frageform so einzugrenzen: „Kann eine theologisch begründete Ethik einen allein auf Gewaltabwehr und Gewaltminderung begrenzten Einsatz von (jetzt ergänzt:) nicht-tötenden (polizeilichen) Zwang legitimieren, allein zu dem Zweck, diejenigen zu schützen, die unmittelbar an Leib und Leben bedroht sind und die zu solchem Schutz aufrufen, wenn alle gewaltfreien Mittel ausgeschöpft sind?“ (Enns 2013: 108)
Ein zentraler theologischer Streitpunkt ist die Bewertung der V. Barmer These für die Rechtfertigung von Gewalt: „Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.. “ Dazu Enns:
„ … Die Rede von der „Verantwortung in der noch nicht erlösten Welt“.
Dieses theologische Argumentationsmuster ist ein Relikt aus der Zeit, in der man noch an den „gerechten Krieg“ als Christenpflicht glaubte. Spätestens seit den Erfahrungen des 2. Weltkrieges ist gerade in der deutschen Theologie klar geworden: Die Unerlöstheit der Welt legitimiert gerade nicht unser unerlöstes Handeln, sondern fordert gerade das erlöste Handeln der Christen heraus. Kein Zweifel: diese Welt harrt noch ihrer Vollendung, der Neuschöpfung durch die Gnade Jesu Christi. Aber die, die tatsächlich an die geschehene Erlösung in Christus glauben, partizipieren bereits an dieser erlösten Wirklichkeit, die mit Christus in die Welt kam, um diese zu transformieren. Wer die Unerlöstheit der Welt zum Argument nutzen will, ein unerlöstes Leben als Christ zu führen, stellt damit nicht weniger als die Erlösung in Christus selbst in Frage.
Dass wir mit der Realität des Bösen konfrontiert sind, dass wir – als diejenigen, die die Erlösung glauben – mitten in diese Welt gestellt sind, dafür ist uns das Kreuz Christi das eindrücklichste Zeichen. So wie Jesus dem Bösen der Welt nichts ausgewichen ist, so können auch wir ihm nicht ausweichen. Daraus wird aber kein Argument, das Töten zu lernen, sondern wächst ja gerade Herausforderung, das eigene Erlöstsein mitten in den Konflikten dieser Welt zu bezeugen – so bruchstückhaft und kläglich wie das auch immer gelingen mag. Das ist die Verantwortung, von der hier zu reden ist. Es ist ein Festhalten an der zugesagten und im Christusgeschehen vollbrachten Gnade Gottes, die uns zu einem solchen Zeugnis von der Wahrheit der Erlösung befreit. Gerade die unerlöste Welt braucht dieses leuchtende Zeugnis der Kirche – niemals umgekehrt: kirchliches Handeln und Argumentieren geleitet zu wissen vom Dunkel der
unerlösten Welt.“ (GEP 2017b: 61f. Zu II.1)
3.5 Die Kontroverse zur Frage der ultima ratio militärischer Gewalt in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland
Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland hat einen lehrreichen Diskurs zum Dilemma von Gewaltanwendung vorzuweisen. In Kapitel II des 1. Beschlusses der Synode vom 2.-4.3.2017, den die Synode zwecks weiterer Diskussion als Impuls ohne Entscheidung gelassen hatte, wird militärische Gewalt klar und deutlich abgelehnt:
„Kapitel II Gewalt überwinden
Absicherung oder Herstellung friedlicher Zustände mit militärischer Gewalt kann dauerhaft nicht gelingen. Alle Versuche, Recht und Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung mit militärischer Gewalt durchzusetzen, führen weg von Gottes heilsamem Handeln. Wir lehnen die Legitimation von militärischem Eingreifen in Konflikte als ultima ratio ab. Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein.
Gleichwohl wissen wir, dass wir als Kirche im Feld der politischen Argumentation keinen besonderen Wahrheitsanspruch behaupten können. Wir stellen uns der offenen politischen Diskussion. Besonders die Frage, ob äußerstes Unrecht unter wenigen spezifischen Kriterien nur noch mit Waffengewalt begrenzt werden kann, treibt uns um. Obwohl wir als Kirche dies aus Gewissensgründen verneinen, akzeptieren wir unter bestimmten von den Vereinten Nationen vorgegebenen Kriterien die Einschätzung anderer, dass nur durch militärische Gewalt ein noch größeres Unrecht verhindert werden kann. Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass wir als Kirche niemals zu den Waffen rufen können.“ (GEP 2017b: 77)
Nach erneuter Beratung entschied die Landessynode vom 16.-18.11.2017 im Sinne der Überwindung von Gewalt zu Kapitel II des Beschlusses:
„Das bedeutet für uns als Kirche
Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein, wie es schon die Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948 formuliert hat. Absicherung oder Herstellung friedlicher Zustände mit militärischer Gewalt kann dauerhaft nicht gelingen. Alle Versuche, Recht, Gerechtigkeit und Frieden mit militärischer Gewalt durchzusetzen, führen weg von christlich-ethischen Vorstellungen. Deshalb wollen wir gemeinsam mit anderen Akteuren Konfliktlösungsmodelle entwickeln, die dem Konzept der Friedenslogik folgen. Wir stellen uns der politischen Diskussion und organisieren den innerkirchlichen Diskurs dazu. Besonders die Frage, ob äußerstes Unrecht unter wenigen spezifischen Kriterien nur noch mit Waffengewalt begrenzt werden kann, bringt uns in ethische Dilemmata. Viele in der Kirche verneinen dies aus Gewissensgründen. Andere halten es für möglich, dass zur Abwendung humanitärer Katastrophen militärische Gewalt in begrenztem Ausmaß und unter Einhaltung der Verhältnismäßigkeit angewendet werden darf. Die von der EKD vorgeschlagenen und weiter zu entwickelnden Kriterien sollen dabei eine zentrale Entscheidungsgrundlage sein. Wir führen diese Auseinandersetzungen um den richtigen Weg, wie Gewalt überwunden werden kann, in gegenseitiger Wertschätzung auch unterschiedlicher Gewissensentscheidungen.“ (Nordkirche 2017)
3.6 Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR)
Die Landessynode der EKiR hat am 11.1.2018 in ihrem Diskussionsentwurf zum Friedenswort beschlossen:
„Kirche des gerechten Friedens sein bedeutet, Krieg und kriegerische Mittel als Möglichkeit der Konfliktlösung, als „ultima ratio“, zu überwinden, Schritt für Schritt. Gewaltfreie Lösungen sind möglich. Sie sind schmerzhaft, weil sie eigene, besonders wirtschaftliche, Interessen berühren. Sie sind langwierig und müssen mühsam gelernt werden. Sie sind aber die Lösungen, die sich als roter Faden durch die Bibel ziehen und biblisch geboten sind.“ (EKIR 2018: 8)
Im Entwurf, der der Synode vorlag, hieß es noch „abzulehnen und zu überwinden“. Die Synode hat das Wort „abzulehnen“ gestrichen.
Dieses Votum der EKiR hat einen Vorlauf. In der Argumentationshilfe „Ein gerechter Friede ist möglich“ (2005) wird schon dargelegt, daß ein grundsätzlicher, ein argumentativer oder ein Verantwortungspazifismus dem Leitbild des gerechten Friedens zugrunde liegen können. Alle müssten sich in der Realität unter den jeweils aktuellen theologischen und gesellschaftspolitischen Gegebenheiten bewähren. Alle arbeiten friedenspolitisch auf eine Vorbeugung gegen Gewalt hin (EKiR 2018: 8). Der Ständige Ausschuss für Öffentliche Verantwortung der EKiR lehnte am 21.10.2014 u.a. im Falle des IS-Terrors im Nordirak und in Syrien den US-amerikanischen Luftangriff auf IS-Stellungen und deutsche Waffenlieferungen an die Peschmerga-Milizen mit Hinweis auf die prima ratio der Gewaltfreiheit nach Prüfung der Kriterien der Ethik rechtserhaltender Gewalt ab (EKiR 2014).
- Just Policing
Als Ansatzpunkte, das Dilemma der ultima ratio durch die Förderung von aktiver Gewaltfreiheit zu überwinden, sind in dem vorstehenden Text die Unterthemen Friedenstheologie, Friedensethik, Friedenspolitik und Friedenspraxis beispielhaft genannt worden. Im Hinblick auf die projektierte EKD-Synode 2019 zum großen Thema „Frieden“ liegt es nahe, die Hierarchie der vier Unterthemen und ihre Zusammenhänge zur Profilierung der aktiven Gewaltfreiheit zu vertiefen.
Ein anderer Ansatzpunkt ist die Frage, ob militärische Gewalt durch polizeiliches Handeln (Just Policing) abgelöst werden kann. Die badische Landeskirche hat die mennonitisch-katholisch begonnene Diskussion fortgeführt, die schon in der Friedensdenkschrift der EKD 2007 angedacht wird (EKD 2005: Ziffer 104). Werkner hat dazu gutachterlich geschrieben:
„Just Policing ist auf ein funktionierendes Gewaltmonopol der Vereinten Nationen angewiesen. Auch wenn mit dem UN-Sicherheitsrat ein Autorisierungsmonopol für die Anwendung von Gewalt vorliegt, fehlt ein rechtsstaatlich eingehegtes Gewaltmonopol. Angesichts einer nur unvollständigen Weltinnenpolitik verbleibt Just Policing gezwungenermaßen unterhalb der Schwelle der militärischen ultima ratio. Damit bleibt die grundlegende friedensethische Frage nach der Legitimation militärischer Gewaltanwendung weiterhin bestehen und internationale Polizeikräfte in der akuten Konfliktphase auf die Kooperation mit dem Militär angewiesen.
[…]
Just Policing zielt aber – und darin sehe ich die Chance dieses Konzeptes – auf Gewaltminimierung. Es fokussiert auf die Ursachen von Gewalt und könnte – konstruktivistisch argumentiert – durch veränderte Wahrnehmungen einen neuen Ansatz im internationalen Umgang mit Konflikten etablieren und neue Perspektiven in der Konfliktprävention eröffnen, womit sich im Sinne des gerechten Friedens und angesichts der Prozesshaftigkeit des Friedens auch die Schwelle der militärischen ultima ratio sukzessive verschieben ließe.“ (Werkner 2017: 888)
Das bedeutet, dass das Just Policing kein neues Paradigma ist, sondern dazu auffordert, verbindliche Konzepte der Gewaltminderung zu suchen, in die das Just Policing integriert ist.
- Fazit und Ausblick
Den grundlegenden friedenstheologischen Ansatz hat Fernando Enns vorgegeben: „Erlöstes“ Handeln ist nicht mit „(noch) unerlösten“ Mitteln möglich. Friedensethisch bedeutet dies, Mittel und Möglichkeiten der „aktiven Gewaltfreiheit“ zu entwickeln und zu nutzen, im Wesentlichen zur Prävention. Friedenspolitisch bedeutet es, einer Friedenslogik statt einer Sicherheitslogik zu folgen (Birckenbach 2016 und 2014). Friedenspraktisch erfordert dies entsprechendes Handeln auf allen Ebenen und in allen Kontexten, die lokal und inhaltlich sehr verschieden sind, aber inhaltlich miteinander verbunden sind.
Der vorstehende Beitrag plädiert für die aktive Gewaltfreiheit als Möglichkeit der konstruktiven Reaktion auf das Dilemma Gewaltfreiheit vs. Anwendung militärischer Gewalt. In Konkurrenz dazu steht, in der „noch unerlösten Welt“ mit „noch unerlösten“ Mitteln der Gewalt zu agieren und auf Vergebung der daraus entstehenden Schuld zu hoffen. Mit der Position eines grundsätzlichen Pazifismus, der jede kriegerische Handlung oder Beteiligung ohne Ausnahme ablehnt, hat die Position der aktiven Gewaltfreiheit aber Schnittmengen in der Intention.
Die Kontroverse um die ultima ratio militärischer Gewalt wird nach Beobachtung des Autors mit gegenseitiger Ausschließlichkeit geführt. Sie wird als eine Aporie wahrgenommen und führt in eine Sackgasse. Die aktive Gewaltfreiheit dagegen eröffnet die Perspektive, mit einer friedenstheologischen Argumentation der prima ratio und der friedensethischen Neubewertung der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen auch einen friedenspolitischen Wechsel zu generieren. Dass dergleichen möglich ist, zeigt die Geschichte der Abschaffung der Sklaverei und die Überwindung der Lehre vom gerechten Krieg zugunsten des Leitbildes vom gerechten Frieden. Auch die EKD selbst hat in ihrer Denkschrift von 2007 ihre Zustimmung zur These VIII der Heidelberger Thesen von 1959 in der Denkschrift „Frieden wahren, fördern und erneuern“ aus dem Jahre 1982 aufgegeben, die lautet: „Die Kirche muss die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen.“ (EKD 1982: 33 und 83) Wegen einer „veränderten politischen Situation“ urteilte die EKD im Jahre 2007 gegensätzlich: „Die Tauglichkeit der Strategie der nuklearen Abschreckung ist jedoch in der Gegenwart überhaupt fraglich geworden. Aus der Sicht evangelischer Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden.“ (EKD 2007: Ziffer 161) Zur Überwindung des allseits beklagten Dilemmas, in das die ultima ratio militärischer Gewaltanwendung führt, kann auch die Definition des gerechten Friedens helfen, die mit dem „Ökumenischen Aufruf zum gerechten Frieden“ von der X. Vollversammlung der ÖRK 2013 in Busan gebilligt worden ist: „Im Bewusstsein der Grenzen von Sprache und Verstehen schlagen wir vor, gerechten Frieden als einen kollektiven und dynamischen, doch zugleich fest verankerten Prozess zu verstehen, der darauf ausgerichtet ist, daß Menschen frei von Angst und Not leben können, dass sie Feindschaft, Diskriminierung und Unterdrückung überwinden und die Voraussetzungen schaffen können für gerechte Beziehungen, die den Erfahrungen der am stärksten Gefährdeten Vorrang einräumen und die Integrität der Schöpfung achten.“ (Raiser und Schmitthenner 2013: 9)
Bad Honnef, den 13. April 2018 Ulrich Frey (Kontakt: ulrich.frey@web.de)
Ulrich Frey, Bad Honnef
1972 bis 2000 Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF). u.a. viele Jahre Sprecher der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.
Literatur
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Birckenbach, Hanne-Margret 2016. Friedenslogik – Sicherheitslogik. Europa als Friedensmacht? Vortrag in der Evangelischen Akademie Tutzing, 26.-27.1.2016.
Birckenbach, Hanne-Margret 2014. Friedenslogik und friedenslogische Politik. In: Friedenslogik statt Sicherheitslogik.Theoretische Grundlagen und friedenspolitische Realisierung. Wissenschaft und Frieden – Dossier 75. Herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden in Zusammenarbeit mit der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, ohne Jahr
Brahms, Renke, Einbringung über den Stand der friedensethischen Diskussion und laufende Projekte der EKD, Drucksache XI/2 der 4. Tagung der 12.Synode der EKD vom 12.-15.11.2017 in Bonn. https://www.ekd.de/weitere-berichte-4-Tagung-12-Synode-29829.htm (Zugriff 3.3.2018)
EKD 1982: Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.): Frieden wahren, fördern und erneuern. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh, 4. Auflage 1982
EKD Evangelische Kirche in Deutschland. 2007. Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus
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Wilkens, Klaus (Hrsg.). 2007. In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt. Porto Alegre 2006. Neunte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. Frankfurt/Main, Lembeck
[1] In der epd-Dokumentation Nr. 34-35 vom 22. August 2017 sind Dokumente zum Stand der Diskussion des Leitbildes vom gerechten Frieden aus der Ökumene und Kirchen und Initiativen in Deutschland abgedruckt: GEP Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (Hrsg.), Aufgabe und Weg: „Kirche des gerechten Friedens werden“, Dokumentation Nr. 34-35 vom 22.8.2018, Frankfurt/Main, 108 Seiten.