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In Potsdams Mitte
Frieden in die Mitte stellen

Marianne Birckenbach
Marianne M.-Birckenbach in Potsdam

Vortrag von Prof. Dr. Hanne-Margret Birckenbach im Rahmen der Veranstaltung „Der Geist von Weimar – Geist von Potsdam: Ein demokratisches Doppel“ am 9. Februar 2019 im Rechenzentrum Potsdam

Potsdam hat mit breiter Bürgerbeteiligung ein Leitbild erarbeitet. Die Stadt will für alle da sein, sie will eine innovative, wissende, gebildete Stadt sein, die zukunftsorientiertes Handeln mit dem Bewusstsein für die eigene Geschichte verbindet. Von Frieden ist noch nicht ausdrücklich die Rede. Nun soll auf dem Sockel der Turmreplik der zerstörten Garnisonkirche zu lesen sein: „Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“. Kritiker des Wiederaufbaus haben formuliert: „Frieden frisch gedeihen lassen.“ Das klingt etwas schlichter, aber was heißt hier „Frieden“?

Sowohl in der Weimarer Verfassung wie im Grundgesetz wird versprochen, das deutsche Volk sei vom Frieden beseelt. Mit dem Geist von Potsdam wurde dieses Versprechen der Weimarer Verfassung bekämpft und gebrochen. Heute steht Frieden in Potsdam ganz sicher für die Abkehr von Militarismus und Krieg. Ob Befürworter oder Kritiker des Turmprojektes, allen stellt sich jedoch die Frage: Wohin wenden wir uns, wenn wir uns von der zerstörerischen Tradition abkehren? Was heißt es, sich einem Friedensweg zuzuwenden? Welche Wege sind erfolgversprechend, und wie verbinden sie sich mit den Leitzielen der Stadt? Was kann geschehen, damit an diesem Ort – seiner Militär- und Gewaltgeschichte zum Trotz – sichtbar und erfahrbar wird, wie Frieden möglich wird?

Frieden meint ein Leben ohne Krieg und ein Leben, in dem Gewalt generell und seine Rechtfertigung abnehmen. Umstritten ist in Politik und Gesellschaft und auch in den evangelischen Kirchen, ob und wie ein Zusammenleben ohne Gewalt funktionieren kann.

  • Die einen fürchten, ohne Gewaltfähigkeit werde die Sicherheit der eigenen Lebensweise gefährdet. Sie wollen weder Militarismus noch Krieg. Aber sie wollen auch militärisch gerüstet sein für den Fall, dass die Sicherheit Deutschlands, seiner Verbündeten sowie der Bürger und Bürgerinnen in Gefahr gerät. Die logische Schlussfolgerung ist daher, weiterhin in Rüstung und Militär sowie ihre Rechtfertigung zu investieren, koste es, was es wolle. Wer daran glaubt, dass Militär und Rüstung im Atomzeitalter und unter den Bedingungen von Globalisierung geeignet sind, Bedrohungen in Schach zu halten, wenn friedliche Mittel nicht ausreichen, wird diese Mittel auftürmen. Und er wird allen anderen ein Vorbild sein, das Gleiche zu tun. Im sicherheitslogischen Denken ist eine Alternative undenkbar.
  • „Doch!“ sagen andere, Alternativen, sind möglich. Dies allerdings nur dann, wenn man in Friedensfähigkeit investiert. Sie befassen sich folglich nicht mehr mit der mittelalterlichen Frage, wann Gewalt gerechtfertigt sein könnte. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich darauf, wie man das Interesse an Sicherheit ohne Gewalt durch Friedenshandeln umsetzen kann? Mehrere evangelische Landeskirchen haben sich dazu bekannt, eine solche friedenslogische Sicherheitspolitik auf den Weg zu bringen. Und die Evangelische Kirche in Baden hat im vergangenen Jahr sogar eine Serie von Maßnahmen vorgeschlagen, die einen Übergang zu einer friedensorientierten Sicherheitspolitik einleiten könnten.

Im Barock glaubte man noch, Frieden werde von Gott geschenkt. Seit der Aufklärung wissen wir: Der Friede muss von Menschen gestiftet werden. Nach etwa 60 Jahren Friedens- und Konfliktforschung wissen wir heute auch: Wenn Frieden tatsächlich funktionieren soll, dann müssen Zusammenhänge zwischen Zielen, Wegen, Mitteln, ethischen Normen und menschlicher Irrtumsfähigkeit beachtet werden. Um diese Zusammenhänge geht es bei der Logik des Friedens. Realistisch gesehen, entsteht dann höchst selten eine Idylle. Aber es können tragfähige Beziehungen zwischen Menschen, Gruppen und Staaten entstehen. Tragfähig heißt, Menschen kommen ohne Gewalt aus, weil sie Voraussetzungen geschaffen haben, die es ermöglichen auch im Fall eines ernsthaften Konflikts zu kooperieren und Auswege zu finden. Dabei müssen fünf Prinzipien beachtet werden, wenn in den unterschiedlichen sozialen Situationen – angefangen von den Familien bis hin zu den Kommunen oder in der internationalen Politik – Frieden die logische Folge des Handelns sein soll.

Das erste Handlungsprinzip betrifft das Ziel und heißt Gewaltprävention.
Wer im internationalen Bereich Gewaltpotentiale zurückdrängen will, der wirbt heute zum Beispiel für den UN-Vertrag über eine Verbot von Atomwaffen. Und er achtet darauf, dass die Europäische Union als ziviles Projekt weiterentwickelt wird. Leider hat das europäische Parlament kürzlich beschlossen, im Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-27 einem „Europäischen Verteidigungsfonds“ im Umfang von 13 Mrd. Euro zuzustimmen. Die Europäische Kommission möchte weitere 6,5 Mrd. für militärische Aktionen bereitstellen. Dies alles zusätzlich zu den steigenden nationalen Rüstungsetats. Das muss bezahlt werden.

Im Mai wird ein neues EU-Parlament gewählt. Es ist wichtig, darüber aufzuklären, was auf dem Spiel steht. Auch in Potsdam. Die Stadt hat in den vergangenen Jahren viel Geld aus den Europäischen Gemeinschaftsfonds erhalten. Damit wurden u.a. Projekte zur Weiterbildung, zur Integration benachteiligter Gruppen sowie Freiwilligendienste und Jugendarbeit gefördert. Vielleicht kann man diese einzelnen EU-Projekte öffentlich sichtbar mit Klebezetteln versehen und warnen: „Achtung! Gefährdet durch ein irrsinniges Programm zur Subventionierung der europäischen Rüstungsindustrie und ihrer todbringenden Exporte.“

Das zweite Prinzip betrifft die Entstehungszusammenhänge von Gewalt und heißt Konflikttransformation:
Gewalt beugt man am ehesten vor, wenn die Konflikte, aus denen sie entsteht, in konstruktive Bahnen gelenkt werden. Das verlangt Änderungen von Zielen, Haltungen und Verhalten auf allen Seiten. Rechthaberei bewirkt Eskalation, also das Gegenteil. Es hat auch gar keinen Zweck zu warten, ob und bis alle anderen ihr Verhalten ändern. Häufig wird jetzt die Hoffnung geäußert, man könne Russland bewegen, den Vertrag über atomare Mittelstreckenraketen zu retten. Diese Hoffnung ist schon deshalb unrealistisch, weil nach übereinstimmendem Urteil Putin kein Gorbatschow ist, und weil Putin bislang anders als Gorbatschow auch keine Gründe hat, zu vertrauen, dass westliche Partner einen russischen Reformprozess wohlwollend unterstützen. Das ist eine fatale Situation. Aber sie ist nicht ausweglos.

In allen verhärteten Konflikten, auch in Konflikten wie in und um die Ukraine, steigen die Chancen für Friedensprozesse, wenn verstanden wird, wie das eigene Handeln zur Entstehung der Konflikte beigetragen hat und diese nährt. In der westlichen Russlandpolitik gehört dazu viel Ignoranz gegenüber russischen Interessen in der gemeinsamen Nachbarschaft, sowie viel Hochmut in der Beurteilung der westlichen Fähigkeiten, die Welt nach eigenen Wünschen zu gestalten.

Wenn man solche Mitverursachung des Unfriedens anerkennt, redet man weder den Mangel an Demokratisierung in Russland schön, noch rechtfertigt man russische Militäraktionen in der Ukraine und anderswo. Vielmehr sieht man die russischen Verhältnisse realistisch und unternimmt deshalb auf der eigenen Seite Schritte, um die Ausgangssituation friedensfördernd zu verändern. In sicherheitspolitischen Zusammenhängen ist eine solche Anerkennung der Mitverantwortung immer ein großer Schritt, weil sich hier mehrere Konflikte überlagern, weil die Konfliktparteien meist symbiotisch miteinander verstrickt sind, und weil die Freiheit, neue Wege zu gehen von vielen innen- und bündnispolitischen Faktoren eingeschränkt wird. Friedenslogische Sicherheitspolitik ist daher niemals nur Außenpolitik. Sie verlangt auch innenpolitisch überzeugende Aufklärungsarbeit und Ermutigung zum Umdenken, damit sich in der Gesellschaft eine eigenständige Friedenspraxis entwickelt, auf die sich eine Regierung dann ihrerseits auch stützen kann.

So gehört Potsdam zum Beispiel zum Netzwerk „Bürgermeister für Frieden“. Es umfasst heute 7500 Städte und Gemeinden aus 163 Ländern. 600 Städte aus Deutschland gehören ihm an, 67 Städte sind es in Russland, 24 allein in den drei baltischen Staaten. Sie alle treten dafür ein, Atomwaffen endgültig abzuschaffen. Ich kann mir vorstellen, dass es möglich ist, dieses Engagement in und um das Rathaus weiter zu profilieren und auch mit Unterstützung der vielen Menschen, die der russischen Sprache noch mächtig sind, die Einsicht sichtbarer zu machen: Russland-Bashing geht bei uns gar nicht – wir suchen nach anderen Wegen.

Das dritte Prinzip bezieht sich auf die Mittel und heißt Dialogverträglichkeit.
Friedenslogik setzt auf die vielfältigen Mittel der zivilen Konfliktbearbeitung. Nur sie ermöglichen eine breite Beteiligung, nur sie fördern den offenen Austausch mit Wertschätzung, Respekt, Vertrauensbildung und Kreativität. Zwar will die Bundesrepublik ihre Haushaltsmittel für Zivile Konfliktbearbeitung erhöhen, aber seitens der Europäischen Union ist eine Kürzung des Etatpostens beabsichtigt. Das ist dumm. Um am Beispiel zu bleiben, weder Aufrüstung noch Sanktionen werden Russland bewegen, sich aus der Ukraine zurückzuziehen oder sich an den INF-Vertrag zu halten. Worauf es jetzt doch ankommt ist, vorhandene Kooperationen aufrecht zu erhalten und vielfältige Gesprächsformate innerhalb der EU-Staaten, zwischen der EU und Russland, aber natürlich auch einen öffentlichen Diskurs innerhalb Russlands zu fördern. Dialogarbeit in Konfliktsituationen ist kein „Gequatsche“, sondern harte Arbeit und zumindest am Beginn alles andere als ein Vergnügen. Sie verlangt einen langen Atem, Mut und Techniken, um es auszuhalten, dass in der Schwebe bleiben muss, wer Recht hat.

Alle Kooperationen und Vereinbarungen, die Frieden zum Ziel haben, müssen durch dieses Nadelöhr. Das gilt für die oft sehr technisch erscheinenden abrüstungspolitischen Fragen ebenso wie für Fragen der humanitären Hilfe, bei denen es leichter ist zu erkennen: Frieden braucht Menschenfreundlichkeit.

Potsdam gehört zu den Städten, die sich, ausgelöst durch die Aktionen der Seebrücke, bereiterklärt haben Flüchtlinge, die aus Seenot gerettet wurden, aufzunehmen – auch wenn das Gesetz und der Verteilungsschlüssel sie dazu nicht verpflichtet. Auch das erforderte Dialogbereitschaft, Dialogfähigkeit aber auch Festigkeit was Menschlichkeit angeht. Dialogkompetenz ist ein Schlüssel für eine konstruktive Konfliktbearbeitung. Eine jährliche Dialogwoche in Potsdam, könnte das Verständnis für die Kraft des Dialogischen schärfen. Bei verschiedenen pädagogischen, ethischen, abrüstungspolitischen Friedensthemen können je nach Thema und Neigung der Teilnehmer vielfältige Formate von Dialogarbeit ausprobiert werden, seien es Zweiergespräche, Runde Tische, Weltkaffees, Offene Räume, Streitgespräche und viele andere. Frühlingsanfang wäre ein guter Zeitpunkt für eine solche Dialogwoche zum Thema Frieden.

Das vierte Prinzip bezieht sich auf die ethische Orientierung anhand universaler Normen und heißt Interessentwicklung. Allgemeine ethische, völker- und menschenrechtliche Normen werden immer wieder verletzt. Argumentiert wird, die Eigeninteressen stünden ihrer Achtung im Wege. Aber legitime Eigeninteressen müssen keineswegs aufgegeben werden, wenn man sich an einer universalen Ethik und allgemeinen Normen orientiert. Denn legitime Interessen können auf vielfältige Weise umgesetzt und so weiterentwickelt werden, dass sie friedensfähig werden. Das ist keine moralische Überforderung. Wir kennen auch im sicherheitspolitischen Bereich Fälle, in denen eine solche Interessenentwicklung zumindest zeitweise gelungen ist. So gelang es in etwa 20 Jahren, zwischen 1970 und 1990, die Eskalationsdynamik der atomaren Abschreckung aufzuhalten, weil Menschen zunehmend verstanden, dass im Atomzeitalter keine Sicherheit gegeneinander erreicht werden kann und es daher darauf ankommt, die Beziehungen zwischen den Konfliktparteien so zu entwickeln, dass beide Seiten vor einander sicher sein und einander Sicherheit geben können. Das Sicherheitsinteresse aller Seiten wurde respektiert. Aber es wurde ein anderes, weil es mit Abrüstung, Zusammenarbeit, konstruktiver Konfliktbearbeitung und einer Intensivierung der wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte verbunden wurde, also in Friedensprozesse eingebunden war. Parallel kam es auch zu einer Interessenentwicklung in der Innenpolitik. So wurde damit begonnen, die Konversion von rüstungs- und militärabhängiger Beschäftigung zu planen – auch hier in Potsdam. Brandenburg und das Netzwerk für Konversion, FOKUS, haben gezeigt, wie das Interesse an wirtschaftlicher Entwicklung und an Arbeitsplätzen im Fall einer Konversion gewahrt werden und wie militärisch gebundene Ressourcen zugunsten der zivilen Gesellschaft zurückgewonnen werden können. Solche Erfahrungen werden leicht wieder vergessen. Sie verdienen es jedoch in einer Dauerausausstellung, die auch für Touristen aus aller Welt sehenswert wäre, nachvollziehbar und immer aufs Neue inspirierend aufbereitet zu werden.

Das fünfte Prinzip reagiert auf die Wahrscheinlichkeit von Misserfolgen oder gar Rückschritten in der Friedensarbeit. Das Prinzip heißt Fehlerfreundlichkeit. Auch Friedensleute können irren. Auch sie müssen folglich Vorkehrungen treffen, um Fehler zu erkennen, einzugestehen und zu korrigieren. Das setzt Offenheit, Berichterstattung und Vertrauen in einem gemeinsamen Friedensweg voraus.

Auch in Potsdam könnte im bisherigen Streit um die zerstörte Garnisonkirche und die notwendige Abkehr von militaristischen Traditionen etwas übersehen worden sein, das für die Ermutigung zum Frieden in der Stadt und für ihre Friedensausstrahlung wichtig werden könnte. So könnte es sein, dass zwar über die Finanzierung des Turmbaus nachgedacht wurde, aber die Mittel für die versprochene Friedensarbeit gar nicht zur Verfügung stehen, dass also Friedenssprüche bisher gar nicht ernst genommen wurden? Auch ist es möglich, dass bisher wenig beachtet wurde, wie das Bauvorhaben Bürgerinnen und Bürger polarisiert. Schließlich ist denkbar, dass bisher gar nicht gefragt wurde, ob und unter welchen Bedingungen ein Turm als Friedenszentrum geeignet ist, oder welche Räume auf dem Gelände der ehemaligen Garnisonkirche, dem ehemaligen Rechen- und dem heutigen Kreativzentrum tatsächlich gebraucht werden, um in Potsdam Frieden auch gedeihen zu lassen.

Was lässt mich hoffen, dass die friedenslogischen Zusammenhänge und die fünf Handlungsprinzipien – Gewaltprävention, Konflikttransformation, Dialogverträglichkeit, Interessenentwicklung und Fehlerfreundlichkeit – in Potsdam zur Geltung kommen? Es gibt hier eine breite, kreative Szene und Menschen, die Frieden wollen. Viele von ihnen sind konflikt- und beteiligungserprobt, bleiben hartnäckig und geben trotz Enttäuschungen nicht auf. Das sind gute Grundlagen, um in Potsdams Mitte Frieden in die Mitte zu stellen. Denn so viel ist klar, in einer Stadt, die für alle da sein will, müssen alle – ob gläubig oder weniger gläubig – daran mitwirken können, ein friedenspolitisches Profil zu erarbeiten.

 

Hanne.Birckenbach@sowi.uni-giessen.de

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