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„Das Buch des Lebens zu Ende lesen“

2006: Ehemalige Zwangsarbeiter aus Peremoha besuchen Brandenburg

Mehr als sechzig Jahre sind vergangen, seit sie unfreiwillig harte Jahre in Berlin, Schönfliess und Bernau verbringen mussten. Sie wurden als billige Arbeitskräfte zur Zwangsarbeit aus der Ukraine deportiert, oder sie wurden als Kinder zusammen mit ihren Eltern verschleppt. Sie leben heute noch oder wieder in dem Dorf Peremoha östlich von Kiew, aus dem sie am 27. August 1943 zusammen mit mehr als 1000 Bewohnern nach Deutschland deportiert wurden. Ihr Dorf wurde verbrannt und dem Erdboden gleich gemacht. In wenigen Wochen werden sechs von ihnen auf Einladung der Martin-Niemöller-Stiftung in Berlin und Umgebung zu Gast sein. Der Besuch wird duch den Fonds „Erinnerung und Zukunft“ gefördert.

Am 28. Juni besuchten wir sie in Peremoha. Fünf von ihnen waren Kinder zwischen fünf und dreizehn Jahren, als sie verschleppt wurden. Für die meisten von ihnen wird es das erste Wiedersehen mit Deutschland sein. Seit 60 Jahren tragen sie nun ihre Bilder und Erinnerungen mit sich, und jeder von ihnen hat einen Weg gefunden, mit diesen Erinnerungen zu überleben. Sie strahlen  Herzlichkeit, Lebensklugheit und Humor aus. Befragt nach ihren Wünschen für den Aufenthalt in Berlin antworten sie, dass sie vor allem  die Orte nochmals sehen möchten, die sich in ihre Erinnerungen eingegraben haben. Das wird nach so langer Zeit nicht immer möglich sein. „Ich möchte das Buch meines Lebens endlich zu Ende lesen“, sagte einmal eine von ihnen.

Nicolay Krasnozhon,  früherer Bürgermeister und Geschichtslehrer in Peremoha, zeigt uns sein Archiv. Es umfasst die Namen von 1.326 Verschleppten, die sich nach 1945 wieder in Peremoha zurückmeldeten. Orte und Arbeitsplätze sind dort akribisch verzeichnet. Das Archiv der Sowjets, das 1943 angefertigt wurde, umfasst erheblich mehr Namen. Nicht alle sind zurückgekehrt. Viele überlebten nicht, andere blieben im Westen.

Nicolay Krasnozhon (72), Boris Oponaschenko (70) und Anatoliy Krasnozhon (69) wurden zusammen mit ihren Eltern nach Schönfliess verschleppt. Sie lebten dort im Dachgeschoss eines großen Gutshofs, zusammen mit anderen Familien aus Peremoha. Sie erinnern sich, dass im Erdgeschoss deutsche Familien wohnten, und im ersten Stock Zwangsarbeiter aus Frankreich und anderen westlichen Ländern. Von den Gutsbesitzern wissen sie noch, dass sie einen Sohn in ihrem Alter hatten und eine Tochter, die 1944 einen Soldaten heiratete, der zwei Wochen nach der Hochzeit gefallen ist.
Die Kinder hatten auf dem Gutshof verschiedene Arbeiten zu verrichten, u.a. Kartoffeln ernten und Steine aus den Feldern sammeln. Was die Behandlung durch die Deutschen betrifft, so haben sie keine schlechten Erinnerungen. Der große Schmerz ihrer Kindheit war die Verschleppung, die Zerstörung ihres Dorfes und die Todesangst. „In Schönfliess hatten wir eigentlich eine gute Zeit“, sagen sie heute.
Aus dieser Zeit stammt auch noch ein Foto, das von den ukrainischen Familien bei einem Fotografen in Mühlenbeck angefertigt wurde und das, als einzige Erinnerung, über sechzig Jahre hinweggerettet wurde. Es zeigt vorne rechts, mit Hut und Mütze, den kleinen Boris und Nicolay, dahinter ihre Schwestern. Ihre „Ostarbeiter“-Abzeichen trugen sie zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr. Die Kleidung, die sie auf dem Foto tragen, wurde aus zerbombten und verlassenen Häusern zusammengesucht und ihnen auf den Hof gebracht, wo sie sich bedienen konnten.
Nach dem Einmarsch der Roten Armee waren die drei sechs Monate lang in einem Filtrationslager in Bernau. Dort verlor Boris Oponaschenko sein rechts Bein, als er von einem Auto überfahren wurde. In Bernau lag er lange im Hospital. Nicolay Krasnozhon erinnert sich an den Friedhof von Bernau, in dem es auch  Gräber für verstorbene Sowjetbürger gab, und er erinnert sich an eine Frau, die diese Gräber pflegte.
Nicolay Krasnozhon war nach dem Krieg Sanitäter, dann Lehrer für Geschichte und Bürgermeister in Peremoha.
Boris Oponaschenko arbeitete als Mechaniker in Peremoha.
Anatoliy Krasnozhon wurde Zahntechniker. Er lebt heute in der Kreisstadt.

Hanna Dzubenko (79) hat sehr genaue und lebhafte Erinnerungen an Berlin und beginnt sofort, eine Lageskizze der Firma Sarotti zu zeichnen. Sie war im Lager Tempelhof interniert und musste im Bahnhof Tempelhof beim Auf- und Abladen arbeiten. Sie erinnert sich an drei Baracken: eine für Frauen, eine für Männer, und eine für Familien. Sie war damals 16 und im Frauenlager untergebracht. Ihr Vater gehörte zu den Zivilisten, die in Peremoha von deutschen Soldaten erschossen wurden. Auf die Frage, ob sie in Deutschland mit Jugendlichen sprechen möchte, meint sie: „Ich habe Angst, dass sie es als Vorwurf auffassen könnten.“
Hanna Dzubenko arbeitete nach dem Krieg als Lehrerin für Russisch an der Schule in Peremoha.

Walentina Antonenko (75) wurde nach Schöneweide deportiert, ins Lager Oberspree 125. Sie war damals dreizehn Jahre alt. Sie arbeitete dort in einem Werk, das Panzerteile herstellte, zusammen mit ihren Eltern. Nachdem das Lager zerbombt wurde, kam sie in ein anderes Lager, an das sie aber keine genauen Erinnerungen mehr hatte. Auch das war ein Rüstungsbetrieb. Sie lernte dort eine deutsche Frau kennen, an deren Namen sie sich aber nicht mehr erinnert. Sie weiß nur noch, dass sie in diesem zweiten Lager freien Ausgang hatten, im Gegensatz zum ersten.
Walentina Antonenko hat nach dem Krieg in Kiew studiert und wurde dann als Fachkraft für Technologie nach Armenien versetzt. Später kam sie nach Peremoha in das Haus  ihrer Mutter zurück. Von ihrer Haustür aus sieht sie einen kleinen Gedenkstein. Er steht an der Stelle, an der deutsche Soldaten im Zuge einer „Bestrafungsaktion“ ein Haus mit dreizehn Bewohnern und zufälligen Besuchern verbrannten.

Nicolay Kuchera (83) musste im Berliner Nordbahnhof Lagerarbeiten verrichten. „Wir wurden ausgesucht wie auf dem Sklavenmarkt“, sagt er. Als die Bombenangriffe begannen, musste er für seinen Vorarbeiter Löcher graben, als Schutz vor den Bomben. Er selbst hat sich in der U-Bahn versteckt. Seit damals hat er graue Haare.
Nicolay Kuchera lebt in Peremoha. Er ist seit acht Jahren Witwer.